Gottfried Keller
Martin Salander
Gottfried Keller

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21

Das neue Leben der wieder vollzähligen Familie floß nun klar und ruhig weiter, bis die Flut sich etwas kräuselte, durch Martins pflichteifrigen Geist bewegt.

Es dauerte nicht lange, so wollte er nicht mehr zusehen, wie Arnold außer dem Geschäfte nur seinen Studien und dem gesellschaftlichen Verkehr mit einigen Jugendgenossen lebte; er drang in ihn, sich doch allgemach den öffentlichen Dingen zuzuwenden, wozu er ja die beste Gelegenheit habe, wenn er mit dem Vater die politischen Vereine, Wahlversammlungen und zuweilen auch einen der zahlreichen Vorträge zur Erklärung eines Gesetzes oder anderer Volksbeschlüsse und obschwebenden allgemeinen Fragen besuche. Da werde er bald lernen, die erworbenen Kenntnisse anzuwenden, die Urteilskraft geltend zu machen und ein Mitwirkender zu werden. Und das sei notwendig, denn ohne erweckte Jünglinge und junge Männer fehle es den weisesten Alten am halben Leben.

Allein Arnold lehnte des Vaters Andringen bescheiden, aber beharrlich ab. Er habe sich vorgenommen, so erklärte er, sich auf die Erfüllung aller Bürgerpflichten zu beschränken, wozu, nebenbei gesagt, auch gehöre, niemals an einer Wahl teilzunehmen, wenn man weder den Vorgeschlagenen noch die Vorschlagenden kenne. Das sogenannte Mitwirken wolle er an sich kommen lassen, wenn es einst sein müsse, bis dahin aber das faktische Geschehen beobachten und die Früchte desselben betrachten; an ihnen werde er auch die Personen erkennen, die sie hervorbringen, besser als aus ihren Reden, und die Parteien hinwieder an diesen Personen, sowie an den Zeitungsartikeln, die sie schreiben. Die hergebrachten Einflüsse möge er nicht auf sich wirken lassen und gehe deshalb auch nicht hin, wo sie ausgewechselt werden; nur so fühle er sich frei und einst imstande, jedem zu sagen, was er für wahr halte. Manche junge Leute dächten jetzt so.

Der Vater bestand nicht länger auf seinem Ansinnen; aber er fühlte sich verletzt, wenn das nun der ganze Einfluß war, den er auf den eigenen Sohn haben sollte, er, der so uneigennützig es sich sauer werden ließ, dem Lande zu dienen. Er kam daher wieder auf den Gedanken zurück, der Sohn sei auf den Schulen ein Doktrinär geworden, in welchem vielleicht der Reaktionär nur schlummere. Ein schmerzliches Mißtrauen fing an sein Gemüt zu belästigen.

Das wandte sich zwar wieder zum Bessern, als Arnold eines Tages sich erbat, einige Freunde im Haufe bewirten zu dürfen, da er etwas derart schuldig sei. Es handelte sich um acht junge Leute, von denen ein Teil unbemittelt, wo nicht arm, ein anderer Teil aber Söhne reicher Familien waren. Arnold wünschte zugleich, daß der Vater seine Gegenwart schenke, und dieser schlug mit dem raschen Gedanken ein, bei diesem Anlasse des Sohnes Umgang und Gesinnung gründlicher zu erfahren. Die Mutter machte dem Sohne gern die Freude, erklärte aber, man müsse einen Koch mit Aufwärter kommen lassen, die alte Magdalene sei außerstande, die Sache zu bewältigen, und sie selbst wisse nicht, was jetzt üblich sei und könne auch nicht mehr in der Küche stehen. Die Töchter dürfe man nicht vorspannen.

Arnold verwahrte sich gegen die Maßregel. Er wolle nicht Aufwand und Üppigkeit ins Haus bringen, das sei ihm nicht eingefallen! Seine Freunde seien alle verständige und fröhliche Gesellen, und wenn die alte Magdalena ein paar solide Stücke zubereite, was sie ja schon lange könne, und die Speisen etwas drollig daherbringe, so werde alles aufs beste ablaufen. Einen weiblichen Adjutanten in der Küche möge sie immerhin beiziehen.

Es gab hierüber einen kleinen Zank, bis er die Oberhand behielt, aber nur scheinbar. Als er am bestimmten Abend eine Stunde früher nach Hause kam, stand ein schneeweißer Koch am Herde und im Speisezimmer ein befrackter Aufwärter, der sich mit einer Menge von Tellern und Gläsern zu schaffen machte und ohne Zweifel die Servietten gefaltet hatte, welche auf dem bereits gedeckten Tisch in Gestalt von Kaninchen und Hühnern die Teller zierten. Frau Marie sagte, es wäre nicht anders gegangen; sie habe nicht mit einem mißlungenen Wesen die Familie erst recht als eine Emporkömmlingsware ins Gerede bringen können!

Die Gäste stellten sich pünktlich ein, fast alle auf einmal, so daß Vater Salander bequemlich als der letzte erscheinen konnte, ohne zu lange warten zu müssen. Sogleich fand er sich angenehm berührt durch das gute Aussehen und das anständig offene Benehmen der Gesellschaft. Bei Tisch vollends wunderte er sich insgeheim über den unbefangenen guten Ton, die Abwesenheit aller schlechten Sprechmanier verhockter Kreise mit ihren Trivialwitzen und Zweideutigkeiten. Um besser zu hören, sprach er selbst nicht viel und hütete sich besonders, von Politik anzufangen, in der Absicht, daß die Freunde Arnolds und mit ihnen er selbst um so rückhaltloser darauf verfallen sollten. Er sorgte auch genügend für Erneuerung der Getränke, welche die Zungen lösen. Die jungen Herren wurden nur fröhlicher, alles in geziemenden Grenzen, ohne einiger Vorsicht zu bedürfen. Die Unterhaltung belebte sich, und da die Teilnehmer ziemlich gleichmäßig gebildet, wohlunterrichtet und auch lebendigen Geistes waren, so tauchten politische Gegenstände nicht minder als andere hervor; allein nicht ein unfreisinniges Wort, nicht ein Wort, welches auf Mißachtung des Volkes hätte schließen lassen, war zu hören, kaum etwa ein ungezwungen derber Ausdruck über diesen oder jenen gemeinen Sykophanten, der eben in der Presse oder in den Räten spukte; dann hieß es höchstens: Was wollt ihr? Dem Kerl ist sein Weg vorgezeichnet, er muß ihn laufen und wird seinem Lohn nicht entgehen!

Indem Martin sich noch über den erfahrungsmäßigen Ton wunderte, welcher dieser Jugend schon geläufig schien, war der Gegenstand schon aus dem Gespräch verschwunden. Die haben, dachte er, nicht die Fähigkeit, auf einer Idee zu beharren; sie scheinen doch keine politische Ader zu besitzen! Aber ehe er den Verdacht besser ausspinnen konnte, bewegte sich die Unterhaltung auf weiten freien Bahnen; keiner tat sich als Lehrer oder Prophet hervor, und Phrasen wurden noch weniger laut; man sah nur, daß es männliche Jünglinge seien, die sich die Welt offen behielten und nicht in einen Tabaksbeutel stecken ließen. Martin hatte einige Mühe, neuen und neuesten Anregungen auf den Pfaden des allgemeinen Bildungszustandes zu folgen, denn er war in manchen Dingen ein wenig viel zurückgeblieben und mußte sich mehr als einmal Aufschluß erbitten, der ihm ohne Wohlweisheit und ganz ohne Aufheben erteilt wurde, als selbstverständlich, wie man einem sagt, was draußen für Wetter sei. Und durch alles ging ein Hauch unverdorbener Ehrlichkeit, die ihm das Herz erfrischte.

»Gottlob!« dachte er, »wir haben unser Geld nicht umsonst ausgegeben! Das sind doch auch Erziehungsfrüchte!«

Doch untersuchte er nicht, ob des Hauses oder des Staates.

Er teilte bald die heitere Laune der Tischgenossen; ritterlich dachte er, sein sichtliches Vergnügen damit zu bezahlen, daß er um zehn Uhr schon die kleine Tafelrunde Arnolds sich selbst überließ und sich als Alter zurückzog. Allein es gelang ihm erst um halb elf loszukommen und die Frauen in ihrem Asyl aufzusuchen, wo sie noch wach beisammen saßen.

»Kommst du endlich, du Kneipier?« sagte die Mutter, »das muß dir ja herrlich gefallen haben bei den jungen Leuten! Wie war es denn?«

»Ich habe mich, glaube ich beinah', in meinem Leben nicht so gut unterhalten, wie diesen Abend!« versicherte der Mann, »es sind ganz vortreffliche Menschen, helle Köpfe und nota bene gesittete Bursche, mit denen unser Arnold verkehrt, Gesellen, von denen man sagen kann, sie seien alle gut aufgehoben, wenn sie beieinander sind!«

»Das klingt ja sehr erbaulich!« erwiderte Frau Marie froh, »und ist mir lieb zu hören! Und was spielt denn der Arnold für eine Rolle unter ihnen?«

»Es spielt keiner eine Rolle! Sie sind keine Streber, möchte ich beschwören, und wissen dennoch, was sie wollen, obgleich oder weil sie nicht davon schwatzen! Glaub' nur, wenn es viele junge Mannschaft der Art gibt, so ist mir vor unserer Zukunft nicht bang'!«

Mit beredter Zunge suchte er den vergnügt lauschenden Frauen den ungefähren Verlauf des Abends zu schildern und von einigen der Freunde, die ihm besonders gefallen, ein Bild zu entwerfen, bis er durch einen kräftig schallenden Gesang unterbrochen wurde, der von dem bescheidenen Saale her ertönte. Sie sangen dort mit resoluten frischen Stimmen ein lebensfrohes Lied, rasch und taktfest, kurz und gut, und gleich darauf hörte man sie aufbrechen und ohne starkes Geräusch das Haus verlassen.

»Ei, wie nett war das!« riefen die jungen Frauen, »und so rund abgeschlossen, punktum!«

»Da seid ihr alle noch auf,« sagte der mit einem Lichte eintretende Arnold, »das ist gut, ich glaubte schon, unser Geschrei hätte euch aus dem Schlafe geweckt. Ich mochte sie nicht gern verhindern und hab' sogar mitgekräht, da es in einem zu ging!«

»Ihr hättet immer noch fortsingen mögen,« sagte die Mutter, »und doch hat uns das entschlossene Aufhören einen trefflichen Eindruck hinterlassen! Macht ihr es immer so?«

»Ja, wenn wir einmal singen; ich weiß nicht, wie es sich bei uns eingebürgert hat! Die Lust muß hinaus und da wir keine Virtuosen sind, so mögen wir doch auch keine Fronarbeit leisten! Aber nun gute Nacht allerseits und schönen Dank für geübte Geduld! Ich will noch ein Stündchen lesen, eh' ich schlafe!«

Als Arnold fort war, fragte die Mutter ihren Martin ganz erstaunt: »Hat der gute Junge denn nur Wasser getrunken? Noch ein Stündchen lesen! Und ist so ruhig wie eine windstille Luft!«

»Den Teufel hat er Wasser getrunken!« sprach Salander, der Vater. »Er schluckte soviel Wein, wie jeder andere! Er ist eben dein Sohn, du Hexe!«

Alle lachten über den komischen Zorn und gingen zu Bett.

Ruhig fuhr nun das Schifflein Martin Salanders zwischen Gegenwart und Zukunft dahin, des Sturmes wie des Friedens gewärtig, aber stets mit guten Hoffnungen beladen. Manches Stück mußte er noch als gefälschte Ware über Bord werfen; allein der Sohn wußte unbemerkt die Lücken so wohl zu verstauen, daß kein Schwanken eintrat und das Fahrzeug widerstandsfähig blieb den bösen Klippen gegenüber, welche bald hier, bald dort am Horizont auftauchten.

Auch das dunkle Raubschiffchen des Louis Wohlwend, das seit bald einem Menschenalter Martins Bahn kreuzte, strich noch wiederholt heran, konnte aber nicht mehr entern. Es war jetzt ziemlich sicher, daß er mit dem an Martin begangenen Raube seine Frau auf die bewußte Weise erwarb, damit das Gut bergend und zugleich ihr eigenes Erbe. Also hatte er keineswegs nötig, noch mehr zu raffen; allein er hielt den »alten Freund« einmal für sein Privateigentum, und der Neid der angeborenen Beschränktheit trieb ihn immer wieder, seinen Teil zu erhaschen und den Freund zu schädigen, während die einfältige Religionsstifterei ihm zur Vermummung dienen und zugleich die rohe Eitelkeit befriedigen sollte, der er zu allen Zeiten frönte.

Die Salanderschen mochten aus Mitleid mit seinen Knaben und den wahrscheinlich unschuldigen Weibsleuten noch immer keinen Gebrauch von dem Dokument machen, das ihn augenblicklich vernichten mußte. Sie begnügten sich damit, ihn kurz abzuweisen, in welcher Form auch er sich an sie machen wollte, ohne ihm zu sagen, warum es geschehe.

So geriet er zuletzt in einen unerträglichen Zustand der Ungewißheit und verlor gänzlich sein dummes Selbstvertrauen. Er räumte den Platz, um anderwärts das Nichts zu finden, das ihm beschieden war.

Eines Abends erschien Möni Wighart, der Getreue, und erzählte, er habe Wohlwend auf dem Bahnhofe gesehen, wie er mit Weibern, Kisten, Koffern und bösen Blicken erschienen und mit einem Blitzzuge abgefahren sei.


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