Gottfried Keller
Martin Salander
Gottfried Keller

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18

Marie Salander stieg am nächsten Nachmittag wirklich in den Zeisig hinauf, die alten Wege, die sie einst gegangen, als der kleine Arnold ihrer harrte. Sie traf den alten Weidelich in seinen Gemüsegärten, wo er die Herbstgeschäfte besorgte, mit der Schaufel in der Hand das Ausgenutzte und Abgewelkte wegräumte und zwei oder drei Arbeitern Anweisungen erteilte. Er schien um zehn Jahre älter geworden zu sein seit der kurzen Zeit.

Als Frau Salander sich zwischen den Beeten langsam näherte, stieß er die Schaufel in die Erde und ging, seinen alten Hut lüftend, ihr entgegen.

»Lassen Sie sich nicht stören! Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht und was die Frau macht! Wir haben gehört, sie sei krank.«

»Es ist eine freundliche Nachfrage!« sagte Jakob Weidelich. »Leider liegt die Frau im Bett und ist schlecht dran! Sie hat einen Schlaganfall bekommen, als es hieß, der Julian habe sich geflüchtet, er sei auch so weit wie der andere. Wollen Sie nicht einen Augenblick hineingehen – ich darf fast nicht sagen, Frau Schwäher!«

»Kann sie aber doch sprechen?«

»Nur langsam, sie ist halb gelähmt, ich weiß nicht, wie es noch werden soll!«

»Die arme Frau! Ich will sie doch begrüßen, wenn es angeht!«

Der bekümmerte Mann führte sie in das Haus und in die Wohnstube, wo die Mutter der verunglückten Söhne im Bette lag.

»Amalie, das ist Frau Salander, sie ist so gut und will dich besuchen!« Die Kranke ruhte tief in den blau- und weißgewürftelten Bettstücken; Jakob rückte die Kissen unter dem Kopfe zurecht, daß sie freier um sich blicken konnte, und Marie setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bette bereitstand. Sie ergriff die eine Hand, welche der Bewegung fähig war und den Druck schwach erwiderte, und fragte mit einigen tröstenden Worten nach dem Befinden der Schwergeprüften. Diese drehte die Augen nach ihr und sah sie groß an.

Sie sagte nichts; als: »Beide hin!« Das war ihr geläufig.

Dann schwieg sie schwer atmend, bis sie einige weitere Worte gesammelt: »Ich kann Gedanken nicht beieinanderhalten, weil die Buben weit auseinander. Hier einer, weiß nicht wo, und einer auf dem Meere, ach, ich sehe keinen mehr, nie!«

»Das wollen wir nicht sagen, es geht alles vorüber und wird wieder gut!« versuchte Frau Salander gegen ihre Überzeugung zu trösten; sie konnte nicht anders, weil sie das Leiden der hilflosen Mutter tief empfand und begriff; vielmehr tat es ihr weh, daß ihrem guten Willen nicht bessere Worte zu Gebote standen.

Die Kranke bewegte aber, so gut sie es vermochte, verneinend den Kopf.

»Nein, ich hab' gehört, glaub' ich, daß sie Tausendskerle sind, und nicht wiederkommen wollen, vielleicht nicht ehrsam', so spitz, so spitzbübelig, die Blondköpfe. Ach, Herr Jesus, sie waren so lieb – nein, jetzt noch –«

Der Kopf sank zur Seite, und sie schloß die Augen.

»Sie ist jetzt nur erschöpft und sucht Schlaf!« sagte Jakob Weidelich, als er sah, daß Frau Salander erschrak. Diese stand geräuschlos auf und ging mit ihm hinaus. In der größeren Stube bot ihr der selbst müde Mann von neuem einen Stuhl; sie merkte, daß er noch einiges zu sprechen wünschte, und nahm bei ihm, der sich auf die alte Bank setzte, Platz.

Auf ihre Frage, ob er von dem Unglück schon stark in Mitleidenschaft gezogen sei, abgesehen von den Leiden der Frau, erwiderte er, alles, was er erworben habe, sei zu größten Teile, nahezu ganz verloren. Als Amtsbürge habe er für beide Söhne die Kautionssummen schon sicherstellen müssen. Sobald der Prozeß oder die Prozesse auf einem gewissen Punkte seien, werden die Forderungen eingezogen. Er habe zwar noch Mitbürgen, die aber erst zahlen müßten, was er nicht mehr zu leisten imstande wäre. Zudem seien es Verwandte, deren Vorwürfe und Mißachtung er nicht ertragen würde.

Ich werde nicht vom Hof getrieben, aber er wird mit Schulden belastet, für deren Verzinsung ich die paar Jahre arbeiten muß, die mir noch bleiben, wenn ich überhaupt diese Zeit überstehe! Die Frau werde ich wohl verlieren, und damit geht auch ein schöner Verdienst verloren! Das schwerste indessen ist, daß ich nicht weiß, wie man den Buben einst wieder aufhelfen soll, wenn sie ihre Strafen verbüßt haben! Ob ich noch lebe oder nicht mehr lebe, so wird nichts mehr da sein; und es sind noch immer die leiblichen Kinder!«

»Das müssen Sie nicht so schwer nehmen,« sagte Marie Salander, »sie werden immer noch jung genug zur ehrlichen Arbeit sein; und wenn das Leben sie hart ankommt, so schadet es ihnen nichts! Jeder von ihnen hat an seine Frau geschrieben; die Briefe sind zufällig am gleichen Tage angekommen. Ich möchte sie Ihnen nicht zeigen, guter Herr Weidelich, denn aus beiden Briefen ist nichts zu ersehen, als daß ihnen jedes Gefühl und Verständnis ihrer wahren Lage abgeht! Ich würde es dem Vater nicht sagen, wenn ich nicht dächte, es hülfe Ihnen ein wenig, die Dinge von der rechten Seite anzusehen.«

Das Gesicht des armen Mannes ward womöglich noch schmäler, und er entgegnete, mit zuckenden Wimpern zur Seite blickend: »Es wird so sein, ich fange es an zu begreifen!«

Er verharrte kummervoll in sich versunken, wie ein Mensch, der von einem ihm notwendigen Worte oder Begriffe Abschied zu nehmen versucht.

»Wir haben im Beginne dieser Geschichte, meine Frau und ich,« sagte er dann, »beratschlagt und gegrübelt, woher die Buben die Unzucht geerbt haben. Wir sind freilich aus dem Volk und können beide nicht über die Großeltern und ihre Zeit hinaufdenken; was weiter zurück ist, davon wissen wir so wenig wie von den Heiden, von denen wir alle abstammen. Aber wenn doch bei meines Urgroßvaters Zeiten zum Beispiel etwas vorgekommen oder einer bestraft worden wäre, so hätte mein Vater es gewußt und davon gesprochen, denn er sprach oft von seinen Großeltern. Und so ist es bei der Frau. Einzig von eines Großvaters Bruder hatte sie die dunkle Erinnerung, daß er ein Fäßlein Apfelmost gestohlen haben sollte, und zwar aus Barmherzigkeit, weil ein liederlicher Fuhrmann es an der heißen Sonne liegen ließ und im Wirthaus drinnen im Schatten saß. Dafür sei er in den Turm gesetzt worden, nämlich der Großonkel.«

»Das ist ja für nichts zu rechnen,« sagte Frau Marie lächelnd, obgleich der Mann durchaus keinen Scherz hatte erzählen wollen. Sie erhob sich, um zu gehen. Vater Jakob zögerte ein wenig und brachte dann schüchtern vor, er hätte noch etwas auf dem Herzen, das ihn drücke. Auf ihre Bitte, es nur zu sagen, fuhr er fort: »Ich glaube nämlich, es werde nun mit dem ehelichen Verhältnis unserer Kinder zu Ende gehen. Meine Frau wollte nichts davon wissen, als sie noch reden konnte und mochte, vor der Flucht des zweiten. Allein ich kann und muß es nur billigen, wenn die jungen Frauen auf Scheidung klagen! Ich wüßte nicht, wie es anders gehen sollte, besonders nach dem, was ich von den Briefen höre, welche die Söhne geschrieben. Es würde mich in meiner Not doppelt bedrücken, wenn ich ansehen müßte, wie mein Blut fernerhin einer braven Familie mit Unehren zur Last fallen wollte. Nein, glauben Sie nicht, Frau Salander, daß ich den Schritt übelnehmen und nicht völlig gerechtfertigt finden werde! Das habe ich noch sagen müssen, und ich bitte auch, mir und meiner Frau alles Widerwärtige, was man an uns erlebt und noch zu erfahren hat, nicht nachzutragen!«

Marie Salander gab ihm die Hand.

»Allerdings ist es so,« sagte sie, »wie Sie voraussehen! Unsere Töchter müssen sich von den unglücklichen Männern trennen; sie haben viel mehr, als Sie wissen, zu erdulden gehabt und dazu geschwiegen. Auch das, was nun kommt, für das Leben noch auf sich zu nehmen, sind sie nicht gesonnen, und wir würden es auch nicht zugeben. Ich danke Ihnen aber für Ihre ehrenhafte Gesinnung im Namen der Meinigen und versichere Sie, daß wir, wohlbewußt, wie sehr auch unsere Töchter gefehlt haben, Ihnen und Ihrer wackern Frau ein gutes Andenken bewahren und auch gewiß und freundschaftlich gefällig erweisen werden, wenn sich die Gelegenheit biete. Ich habe heut einen tiefen Blick tun können, an dem Bette da drüben und in dieser Stube hier! Leben Sie wohl und möge Ihnen Gott helfen!«

Nochmals gab sie ihm mit nassen Augen die Hand, welche Jakob zitternd drückte. Er vermochte aber nichts zu erwidern, da seine ungewohnte Beredsamkeit plötzlich wieder versiegte.

Nachdenklich ging Frau Salander von der Anhöhe weg; sie bedachte, wie verschieden bei aller Traurigkeit doch das Los zwischen den zwei Familien geteilt sei, während die Töchter an der leichtsinnigen Heirat in Hinsicht auf ihre damals reiferen Jahre die größere Verschuldung trugen. Und wer könne wissen, ob nicht der Antrieb, selber reich zu werden, gerade durch die sogenannte reiche Heirat in die törichten Notare gefahren sei. Dann fiel ihr das düstere Nachsuchen der alten Leute und das von einem Vorfahren entwendete Fäßchen Apfelmost bei.

»Das fehlte auch noch,« dachte sie, »daß das arme Volk nachgrübeln soll, woher es die Übel geerbt habe, ob von väterlicher oder mütterlicher Seite, die ganz neu in seinen breiten Ackergrund gesäet worden! Davon werde ich meinem Martin nichts sagen, sonst gräbt er ebenfalls nach und fügt seinen erzieherischen Postulaten noch eines über selektionstheoretischen Volksunterricht in sittlicher Beziehung bei, oder wie er es nennen würde! Und der rührende Zug der hoffnungslosen Eltern würde mit der Zeit, weiß der Herr, zu welchem Homunkuluswerk aufgeblasen!«

Das war von Marie Salander nicht wissenschaftlich gedacht; allein sie kümmerte sich darum nicht und verschwieg das Mostfäßchen.

Zwei Tage nach der Ankunft von Julians Brief brachte ein Zeitungstelegramm die Kunde von seiner in Lissabon erfolgten Gefangennahme, wo er, mit Geld wohlversehen, herumspazierte.

Nach weiteren acht Tagen wurde er auf die härteste Art eingebracht. mit Daumenschrauben, weil er zu entspringen versucht hatte. Sein Prozeß hielt mit demjenigen Isidors bald Schritt; denn die Betriebsart des letzteren erforderte ein verwickeltes und langwierigeres Verfahren, als die drollig-einfache Prellerei Julians.

Endlich waren die Anklageakten geschrieben, und da die Brüder keines der von ihnen wirklich verschuldeten Vergehen mehr leugneten, so hätten beide Fälle vom ordentlichen Strafsenat beurteilt werden können, wenn nicht in jedem ein Rest vorgekommener Betrügereien übrig geblieben wäre, zu deren Einverständnis keiner der Angeklagten sich herbeiließ, und die noch nicht aufgeklärt werden konnten. Erst in letzter Stunde geriet man einem geschäftlichen Handlanger auf die Spur, welchen beide Weidelichs, ohne voneinander zu wissen, zu manchen Dienstleistungen gebrauchten, ohne wiederum zu glauben, daß der Mann von der verfänglichen Natur der ihm aufgetragenen Verrichtungen eine Ahnung habe. Derselbe durchschaute aber wegen des eigentümlichen Gebarens der Brüder und bei der großen Frequenz ihrer Aufträge die Sache bald oder war frech genug, sie wenigstens durchschaut haben zu wollen, und verübte auf ihre Rechnung, aber in seine Tasche, eine Reihe mäßiger Additionen oder Subtraktionen, je nach dem Fall, bei Einzahlungen oder Bezügen. Dieser untergeordnete Deliktschmarotzer wurde nachträglich eingezogen, verhört und konfrontiert, auch so gut als überwiesen. Allein er leugnete alles und jedes aus und ab, und so mußten alle drei Prozesse miteinander vor das Schwurgericht gebracht und im Zusammenhange verhandelt werden.

Damit war den Unheilsbrüdern und ihren Angehörigen das Äußerste, ein öffentliches Schauspiel, nicht erspart geblieben; denn es sammelte sich an dem festgesetzten Tage in aller Frühe ein großes Volk in und vor dem Gerichtshause und in den umliegenden Wirtschaften. Inmitten des unruhigen Gewoges saßen sie auf der Anklagebank wie auf einer Insel im Meere. Diesmal konnten sie nicht, wie im Großen Rate, an einen Tisch gehen und Briefe schreiben, und statt des dienstfertigen Großweibels stand hinter jedem ein Polizeisoldat.

Auf einer anderen Insel saßen die Geschworenen, schlichte Männer, wie das Los sie aus allen Ecken des Landes herbeigeweht, mit ihrem Obmann, zu dem sie in der Eile denjenigen ernannt, dem sie unter sich vermöge seiner sonstigen Stellung die meiste Gewandtheit zutrauten.

Eine erhöhte Klippe nahm der Gerichtshof ein. Die Menge der einberufenen Zeugen war so zahlreich, daß sie nur in kleineren Gruppen hereingeführt und jedesmal von den Angeklagten mit scheu aufgeschlagenen Augen betrachtet wurden. Alle waren es ihnen wohlbekannte Landleute, deren bürgerliches Dasein sie zugrunde gerichtet hätten, wenn nicht der Staat mit seinen Steuerkräften eintrat. Auch ein Trupp von Finanzpersonen zog auf, die von dem eine halbe Million übersteigenden Gesamtschaden einen guten Wisch anzusprechen kamen.

Die Verhandlungen dauerten bis gegen Abend, bestanden aber mehr im Verlesen der weitläufigen Anklageschriften und Feststellen aller einzelnen Punkte, als in langen Reden der öffentlichen Ankläger und der Verteidiger, da nichts mehr bestritten war, als die durch den Deliktschmarotzer getrübten Teile. Dieser Nebenhandel erledigte sich aber von selbst und diente als Rechenprobe, indem nun das ganze große Exempel klappte, sozusagen bis auf den Franken. Isidors Verteidiger benutzte sogar den Anlaß, die Brüder Weidelich als eine Art ordnungsliebender Männer ins Licht zu stellen, die nur durch einen betrügerischen Vertrauensmann an den Rand des Verderbens gebracht worden. Hiergegen bemerkte ein Staatsanwalt, ob jener nicht noch eine Bürgerkrone für die Angeklagten verlange? Es sei nur gut, daß der Staat nicht ganz allein die Suppe werde ausessen müssen, sonst erlebe man, daß die kolossale Anschröpfung als eine sozialpolitische Tatstudie bezeichnet werde, ein allerdings etwas weitgehender praktischer Umsatzversuch, der mit derjenigen Achtung und Milde zu behandeln sei, welche den Opfern sozialer Probleme gebühren.

Diesen ironischen Ausfall griff sofort Julians Verteidiger in vollem Ernste auf, und denselben weiter ausführend, geriet er, nach Milderungs- oder gar Rechtfertigungsgründen suchend, auf die beklagenswerte Mangelhaftigkeit des öffentlichen Unterrichts, der Volkserziehung, der alles Unglück beizumessen sei. Im gegenwärtigen Falle seien die hoffnungsvollen jungen Männer wohl zur Schule, sogar in höhere Anstalten, geschickt worden. Er wolle die Beschaffenheit dieser Schulen nicht näher untersuchen; es genüge der Augenschein, daß die Wirkung ausgeblieben. Und da finde er keinen andern Ausweg, als den Regreß auf die Eltern, welche in ihrer eigenen, vom Staate vernachlässigten Erziehung nicht die Mittel gefunden hätten, ihrem guten Willen den rechten Nachdruck zu geben und die Söhne mit Sachkenntnis und im Bewußtsein ihrer Aufgabe vor Abwegen zu behüten und so weiter.

Die verlorenen Söhne schauten den Sprechenden aufmerksam an, wie wenn ihnen ein Licht aufginge und zugleich ein Stern der Hoffnung. Der Gerichtspräsident schloß jedoch das Verfahren und hielt die zusammenfassende Anrede an die Geschworenen, ihnen die Fragereihen, die sie zu beantworten hatten, mit den leitenden Gesichtspunkten auseinandersetzend. Zum Schlusse konnte er sich nicht versagen, die Angriffe des verdrehten Advokaten auf das Unterrichtswesen als Quelle der Verbrechen abzuweisen.

»Meine Herren Geschworenen!« sagte er in ernstem Tone, »vor nunmehr hundert Jahren hat in unserm Lande ein braver Mann ein Buch für das arme und unwissende Volk geschrieben, das Sie alle kennen: Es heißt Lienhard und Gertrud! Von da an hat er ein langes Leben voll Mühsal, Mißkennung und unermüdlicher Arbeit zugebracht und durch seine Arbeit ist das Gebäude unserer Volksschule vorbereitet und es ist darauf gegründet worden. Seit länger als einem halben Jahrhundert hat unser engeres Gemeinwesen, immer in den Fußstapfen des braven Mannes ehrerbietig wandelnd, das Gebäude erneuert und stetig, ununterbrochen umgebaut. Viele Millionen haben wir in fünfzig Jahren dafür geopfert; seit Jahrzehnten rühmen wir uns, daß die Ausgaben für unser Unterrichtswesen den obersten Posten in der Staatsrechnung bilden; gegenwärtig beträgt dieser Posten nahezu die Hälfte der besagten jährlichen Rechnung, obgleich wir die übrigen Staatszwecke, wie ich glaube, nicht ungebührlich vernachlässigen! Die Last, welche die Gemeinden sich für die Schule auferlegen, ist natürlich nicht inbegriffen. Und zur Erziehung des Volkes werden täglich neue Anforderungen gestellt und alle werden erwogen und das irgend Mögliche berücksichtigt, wenn es nicht geradezu verkehrt ist. Und nun kommt man uns so!

»Meine Herren Geschworenen! Die braven Eltern der beiden Angeklagten sind auch noch in ihrer Kindheit Schüler der neuen Zeit gewesen, wie wahrscheinlich die meisten ältern Leute unter uns; aber wenn es auch nicht der Fall wäre, so dürften wir sie doch nicht wegen angeblicher Unwissenheit für die Sünden der Kinder verantwortlich machen, so wenig als die damaligen Einrichtungen! Denn ich glaube, das Haus des ungelehrten Landmannes kann noch heute, wie zu allen Zeiten, eine Schule der Ehrlichkeit und Pflichttreue sein! Den Auslassungen der Verteidiger gegenüber, meine Herren! spreche ich die Überzeugung aus, daß Sie denselben in Ihrem Erwägen um so weniger Raum geben, als sie im rechtlichen Sinne nicht zur Sache gehörten. Ich denke, daß Sie das wissen, und habe doch reden müssen von dieser Stelle aus, weil es mir, wie schon öfter in neuerer Zeit, zumute war, wie wenn der Geist eines hysterischen alten Weibsbildes in unserem Ländchen herumführe, wie der Böse im Buch Hiob!«

Dieser Präsident war allerdings ein Altliberaler und der gleiche Herr, welcher bei dem ersten Erscheinen der Zwillinge im Großen Rate den Vorsitz führte. Daher wurde einigen Beifallsrufen, die in der tiefen Zuhörermasse ungehörigerweise laut wurden, ein heftiges Zischen entgegengesetzt.

Die Geschworenen zogen sich zurück. Obgleich so gut wie einig über den zu fällenden Wahlspruch, bedurften sie doch einiger Zeit zur geordneten Vornahme des Geschäftes, und das Volk, hiervon verständigt, lief zum größten Teil auseinander.

Auf dem Zeisighofe war es an diesem Tage noch stiller als gewöhnlich. Jakob Weidelich suchte sich in seiner unverdrossenen Arbeit zu verbergen, bald im Stall, bald in den Vorratsräumen. Ab und zu sah er nach der Frau, die sich so weit hatte erholen können, daß sie zeitweise das Bett zu verlassen und sich im Krankensessel aufzuhalten vermochte. Mit Mühe hatte der Mann ihr alle Nachrichten vom Fortgange der traurigen Geschichte verheimlicht; sie wußte weder vom Einbringen des entflohenen Julian etwas, noch vom heutigen Gerichtstage, und es sah aus, als ob ein glückliches Vergessen der Dinge ihrer starken Natur allmählich wieder aufhülfe.

Am Nachmittage wurde es wieder stiller. Nicht nur fast die ganze Nachbarschaft hatte die Neugierde in die Stadt hinuntergetrieben, auch Weidelichs Knechte waren von der Arbeit weggelaufen, um die Meisterssöhne in ihrer Not sitzen zu sehen. Schon brach die frühe Herbstdämmerung an, und noch immer blieb es still, bis auf die Kühe im Stall, die nach der Tränke brüllten. Weidelich ging hin, sie an den Brunnen zu treiben; es war nicht mehr der alte mit dem Flintenrohr. Der hatte für den vergrößerten Wirtschaftsbetrieb nicht mehr genügt, weshalb Wasser hinzugekauft und ein steinerner Brunnen mit zwei starken Metallröhren erbaut worden. Die gefleckten Tiere drängten sich um die geräumige Schale und tranken mit Behagen das lautere Bergwasser. Jakob gönnte es ihnen und sah das Labsal rinnen mit jener schwermütigen Zerstreutheit, welche den Gang der bittersten Stunde einen Augenblick aufhält. Der stattliche Brunnen hatte der Vorbote eines neuen Hauses sein sollen; nun blieb es dabei.

Als die Kühe sich satt getrunken, führte er sie nach dem Stalle zurück. Die jüngste bockte herum und entlief in eine Wiese. Jakob suchte die Milchmagd, die aber hinter dem Scheunentor bei irgendeiner Nachbarin verborgen stand und leise schwatzte.

Mittlerweile war es der kranken Frau im Hause langweilig geworden, da sie niemanden mehr sah oder hörte. Sie schleppte sich aus der Wohnstube, wo ihr Sessel stand, in das Schlafgemach an das halb offene Fenster, nach dem Manne zu sehen. Unter diesem Fenster lehnte eben der eine der Knechte, der endlich zurückgekommen und hinter das Haus geschlichen war, um unbemerkt sich zu schaffen zu machen. Bei ihm befand sich auch schon die aus der Nachbarschaft herübergehuschte Magd im eifrigen Gespräch.

Sie glaubten die Meisterin in der vorderen Stube und sprachen nicht gerade laut, doch so vernehmlich, daß die Kranke alles verstand und mit einer wahren Hellsicht die Ereignisse in einem Augenblicke begriff, wie wenn sie die ganze Zeit vorher alles einzelne erfahren hätte. Sich mit beiden zitternden Händen an den Fensterpfosten klammernd, lauschte sie mit dem besser hörenden Ohre hinaus.

»Es war ein verfluchtes Gedränge,« sagte der Knecht; »Kopf an Kopf, und doch totenstill, als das Urteil verkündet wurde!«

»Was für ein Urteil denn?« fragte die Magd ungeduldig.

»Jeder hat zwölf Jahre Zuchthaus, der Lindenberger und der Unterlauber. Dann ist noch ein kleinerer Schelm da, eine Sorte von Markthelfer der andern, der hat vier Jahre! Mich dauern doch die Alten; ich kann mir nicht helfen!«

»Herr und Heiland!« sagte die Magd. »Zwölf Jahre! Wie sahen sie denn aus? Was machten sie?«

»Ich hab' sie nicht sehen können. Einer, der vor mir stand, sagte, sie sähen elend aus, er glaube, sie seien ohnmächtig. Ich hab's aber nicht geglaubt. Die Leute lachten und fluchten durcheinander.«

Jakob Weidelich kam um die Hausecke und schickte, ohne sich bei dem Knecht nach irgend etwas zu erkundigen, denselben samt der Magd an die Geschäfte. Er selbst besorgte noch einiges in der Scheune und ging endlich, da es ganz dunkel wurde, ins Haus, um Licht zu machen und für sein Weib zu sorgen. Nun preßte es ihm erst das müde Herz, da er wußte, was heute geschehen sein mußte und der armen Frau nicht lange mehr verborgen bleiben konnte.

In ihrem Sessel fand er sie nicht, die Kissen waren auf den Boden gefallen. Erschreckt ging er in das andere Zimmer, wo sie beim Fenster auf dem Boden lag und schwach röchelte.

»O Frau! Was machst du, armes Kind?« rief er flennend und trug sie auf das Bett. Er leuchtete mit der Lampe in ihr Gesicht. Das Auge drehte sich zum letzten Male mühsam nach ihm und erlosch dann.

Der Arzt, nach welchem Jakob den schwatzhaften Knecht alsobald schickte und der auch in zehn Minuten da war, betätigte ihren Heimgang.

Um diese Stunde glichen die Söhne der Toten einander wieder ganz so, wie sie ehedem getan, und setzten die Beamten der Strafanstalt in Verlegenheit, da sie geschoren, rasiert und in die Sträflingskleider gesteckt waren, als lebende Beweistümer, daß das eiserne Uhrwerk der Gerechtigkeit noch aufgezogen war und seinen Dienst tat.

Nach Verfluß von drei Tagen ließ Jakob Weidelich die Leiche begraben. Er hatte die Nächte wie immer in seinem Bette zugebracht, das neben ihr stand; die schlaflosen langen Stunden gingen dadurch leidlicher vorüber, weil er wähnte, sie müsse seinen Jammer und die einzelnen Worte, die er zuweilen stöhnend an sie richtete, vernehmen.

Am letzten Morgen nahm er mit unsicherer Hand seinen stoppeligen Bart ab, vor dem kleinen Spiegelchen stehend, das ihm viele Jahre gedient. Die eingefallenen Wangen, das veränderte Kinn und besonders das Aussparen des bescheidenen Backenbartes machten ihm die größte Mühe, deren ihm das elende Leben nicht mehr wert erschien.

Einen Augenblick fiel es ihm ein, ob er nicht besser täte, mit dem Messer tiefer hinabzufahren und die Kehle abzuschneiden, so wäre auch er erlöst. Aber das eingewurzelte Pflichtgefühl ließ ihn keinen zweiten Augenblick bei dem Gedanken verweilen; er barbierte sich ruhiger zu Ende.

Von den nicht zahlreichen Verwandten fand sich nur der kleinere Teil am Leichenbegleite ein; die anderen entschuldigten sich. Martin Salander, den der Witwer benachrichtigt, aber nicht ausdrücklich eingeladen, erschien schwarz gekleidet im Hause unter dem Häufchen sonstiger schlichter Männer aus Jakobs Bekanntschaft, die ihm den Dienst nicht versagten. Es tat dem armen Manne offenbar wohl in der peinlichen Stille, die in der Trauerstube herrschte. Vor dem Hause dagegen sammelte sich eine gute Zahl ernster Leute der Umgegend, welche dem schwarz behangenen Sarge folgten, der auf den Friedhof hinausgetragen wurde.

Es war ein unruhiger Tag im Spätherbste. Bald schien die Sonne auf Wiesen und Gärten, bald jagte der Wind fliegende Wolken über den Himmel und ihre Schatten über die Wege, welche der Trauerzug langsam beschritt, den von acht Männern getragenen Sarg voran. Über die Bahre und die Köpfe der Leidtragenden hinweg wehte der Wind außerdem das von den Bäumen gerissene abgestorbene Laub und die gelben Blätter raschelten und tanzten auf dem Wege so hurtig voraus, wie wenn sie Leben und große Eile hätten, den Heimgang einer Seele anzusagen.

Auf dem Friedhofe ruhte die Sonne und flimmerte in unbestrittenem Glanze auf den Hunderten von Glas-, Flitter- und Blechkränzen, mit denen der verirrte Geschmack die Denkmäler der Verstorbenen behing, aus der gleichen Eitelkeit, welche Wochen und vierzehn Tage hindurch die öffentlichen Blätter erst mit der Todesanzeige und dann mit der Danksagung für erfahrene rühmliche Teilnahme anfüllt. Das wäre alles so recht im Sinne der armen Amalie Weidelich in ihrer guten Zeit gewesen; nun war sie der Torheit enthoben und ging den letzten Gang in einem besseren und höheren Stile.

Während die Bahre den Weg nach dem offenen Grabe fortsetzte, trat die Trauerversammlung in das sogenannte Bethaus, wo der Geistliche bereitstand, nach Vorschrift Anrede und Gebet abzuhalten. Er hatte den Vater Weidelich besucht und gesehen, daß derselbe eine totenrichterliche Leichenpredigt, nach ländlichem Gebrauch den Umständen angepaßt, nicht gut ertragen würde, und widerstand daher dem Anreiz, ein Beispiel zu liefern.

Nach geschehener Verrichtung hielt er das Barett vor das Gesicht und verharrte so an seinem Platze, zum Zeichen, daß es aus sei. Einer um den andern begann hinauszugehen. Weidelich blieb ermüdet auf seiner Bank sitzen und auch aus Bescheidenheit, bis das Bethaus leer und auch der geistliche Herr unversehens verschwunden war. Dann wankte auch er hinaus und schaute unter der Tür sich nach dem Grabe um. Von den Personen des Geleites war niemand mehr zu erblicken.

Da trat Martin Salander zu ihm, nahm ihn unter den Arm und führte ihn zum Grabe, wo die Totengräber soeben den einfachen Sarg von weißem Tannenholz, wie er bis in die neuere Zeit für reich und arm gezimmert worden, in die Grube senkten und die Erde hinunterzuschaufeln begannen.

Jakob Weidelich fing wehrlos an zu weinen und brachte kaum die Worte: Du armes Kind! hervor, nun zum zweiten Male, seit er die Frau tot gefunden. Er redete sie offenbar in den verschollenen Tönen der Jugendzeit an, die am Ende der Dinge wieder erwachten, weil keine zärtlicheren dem verwitternden Manne zu Gebote standen.

Als die Graberde über dem Sarge wieder eingepackt war, und der Totengräber seine Arbeit mit der flachen Schaufel noch ein wenig streichelte und klopfte, um sich das Ansehen eines Künstlers zu geben, führte Salander den vereinsamten Mann hinweg und begleitete ihn bis in seine Wohnung, weil er wußte, daß er dort nun sich allein überlassen blieb, wenn man das unvertraut gewordene Gesinde nicht zählte.

Er faß mit ihm eine Zeitlang schweigend am Tische. Weidelich ruhte aus und brütete dann in sich hinein, bis er sich aufrichtete und sagte: »Nun kann meine Frau am Morgen liegen bleiben; ich aber muß mich bei Zeiten auf die Beine machen und das Geld für die Bürgschaft auftreiben, das jetzt bezahlt sein muß. Am Abend sitze ich nicht mehr auf freiem Grund und Boden und bin so arm wie eine meiner Mäuse, dazu noch zins- und fronpflichtig. Es ist hart! Ohne Lohn zu bleiben nach der Arbeit!«

Salander zog seine Brieftasche hervor und legte sie auf den Tisch.

»Ich bin,« antwortete er dem Manne, »wegen dieser Sache besorgt gewesen! Die Meinigen und ich, das heißt Frau und Töchter, wir haben uns gesagt, daß man Sie nicht in solchen Zuständen verlassen könne, daß es uns auch anstehe, das Band der Verwandtschaft, obgleich es niemand Segen gebracht, in freundlicher Weise zu lösen. Also bin ich gestern auf die Staatskasse gegangen und habe Ihre Bürgschaftspflichten, sozusagen, in Ihrem Namen erfüllt. Hier haben Sie die Quittungen, sie lauten zusammen für die beiden Söhne auf sechsundsiebzigtausend Franken. Leben und schaffen Sie nur weiter mit guter Gesundheit und machen Sie kein Wesen aus der Sache, es wird Sie niemand behelligen. Ich meinerseits kann es wohl tun und habe auch nichts dagegen, wenn Sie damit einst den Söhnen noch nützlich sein können. Sie waren einmal unsere Tochtermänner, so kann ich auch eine Bürgschaftsschuld für sie übernehmen, wenn es ihrem braven Vater die alten Tage leichter macht! Nehmen Sie die Quittungen an sich und behalten Sie den Sachverhalt als Ihr Geheimnis für sich; die Leute können ja auch nehmen, ich hätte das Geld auf Ihren Hof geliehen!«

Jakob Weidelich war so rot als noch möglich geworden und traute seinen Augen nicht, als er die zwei Scheine in der Hand hielt. Nur undeutlich und verworren drückte er seine Dankempfindungen aus, in welche sich Zweifel an der Annehmbarkeit eines solchen Opfers mischten. Er hielt aber die Quittungen fest, und als Salander sich entfernte, hörte er noch, wie auch Jakobs Stimme schon fester tönte, die einen der Arbeitsleute zur Ordnung wies.

»Das wäre auch vorbei!« sagte Martin vor sich her, und der Kaufmann in ihm fügte hinzu, es sei doch fraglich, ob man nicht mit Recht ihn einen Narren heißen dürfte, da er eigentlich nur den jungen eingesperrten Verbrechern ein Geschenk gemacht habe, welche den Vater beerben; und wenn sie wieder auf freien Fuß kämen, könne dieser längst tot sein.

»Doch nein!« sprach wieder der alte Martin. »Es ist so recht und die beste Auseinandersetzung mit den Buben, nachdem sie sich einmal in meine Lebenskreise haben drängen können! Ja, die Hochzeit, die verhexte Hochzeit! Gleich morgen muß der Anwalt mit der Scheidungsklage für die Töchter beauftragt werden. Diese Sache wird bald erledigt sein!«


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