Gottfried Keller
Martin Salander
Gottfried Keller

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15

Martin Salander hörte mehrere Wochen nichts weiter von Louis Wohlwend und dessen Familie, und wenn er auch zuweilen neugierig war, was der kuriose gute Freund zu guter Letzt noch aufstellen werde, so dachte er doch immer weniger und gleichgültiger daran.

Eines Abends verkündigte ihm Frau Marie, daß sie die Töchter besuchen und bei jeder einen Tag zubringen möchte. Die Männer seien nämlich beide an ein Schützenfest in der Westschweiz gereist und werden es nicht verlassen, bis sie ein paar silberne Becher herausgeschossen, was sie mit vielem Geldaufwand und unendlichem Schießen zu erzwingen gewohnt waren. Ihre Abwesenheit wünschten die Frauen zu einer gründlichen Musterung des Hausgerätes, namentlich Betten und Linnenzeug, zu benutzen und dabei die Mutter mit ihrem Rate zur Seite zu haben. Sie gedachten natürlich, auf diese Weise einen vollen Sommertag der ungestörten mütterlichen Gesellschaft sicher zu sein und es überdies so einzurichten, daß jede der Schwestern an der Visitation und dem Ratschlage im Hause der andern teilnahm, wobei sie nicht nur ein lehrhaftes Wahrnehmen und Vergleichen der erlittenen Schäden, sondern auch ein höchst zufriedenes, vertrautes Stilleben zu dreien tage- und nächtelang zu erzielen hofften. Denn wenigstens eine Nacht wollte jede Tochter den ersehnten Besuch bei sich festhalten.

Martin fand alles in der Ordnung, bis auf die kostspielige Schießerei der Schwiegersöhne, von denen jeder in der Tat ein Glasschränklein mit einer Reihe glänzender Becher im Hause stehen hatte, ohne einen sichern Schuß abgeben zu können. Da es aber einmal so war, so gönnte er allen drei Frauen die zwei oder drei vertraulichen Tage und ermahnte die seinige, solange bei den Kindern zu bleiben, als sie es freue und ihr selbst guttue. An beiden Orten sei ja die Luft so rein und gesund als möglich.

Am bestimmten Tage brachte er die treffliche Gesponsin zum Bahnhofe, wo die Magd schon einen Korb mit guten Sachen hingetragen hatte, das Zusammensein der einsamen Strohwitwen etwas festlicher zu gestalten.

Vom Bahnhofe hinweg machte Salander einen längeren Gang durch abermals neuentstandene oder ausgebaute Quartiere und unterhielt sich damit, ein und anderes Haus zu erspähen, auf welches er flüssiges Kapital geliehen hatte. Da er aber kein fleißiger Stadtgänger war, so vermochte er die Häuser schon nicht mehr herauszufinden. Hierüber fielen seine Gedanken auf das bedenkliche Umsichgreifen der Baulust, welcher er ja selbst Vorschub leistete, und auf die Reden, welche bereits von einem unvermeidlichen Häuserkrach umgingen. Mag er kommen, dachte er, ich habe nur erste Hypotheken, und ohne das: mitgeflogen, mitgefangen! Man muß mit der Zeit marschieren, sie gleicht alles wieder aus; was sollten unsere Handwerker anfangen, wenn nicht das bißchen Bauen noch wäre?

Er betrachtete ein schönes Haus genauer, welches schon bewohnt schien, da im Erdgeschoß eben ein Handelsgeschäft oder Warenlager eingerichtet wurde und die Fenster der übrigen Stockwerke mit Vorhängen versehen waren. Wie er so stand, trat Louis Wohlwend aus dem Hause und erblickte den Martin Salander.

»He,« rief er, »da ist er ja wie gerufen, der alte Freund! Just diesen Augenblick war ich im Begriff, dich auf dem Kontor aufzusuchen! Wie gern würde ich dich gleich hinaufführen, denn wir wohnen einstweilen in diesem Hause; aber meine Frauenzimmer befinden sich noch nicht im Stadium und würden schneuzen wie Katzen, wenn ich einen Herrn brächte!«

»Ei so!« sagte Salander, als er endlich zum Worte kam, »du hast eine Wohnung bezogen und gedenkst also hierzubleiben?«

»Es ist wohl möglich, daß wir wenigstens so lange bleiben, bis die Buben geschult sind. Denn das habe ich nun empfunden, daß ich sie hier in die Schulen schicken muß; sie sollen ja doch Schweizer bleiben. Wir sind einige Wochen herumgereist, auch am Genfer See; in Lausanne habe ich ein Privatinstitut gefunden, das mir sehr gefällt. Dort will ich sie für ein Jahr, oder je nachdem, unterbringen, und nachher sollen sie hier oder anderswo in der deutschen Schweiz eine gute Mittelschule, Gymnasium oder Realschule durchmachen.«

»Was sollen sie denn werden?« fragte Salander.

»Mit meinem Willen jedenfalls nicht Kaufleute! Ich habe genug davon bekommen, sintemal nicht jedem das Glück eines Martin Salander beschieden ist!«

Dieser nahm eine Redensart, die er auch schon von anderen Schiefgelaufenen hören gelernt hatte, nicht übel; er lächelte gutmütig: »Also Studien nimmst du in Aussicht für die Knaben?«

»Studien, hm! Ja und nein! Ich fürchte, die Burschen sind nicht so recht intelligent genug! Dennoch schwebt mir dunkel vor, als ob sie das Studium der Theologie bewältigen könnten!«

»Theologie? Das muß ja heutzutage gerade das Schwierigste sein, das die entgegengesetztesten Fähigkeiten erheischt!«

»Nicht so sehr, wie du meinst!« erwiderte Louis Wohlwend mit überlegenem Zwinkern seiner Augen. Da eigentlich keiner wußte, wie es der andere meinte oder meinen wollte, so ließen sie den Gegenstand fallen.

»Wo gehst du hin?« fragte Wohlwend.

»Auf das Bureau; ich habe meine Frau nach der Eisenbahn gebracht; sie ist für einige Tage verreist, und nachher bin ich ein wenig spazieren gegangen. Jetzt wird es wohl Zeit sein.«

»Ich begleite dich noch eine Strecke! Apropos! Was sagst du dazu, daß ich in deinem Hause wohne?«

»In meinem Hause? Wo denn? Ich habe keines!«

»Wo ich vorhin herauskam? Ich habe mit dem Eigentümer über die jetzigen Bauverhältnisse gesprochen und dabei natürlich erfahren, wo er das Geld her hat. Es ist also so gut dein Haus, wie seines!«

»Ich sehe nicht, wie! Auch wenn der Mann es müßte fahrenlassen, so kämen andere nach mir, denen es zufiele. Ich stehe sicher!«

»Wer kann das sagen? Wenn der Kaufwert um ein Drittel oder Viertel sinkt, so wird das Haus dein und ist dann erst preiswürdig!«

»Aber ist denn das Haus wirklich eines, worauf ich Geld habe? Wie heißt der Besitzer?«

»Wie, du kennst deine Häuser nicht? Martin, du bist bei Gott großartig!« Bei diesen Worten warf Wohlwend einen stechenden Blick auf den alten Freund, der zufällig einen halben Schritt voraus war und das böse Auge nicht fühlte.

Jener wußte wahrscheinlich selbst nicht, was die aufblitzende kleine Wut erregte, ob Salanders Erwerbsglück oder die unbekümmerte Ruhe, welche er besaß. Während jener schon mehr ausgekundschaftet, als er verriet, wußte dieser nicht einmal, wo die Häuser standen, die er belehnte, was wie eine persönliche Beleidigung auf ihn wirken mußte. Tat ihm Salander ja nicht die Ehre an, die Frage nach dem Namen des Hauseigentümers zu wiederholen, die vorhin unbeantwortet geblieben.

Aber kaum hatte er den halben Schritt eingeholt, war die schlimme Anwandlung aus seinen Augen verschwunden, und er plauderte weiter.

»Alter Freund! Was ich sagen wollte: ich weiß nicht, wie ich zu deiner Allergnädigsten stehe? Gern möcht' ich sie doch unter den nunmehrigen Verhältnissen begrüßen, zumal ich auch mit Damen behaftet bin, denen ein schicklicher Umgang Bedürfnis wäre. Sie sind durch den frühen Tod ihrer Mütter in der feineren Erziehung nicht gefördert worden, haben zwar durch fahrende, junge geistliche oder weltliche Lehrer Unterricht erhalten, wenn es sich fügte; das wollte aber nicht viel heißen, hätte auch nicht viel zu sagen, wenn sie als Ersatz mehr gesellschaftliches Geschick hätten, als sie sich in ihren heimatlichen Verhältnissen haben aneignen können – aber da hapert's eben, wie du leicht bemerken magst, und aus diesem Grunde muß ich darauf sehen, sie bald in dies oder jenes Haus einzuführen, wo sie etwas lernen können, so das nötigste –«

»Du klopfst da an der unrechten Türe,« unterbrach ihn Salander, »meine Frau lebt ziemlich zurückgezogen und hält nicht einmal eine Stubenjungfer. Seit vielen Jahren behelfen wir uns mit einer älteren Magd, du kannst dir also denken, daß wir kein Haus machen, wo für Damen etwas zu lernen ist.«

»Laß das nur gut sein! Die gnädigste Frau ist mir nicht grün, ich weiß das wohl; allein darum hab' ich doch allen Respekt vor ihr und schätze, daß sie für sich allein schon ein gutes Haus vorstellt – versteh mich nur! Ich suche ja nicht Glanz und Geräusch für die armen Weibchen, sondern ein Vorbild ruhig edler Weiblichkeit in allem Tun und Lassen –«

»Da kommst du bei der Marie schlecht an, wenn du dergleichen vorbringst!« unterbrach Salander abermals den Aufdringlichen, »sie kann das Wort nicht ausstehen und hat es dem Redner jetzt noch nicht verziehen, der sie einst an der Hochzeit unserer Töchter vor allem Volk ein Muster edler Weiblichkeit genannt hat!«

»Ha, die famose Hochzeit!« rief Wohlwend, »davon hab' ich auf dem Borstenmarkt zu Budapest eine Zeitungsnotiz gelesen. Ich frühstückte ein Schweinshaxerl mit einem Seidel Erlauer, nahm ein Blatt in die Hand und las aufs Geratewohl: ›Den berühmten Hochzeiten zu Kana, des Camacho (welchen ich nicht kenne) und so weiter wird man diejenige eines Herrn Martin Salander in der freien Schweiz anreihen müssen, welche derselbe bei der Verheiratung seiner zwei Töchter angestellt hat und wobei nicht nur eine Menge Volkes bewirtet, sondern auch politische Schauspiele und Allegorien aufgeführt wurden, alles unter freiem Himmel!‹ Davon mußt du mir noch erzählen! Stelle dir vor, wie es mich elektrisiert hat und wie mir trotz meines gebratenen Schweinshaxerls der Mund wässerte!«

»Ja, ein andermal!« sagte Salander, der rot und verlegen geworden und nach der Uhr sah, »jetzt muß ich doch ans Geschäft gehen, es ist bald neun Uhr!«

Wohlwend faßte ihn aber am Rockknopf: »Noch ein Wort, alter Freund! Du bist also allein zu Hause? Wir haben noch gar nie recht ausgeplaudert, nimm vorlieb und iß heute mit uns, wenn du nichts anderes vorhast! Wir sind freilich nur unvollkommen eingerichtet und ohne allen Luxus auch in der Küche – allein ich weiß, du nimmst vorlieb! Wir müssen uns in den eigenen vier Wänden bewegen, wenn wir ungestört sein wollen. Du versprichst zu kommen, nicht wahr?«

Martin fühlte sich durch das neue Andrängen Wohlwends nicht angenehm berührt und gedachte auch des Widerwillens der Frau Marie. Doch der Umstand, daß er sich vorgenommen hatte, auswärts zu speisen, und eine gewisse Neugierde, das Schönheitsbild nochmals zu erblicken, dessen Lob eine so liebliche Heiterkeit der Gattin erweckte, veränderten plötzlich seinen Sinn und verhüllten sein Bewußtsein mit einem aufsteigenden Nebelgewölk, und er sagte zu, worauf Wohlwend sich schleunig entfernte und Salander endlich die Stätte seiner Arbeit aufsuchte. Er blieb einige Stunden andauernd beschäftigt, auch nachdem seine Leute weggegangen, und übersah mit klarem Blicke die Geschäftslage nach allen Seiten. Wo sich eine Schwierigkeit zeigen wollte, rührte sie nicht von Selbsttäuschung oder bedachtlosem Verfahren her, und es ließ sich ihr mit ruhigem Gleichmute begegnen. In der Stille der Mittagsstunde warf er auch einen prüfenden Blick in die Bücher, sowie auf die persönlichen Notizblätter über die wichtigeren Vorkommnisse im allgemeinen, und nahm mit Befriedigung wahr, was er zwar wußte, daß der Gang seiner Handelsangelegenheiten keine verwegenen Sprünge machte, dagegen in gleichmäßigem Flusse sich gelassen vorwärts bewegte. Darin glaubte er dankbar ein ihm anhaftendes Glück zu erkennen, seit den früheren Unfällen nur auf redliche und zuverlässige Geschästsfreunde zu stoßen oder dieselben sogar anzuziehen, wenn er so eitel sein wollte, sich dessen zu rühmen.

Nun schnarrte die solide Uhr über dem Schreibtische, viertelte, schlug ein kräftiges Eins und erinnerte ihn daran, daß er dem Louis Wohlwend versprochen habe, bei ihm zu essen, und zugleich, daß dieser älteste Freund beinahe der einzige Mensch war, der ihm wiederholt Unglück gebracht hatte. Er erschrak förmlich, schloß die Aufzeichnungen wieder ein und besann sich schwankend, ob er nicht besser täte, dem Gefühle seiner Marienfrau zu folgen, nicht hinzugehen und überhaupt mit dem wunderlichen Gesellen kurz abzubrechen. Als er jedoch bedachte, wie Wohlwend ja den guten Willen zeige und bereits betätigt habe, das Vergangene freiwillig gutzumachen, dünkte es ihm doch untunlich und grausam, den Mann so zu behandeln, jetzt, wo er sich aus den Wirrsalen eines vielleicht mehr törichten als schlechten Lebens gerettet zu haben und zur Ruhe gekommen schien.

Damit erhob er sich von seinem Stuhle, suchte nach Haar- und Kleiderbürsten seiner Angestellten, welche die Herren in einem Winkel aufbewahrten, wusch die Hände und machte sich schön, soweit es sein Alter erlaubte, da er mit Frauen zu Tisch sitzen sollte. Dann schellte er dem Gewerbeknecht, der im Hause wohnte, und befahl ihm, das Kontor zu schließen, auch dem Buchhalter zu sagen, er würde vermutlich diesen Nachmittag nicht mehr erscheinen.

Er stieg in dem bewußten Hause drei Treppen hoch, bis er die Wohnung fand, an deren Türe eine Karte mit dem Namen L. Volvend-Glavicz befestigt war. Zeugte das hochgelegene Quartier von bescheidenem Auftreten, so verkündete die Karte, daß deren Inhaber schließlich in die Zunft derjenigen eingetreten sei, die immer etwas an ihrem ehrlichen Namen herumzubasteln haben. Martin schüttelte den Kopf und zögerte, die Hand an der Klingel ein letztes Mal. Er wird am Ende nichts weiter damit wollen, als ein wenig der Eitelkeit frönen, da er nun die Muße dazu hat! dachte er nach einigem Besinnen und zog die Glocke. –

Es dauerte ein kleines Weilchen, bis einer der Knaben öffnete und den Gast mit einem stummen Bückling einließ. Durch die offenstehende Türe eines Zimmers sah man den gedeckten Tisch, an welchem das andere Söhnchen stand und die Mandeln zählte, die auf einem Teller lagen. Beide Knaben trugen Stiefeln, wie der Vater, und darüber lange Röcke von gelblicher Farbe, gleich Herrschaftsbedienten; in ähnlichem Geschmacke waren die Haare mit Pomade bestrichen und dicht an die Schläfen geklebt. So machten sie den Eindruck von Kindern, welche die Eltern nicht zu kleiden verstehen. Als weiter niemand erschien, fragte Salander denjenigen, der ihm geöffnet, wie er heiße, denn er hatte es vergessen.

»Georg!« erwiderte er, abermals mit einem Bückling, »und der dort ist der Louis!«

»Richtig! Nun, und wo ist euer Papa?«

»Dort drin sitzt er!« sagte Georg, auf eine andere Türe weisend. Martin klopfte dran, und es tönte herein.

»Ah! Der Freund Salander!« rief Wohlwend, der an einem Tischchen in der Nähe des Fensters saß und schrieb, jetzt aber aufstand und ihm die Hand reichend entgegentrat, »sei willkommen bei uns!«

»Ich muß mich wegen des Verspätens entschuldigen,« sagte Salander, »ich habe mich auf dem Kontor ganz vergessen, bis es Eins schlug!«

»Hat gar nichts zu sagen! Du siehst, ich war auch beschäftigt; ich bin ein armer Teufel und habe stets mit dem Vermögen meiner Frau zu schaffen, es ist eine etwas schwierige Gegend dort hinten! Und meine Schwägerin hat zwar ihren eigenen Sachwalter, aber auch dem muß ich fortwährend auf die Finger sehen, ich habe eben seine letzte Abrechnung unter den Händen. Jetzt wollen wir aber sehen, wo die Frauenzimmer bleiben!«

Er packte einige Papiere zusammen, die auf dem Tischchen lagen, und verschloß sie in eine Kommode.

»Schau einmal dies Möbel, wie gut es gemalt ist!« sagte er, »reines Tannenholz, und sieht aus wie Nußbaum! Wir sitzen nämlich ganz in gemietetem Hausrat, Betten und alles, bis das Provisorium entschieden ist. Auch das Essen haben wir heute vom Restaurant, haben zwar eine Köchin mitgebracht, die aber mit den hiesigen Einrichtungen noch nicht auszukommen versteht.«

Eine Türe ging auf, durch welche Frau Alexandra Volvend-Glavicz eintrat. Sie ging in rauschender Seide daher und war ziemlich so groß wie ihr Mann; dennoch schien sie ihm auf die Augen zu sehen, wie wenn sie sich scheute, etwas nicht gut zu machen. Das Gesicht war wohlgebildet, aber ausdruckslos und tiefer gefurcht, als den vielleicht bald vierzig Jahren angemessen war, die sie zählte.

»Siehst du,« wendete sich Wohlwend an sie, »hier heißt's nicht: Küss' die Hand, meine Gnädigste! wenn ein Herr kommt. Die Hand gegeben und geschüttelt, damit Punktum!«

Salander erleichterte der guten Dame das Manöver, indem er es nach der soeben vernommenen Vorschrift ausführte und ihr aufrechtstehend die Hand bot.

»Guten Tag, Herr Staatsrat von Salander,« sagte sie mit fast rauher Stimme, »es freut mich, wenn Sie mit unserm einfachen Tisch vorlieb nehmen wollen!«

Dabei machte sie statt seiner einen Bückling, genau wie vorhin ihr Sohn Georg.

»Nicht so!« rief Wohlwend lachend, »du darfst deswegen noch kein Kompliment machen, wenn man dir schon nicht die Hand küßt!«

Sie errötete stark, weil sie trotz des Lachens den stechenden Blick auffing, den er zugleich damit abgab. Denn er war zornig über die offenbar eingelernte und verkehrt vorgebrachte Phrase ihrer Begrüßung. Zum Glück für sie, die furchtsam dastand, ging die Türe wieder auf und ihre Halbschwester erschien, Salanders Augen sogleich auf sich ziehend und festhaltend. Sie war jetzt wirklich eine schöne Erscheinung, ebenso groß wie ihre Schwester, war sie wohl zwanzig Jahre jünger, und in dem weißen Kleide, das sie trug, von tadellosem Wuchse. Das Kleid war einfach gearbeitet, ohne alles Gebausche, indem der Hauptzierat in einem ebenfalls weißen Spitzenkragen bestand, welcher die schönsten Schultern und Arme spärlich durchschimmern ließ, aber von ihnen um so schönere Falten erhielt. Einen feineren Glanz verlieh alledem die sanfte Schüchternheit, die darüber ausgegossen war und die bescheiden auftretende Gestalt in ihrem so stattlichen Wuchse in der Tat wie Mondlicht verklärte. Sie lächelte leicht, als sie Salander grüßte, aber mehr wie um Atem zu schöpfen, als um ihn oder irgend jemand anzulächeln, und er verbeugte sich bei diesem Anlaß unfreiwillig, trotz seiner demokratischen Gesinnung, und nahm sogar die Hände hervor, die er auf dem Rücken gehalten hatte.

Jetzt kamen auch die Knaben gelaufen und zeigten an, daß die Suppe auf dem Tische stehe.

»So laßt uns gehen, eh sie kalt wird!« mahnte Wohlwend. »Es ist das einzige, was die Köchin heute geleistet hat, eine gut österreich-ungarische Suppen, eine Mehlspeis nicht zu vergessen! Herr Großrat, darf ich dich bitten, meiner Frau den Arm zu bieten und voranzugehen, links durch!«

Martin mußte sich zusammennehmen, der Einladung rasch zu gehorchen. »Woher hat er nur diese verfluchten Künste?« dachte er, »hier wußte er den Teufel davon, so wenig als ich!«

Am Tische kam er heute natürlich neben die Frau zu sitzen, erhielt aber dafür die herrliche Myrrha von hellenischer Abkunft zum Gegenüber.

Zu seiner Verwunderung ergriff Louis Wohlwend sofort den Suppenlöffel und tauchte denselben in die Schüssel, nachdem die Köchin, auch eine merkwürdige Erscheinung, den Deckel weggenommen hatte.

»Das ist mein Amt!« sagte er zu Salander, der ihm zuschaute, »darf ich um die Teller bitten, wir wollen sie einfach weitergeben, da wir unser so wenig sind!«

Die Frau war sichtlich etwas beschämt, so regiert zu werden; allein er schöpfte einen Teller um den andern voll, indem er jedem seinen Anteil an den guten Sachen herausfischte, die auf dem Grunde der Schüssel ruhten, und so gerechtes Maß übte, auch dafür sorgte, daß kein Teller im Herumreichen überschwappte.

Martin Salander befolgte in allen Lagen seines Lebens, wo eine Suppe vorkam, die Angewöhnung, ohne Verzug mit dem Genusse derselben zu beginnen, sobald er sie im Teller hatte. Da nun das Schöpfen beendigt war, säumte er auch nicht länger, versenkte seinen Löffel in die Brühe und führte ihn zum Munde. Als er damit auf dem halben Wege angelangt war, und auf diesen Augenblick schien der Tischherr gewartet zu haben, sagte Wohlwend unversehens mit trockenem Tone: »Georg, bete!«

Verblüfft hielt Martin Salander den Löffel schwebend in der Luft und schaute auf. Alle hielten die Hände gefaltet vor sich hin, während der Knabe ein Tischgebet verrichtete. So blieb jenem nichts anderes übrig, als seinen Löffel niedergehen zu lassen und die Hände wenigstens vor sich auf den Tisch zu legen. Zu einem geheuchelten Mitfalten fehlte es ihm doch an Unverfrorenheit. Inzwischen betrachtete er den Louis Wohlwend ganz unbefangen, wie er ernsthaft vor sich niederblickte und unter seinem tatarischen Schnurrbart die Lippen schloß, wie wenn er einen Schluck Wein auf der Zungenspitze hätte.

Als das Gebet zu Ende, wurde die Suppe ohne weiteres Hindernis verzehrt, und da hierbei wenig gesprochen zu werden pflegt, fand Salander Zeit, über den Vorfall seine Gedanken zu machen. Daß in einer Familie mit Kindern das Tischgebet fortgeführt wird und auch Wohlwend, der die Sitte wahrscheinlich im Hause des Schwiegervaters vorfand, es tat, fiel ihm nicht so auf, wie die unverkennbare Absicht, mit welcher er den arglosen Gast den Löffel hatte ergreifen lassen, eh' er den Befehl erteilte. Martin schloß also hieraus, daß es auf ihn besonders gemünzt sein müsse, und indem er mit geheimem Ergötzen die alten Schnurren darin erkannte, wunderte er sich nur, zu was sie jetzt noch nötig seien, und daß Wohlwend die beleidigende Form nicht selbst gefühlt habe. Solange er ihn kannte oder zu kennen glaubte, ahnte er doch nicht, daß der gute Freund allmählich auch von einer gewissen Bosheit gefüllt worden, welche ohne sein Wissen durchsickerte, wo er es am wenigsten wünschte, da der Zusammenhalt sich lockerte.

Wohlwend merkte übrigens, daß der Gast das Auftrittchen seiner neuesten Erfindung nicht ganz unempfindlich hinnahm und eröffnete daher das Tischgespräch folgendermaßen: »Du bist vielleicht von unserem soeben geübten Brauche überrascht, alter Freund! Du weißt, ich war nie ein Kopfhänger, nie ein Frömmler und gedenke es niemals zu werden! Aber in diesen Zeitläuften und bei einem Leben, wie ich es führen mußte, immer auf der niedrigsten Gewinnsjagd umhergetrieben und fruchtlos abgehetzt, da lernt man wieder mehr nach den alten Idealen der Menschheit ausschauen, um, wenn vielleicht nicht für sich, so doch für die Kinder etwas zu retten, woran sie sich halten können! Du verstehst!«

Salander bemerkte, daß die Frauen wie die Knaben den Sprecher aufmerksam ansahen und seine Worte, die ihnen neu und unverständlich waren, nach dem Ausdruck ihrer Mienen zu schließen, doch für etwas Großes und Weises hielten. Er wollte das Familienhaupt daher nicht einmal durch Stillschweigen im Stiche lassen.

»Du bist ja ganz in deinem Recht!« entgegnete er. »Abgesehen von den Fragen häuslicher Andacht hielt ich stets dafür, daß man überhaupt angesichts der Stellung, welche die christliche Religion in der Weltgeschichte wie im Leben der Gegenwart einnimmt, gar nicht ermächtigt sei, den Kindern deren Inhalt zu unterschlagen, wie er sich jeweilig für einmal darstellt. Man hat die Pflicht, ihnen das Entwickeln freier Überzeugung für das Alter der Mündigkeit offen zu halten; dazu müssen sie erfahren, was bis auf ihre Zeit bestanden hat, und müssen hören, was die Religion selbst von sich sagt, nicht was andere von ihr aussagen.«

Die Köchin, eine rundliche, von der Natur gebräunte Person in der Tracht einer slowakischen Bäuerin, trug nun zwei oder drei genügende Gerichte auf, deren Anordnung von bescheidenem und verständigem Sinne Zeugnis gab, fern von aller Großtuerei. Auch der Wein, den Wohlwend einschenkte, war ein schmackhafter, jedoch keineswegs teurer Siebenbürgener, offen aus dem Fasse gezapft; feinere Flaschen standen nicht bereit.

»Diesen Wein hab ich schon von Haus kommen lassen, trink nur genug davon, er schmeckt immer besser und macht nichts!« fügte er bei.

Salander erstaunte beinah über das bürgerlich solide Wesen, welchem das Gebet vorausgegangen, während das Mitführen der Dienerin in fremder Volkstracht diesem Wesen wiederum einen fast vornehmen Anstrich verlieh.

Wohlwend setzte aber sein Gespräch fort.

»Du hast dich sehr gut ausgedrückt in deiner Weise, in Betreff der religiösen Kindererziehung! Ich möchte aber einen Schritt weiter gehen und sagen, haben wir's erst auf diesen Standpunkt gebracht, so wollen wir die idealere Anschauung auch für uns Alte beibehalten oder wieder aufnehmen, wir tragen ja nicht schwer daran!«

»Wenn ich nur wüßte, was er will!« dachte Salander, und verlor darüber einige Worte Wohlwends, fand sich aber ungefähr zurecht, als dieser fortfuhr: »Ja, Freund! Ich bin überzeugt, daß ihr bei der Aufrichtung des unmittelbaren Volkswillens, die ihr glorreich vollzoget, eine große Sache übersehen, sozusagen rein vergessen habt! Die Religion habt ihr links liegen lassen und die Kirche vor den Kopf gestoßen, statt die Geistlichkeit ins Interesse zu ziehen! Das wird sich rächen!«

»Wer hat denn der Religion oder vollends den Geistlichen etwas getan?« fragte Salander, »ich wenigstens, der nicht dabei gewesen, weiß nichts davon!«

»Es ist genug getan, wenn man tut, als ob sie nicht da wären, und es ist jammerschade um die Möglichkeit, den Gottesstaat der Neuzeit zu errichten!«

Salander rief lachend: »Den Gottesstaat der Neuzeit zu errichten? Du sprichst ja in Jamben! So wollen wir auch damit fortfahren! Weißt du noch, wie Schillers Don Carlos schließt? Nicht? ›Kardinal, ich habe das Meinige getan, tun Sie das Ihre!‹ So wird das Stück immer wieder schließen!«

»Und ich werde nicht ruhen und meine Idee an den Mann zu bringen suchen!« entgegnete Wohlwend, für welchen Salanders Zitat unbrauchbar war, da er den Don Carlos nie ausgelesen hatte. »Ich könnte viel Versäumtes nachholen und mich gegen den Lebensabend hin vielleicht dem Vaterlande noch nützlich machen!«

»Das wird ja immer merkwürdiger!« dachte Salander, »er kommt, eine theokratische Bewegung auf unsere Demokratie zu pfropfen, das hat natürlich gefehlt, deswegen haben wir sie ausgebaut! Aber die Narrheit, die er diesmal aushängt, ist ungleich großartiger als die früheren Schnurren; hoffentlich ist es der Konkurs, vor dem er diesmal flieht, nicht im selben Maße! Allein das ist's doch nicht, sonst würde er nicht alte Schulden bezahlen! Am Ende ist es der reine Übermut, da er nun versorgt ist; er will auch seine Rolle spielen, und weil ihm nichts anderes zur Hand liegt, hat er sich irgendeiner missionierenden Sekte angeschlossen und macht den Apostel!«

Wohlwend hielt indessen wirklich eine Art Predigt, welche Salander in seiner Zerstreutheit gar nicht vernahm. Das übrigens leere Wortgeräusch diente nur dazu, seine Aufmerksamkeit noch mehr einzuschläfern, und auch seine Gedanken verloren sich aus dem Gesichte, wie wenn ein Nebeldunst zwischen sie träte. Um zu wissen, wo er sich eigentlich befinde, blickte er auf und sah gegenüber das Antlitz des Fräulein Myrrha, deren elegisch bewimperte Augen ihn betrachteten und deren Lippen sich mit einem anmutigen Lächeln öffneten, weil seine überraschten Züge ihren Ausdruck änderten. Da sein Glas leer stand, ergriff sie eine Flasche und füllte es, worauf er das Gefäß nahm und ihr ebenfalls einschenkte. Bei der Gelegenheit ließ er sein Glas mit dem ihrigen bescheiden zusammenklingen und trank auf ihre Gesundheit, wobei der Abglanz eines jungen Glücksgefühls über seine Gesichtshaut wallte und die Fältchen derselben sich gleich kleinen Schlänglein winden, strecken und krümmen ließ und beinahe den Eindruck gutmütiger Torheit hervorbrachte. Wohlwend bemerkte den Vorgang und hielt inne mit seiner Rede.

»Halt,« sagte er, »wir müssen zum Anstoßen einen besseren Tropfen nehmen!«

Er ging hinaus und holte nun doch eine Flasche Tokaier herbei, dessen Gold den mäßigen Martin Salander mit wohliger Wärme durchströmte und in seinem Munde zu fröhlichen Worten wurde, wenn auch nicht zu Worten der Weisheit, denn er sprach für die schönen Ohren der Myrrha Glawicz, ohne zu wissen, was in dieselben einging oder ihnen gefallen konnte, und da sein eigenes Licht wie in einem Luftzuge flackerte, wurde auch der Zusammenhang und Sinn seines Redens nicht recht erkennbar.

Doch blieb es unbeachtet, weil durch das unverhoffte Ende von Wohlwends Predigt und das heitere Wesen Salanders sich eine Art Munterkeit einstellte und selbst die Knaben laut wurden. In solchem Tumültchen wandelte Martin plötzlich die Lust an, der Familie um der schönen Genossin willen auch eine Ehre anzutun und sie zu einer Spazierfahrt einzuladen. Er nahm eine Karte aus dem Carnet und schrieb für den Fuhrherrn, dessen Kunde er in Fällen des Bedürfnisses war, die Bestellung eines guten Wagens darauf. Louis Wohlwend, angenehm berührt, erklärte feierlich, die Einladung anzunehmen, und sandte die Knaben mit der Karte weg, sie einem der Dienstmänner zu bringen, die an der nächsten Straßenecke standen.

In einer halben Stunde kam der Kutscher mit dem gutgehaltenen, offenen Wagen angefahren; nach einem weiteren halben Stündchen waren die Frauen bereit und stieg die Gesellschaft die drei Treppen mit großem Ansehen hinunter, und es fügte sich gut, daß der Hauseigentümer, der in der Tat Salanders Schuldner war, unter der Haustüre stand und diesen begrüßte; so konnte sich Wohlwend, heute vollends wie ein ungarischer Stuhlrichter dreinschauend, als Freund des Kapitalisten und Kaufherrn brüsten und schwang wohlmögend sein Hütchen.

Die Damen hatten sich mit breiten Federhüten und bunten Überwürfen versehen. Myrrha trug einen solchen von roter Florseide über ihren weißen Staat. Die zwei Männer auf dem Rücksitze hatten den Knaben Louis zwischen sich genommen, Georg saß neben dem Kutscher auf dem Bocke. Die Pferde waren für Mietrosse rasch genug und hübsch geschirrt, das ganze Fahrzeug mithin augenfällig beschaffen, und so fuhr Martin Salander darin harmlos durch einen guten Teil der Stadt, und jedermann, der ihn erkannte, sah ihm nach, ohne daß er es gewahrte.

Auch den Herrn Möni Wighart sah er nicht, der mit seinem alten Stock unter dem Arme auf einem Platze stand, fast ebensowenig gealtert oder beschädigt als der Stock, und eben ein abgebranntes Zigarrenrestchen aus dem Meerschaumröhrchen blies, um einen frischen Stengel aufzustecken. Bei ihm weilte Martins alter Rechtsanwalt im Gespräche, sich einer ziemlichen Haarverdünnerung erfreuend, die ihm an dem warmen Tage zustatten kam; denn er hatte den Hut abgenommen, um den Scheitel zu lüften. Beide schauten dem Wagen nach.

»Da fährt ja Martin Salander, der sieht uns nicht einmal!« sagte Wighart, »was hat er wohl für ein Volk bei sich?«

Nachdem der Anwalt durch die Lorgnette die auf dem Rücksitze noch sichtbaren Herren erfaßt hatte, antwortete er: »Das kann nur einer sein – raten Sie, wer?«

»Ich habe keine Ahnung! War vier Wochen im Bade und komme gestern abends zurück!«

»Nun, es ist kein anderer als der ehemalige Schadenmüller & Komp., der Louis Wohlwend!«

»Was Sie sagen! Wie ist das möglich? Ich hätte gedacht, das wäre ein verkleideter Chinese mit Familie! Und seit wann ist der Kerl denn da?«

»Schon vor einiger Zeit kam Herr Salander zu mir und erzählte, wie er bei ihm erschienen sei und eine Abzahlung an den ersten Verlust, Sie wissen ja, von jener Jugendbürgschaft her, geleistet habe und sie jährlich fortsetzen wolle, und fragte, ob er ohne Gefährde darauf eingehen dürfe. Ich sagte, er solle nehmen, was er bekommen könne. Von der späteren größeren Geschichte sprach er ihn so gut wie frei. Ich konnte ihm keine Maßregeln anraten, der Mann Wohlwend ist der alte Hexenmeister in Gestalt eines blöden Gehirnes. Er hat hier Niederlassung genommen, und als man ihm das Steuerformular schickte, brachte er sein ganzes Geschäft auf das Gemeindehaus und wies in aller Form nach, daß, was er besitze, alles erheiratetes Weibergut sei, und erklärte, unweigerlich versteuern zu wollen, was nicht etwa in Ungarn liege und dort versteuert werde!«

»Und nun führt Salander ihn in der Kutsche spazieren?«

»Oder der andere ihn, ich weiß es nicht! Aber ein schönes Stück Weiberfleisch saß in dem Wagen, soviel ich in der Geschwindigkeit bemerkte!« fügte der Anwalt hinzu, »ob am Ende der Satan auf diese Art Mäuse fangen will?«

»Da liegt keine Gefahr! Meister Martin hätte früher angefangen, wenn er über solche Steine stolpern wollte! Aber dennoch ist mir das Ereignis, die Rückkunft des Schadenmüllers, so bitter wie ein Gallapfel! Der verfluchte Kerl mit seinen Kalmückenschnäuzen! Salanders Ölgötz, wie er ihn einst nannte, steht wieder da! Es würde ihm freilich nicht schaden, wenn er nochmals eine nicht allzu derbe Lektion erhielte; schon wegen seiner ewigen Wühlhuberei verdiente er einen etwelchen Nasenstüber! Und dennoch gönn' ich es ihm nicht, er ist doch ein rechter Mensch!«

»Gewiß ist er's!« sagte der Anwalt und drückte dem Herrn Wighart, Abschied nehmend, die Hand.

Der also belobte Martin fuhr mit dem Hause Wohlwend-Glawicz nach einem etwa zwei Stunden entfernten, lustig gelegenen Erholungsorte, der wegen guter Bewirtung, schöner Aussicht und schattigen Gärten berühmt und viel besucht war. Dort verbrachten sie den Nachmittag mit Kaffeetrinken und Spazierengehen, wozu die reinlichen Wege eines nahen Tannenwaldes einluden. Dann und wann führte Salander die im grünen Halbdunkel weiß leuchtende Gestalt der Myrrha daher, und wenn sie allein ging, sah er sie, von einzelnen Sonnenlichtern gestreift, mit einer angeborenen Anmut sich bewegen, die ihr zu Gebote stand, sobald sie der angelernten Manieren einer mangelhaften Erziehung sich entledigen konnte.

Ein bekannter Künstler, dem Salander in einem solchen Augenblicke begegnete, stand bei ihm still, der schönen Person nachschauend, und fragte, was er da für eine Muse aufgegabelt habe.

»Nicht wahr, das ist ein hübsches Frauenzimmer?« sagte er mit angenommenem Gleichmut.

»Das will ich meinen! Das sieht man nicht alle Tage! Sapperlot, sehen Sie, welch ein einfacher Rhythmus, ohne allen Aufwand, man weiß kaum, wo es steckt, Form und Bewegung in eines gegossen! Wie edel das fließt, vom Nacken über Schultern und Arme auf den Rücken und von den Hüften herunter! Wo stammt die Dame her?«

»Sie kommt mit einer Familie aus Ungarn, ihre Mutter soll aber irgend von altem Griechenboden, aus Thessalien herstammen.«

»Ganz glaublich! Und auch in diesem Falle noch eine Rarität! Viel Vergnügen, Herr Salander!«

Die Worte des Künstlers und Kenners bewirkten eine seltsame Aufregung im innern und äußern Martin; sie machten sein Herz klopfen und seine Augen glänzen, während sie zugleich seine Schritte lähmten, daß er sich auf eine im Gehölze befindliche Bank niederlassen mußte.

Welch eine Bestätigung seines Schönheitsgefühles! Wie wurde sein dunkler Trieb aufgehellt, noch eine Strecke Weges im Strahle echter Schönheit zu wandeln, und er ahnte nicht, wie echt pedantisch es war, durch Aussagen eines andern, eines Kenners, sich bestärken zu lassen.

Er nahm sich aber zusammen, von Stimmen nahender Leute geweckt; es waren die Wohlwendschen, die ihn aufsuchten. Mit verändertem Wesen, wie einer, der einen Geist gesehen hat, voll inneren Staunens über den Reichtum des Lebens und zugleich in ernster Zurückhaltung befangen, schritt er mit ihnen nach dem Garten zurück, wo eine Abendkollation bestellt war. Dort verharrte er, wenig sprechend, an Myrrhas Seite, die er ungesucht gefunden, und überließ ihrem Schwager das Wort, der den Frauen und Knaben allerlei Unterricht erteilte und zuweilen unversehens den Freund Salander mit einem »Ist's nicht so?« überraschte und ihn dabei aufmerksam betrachtete.

Unterdes sammelten sich noch andere Gäste, die zu Pferde oder im Wagen ankehrten und den schönen Abend noch rasch genießen wollten, darunter Leute, die dem Herrn Wohlwend nicht gefielen, weil es wahrscheinlich alte Gläubiger waren. Sie erkannten ihn zwar nicht, und wenn es auch geschehen wäre, so hätte es nichts zu sagen gehabt; denn es liefen manche Geschäftsleute herum, welche ein oder mehrere Male sich abgefunden, ohne deswegen belästigt zu werden. Allein es war ihm jetzt nicht angenehm, zumal er bemerkte, daß die Herren fleißig nach dem Fräulein Myrrha Glawicz zu blicken anfingen, und aus diesem gleichen Grunde war es auch Martin Salander recht, aufzubrechen. Sie ließen also einspannen und fuhren mit angehender Dämmerung ab.

Als sie die Stadt erreichten, war es Nacht. Martin brachte die Familie Wohlwend in ihre Straße und begab sich dann zu Fuß nach Hause, langsamen Schrittes, bald gesenkten Hauptes, bald nach den Gestirnen ausschauend, welche einzeln und zu zweit hie und da in der Höhe über die Gassen zogen, ebenso säumig, wie der Mann in der Tiefe. Die alte treue Magdalene, die seiner geharrt, öffnete die Haustüre, erfreut, daß der Herr kam, nachdem sie den ganzen Tag allein im Hause gewaltet.

»Habt Ihr auch ordentlich gelebt?« fragte er; »ich will wetten, es war Euch alles zuviel!«

»Mir? da kennen Sie mich schlecht, Herr Großrat! Ich habe getan, was mich gut dünkte! Mittags hab ich einen dicken Pfannkuchen und einen Salat gehabt, wie ein Fuder Heu, mit heißem Speck angemacht, Herr Großrat! und abends kochte ich eine Milchsuppe, wie meine selige Mutter sie machte, es ist lang her! mit Brot und Pfeffer drin! Dazwischen hab' ich alles Messing in der Küche geputzt und mir dazu extra einen Schoppen Wein im Keller geholt!«

»Ei, warum nicht gar!«

»Freilich, vom letztjährigen, der im Sommer gut für den Durst ist, wenn Sie ihn schon nur Purrligeiger nennen! Aber haben Sie denn auch zu Nacht gegessen, Herr Großrat? Soll ich Ihnen nicht Tee machen und etwas Kaltes dazu?«

»Gar nichts brauch' ich!«

»Nur der Sympathie wegen! Denn die Frau sitzt im Lautenspiel gewiß noch mit den Kindern zusammen und sie plaudern und tun sich gütlich! Die armen Kinder! Wie haben sie sich gebettet! Aber Jugend hat eben keine Tugend, und ich Esel mußte noch mithelfen! Glücklich, wer darüber hinaus ist, über das böse Wesen, und kein unruhiges Herz mehr hat!«

Martin Salander hörte nicht mehr und schickte die Magd zu Bett. Erst als sie aus dem Zimmer gegangen, hörte er nachträglich die Worte: »Glücklich, wer kein unruhiges Herz mehr hat,« wie man öfter in der Zerstreutheit eine Rede vernimmt, die schon verklungen ist wie ein Ruf im Felde.

Aber er achtete nicht darauf, sondern ergriff das Licht und schritt in das Schlafzimmer hinüber, wo es still war, wie in einer Gruft. Der Spiegel seiner Frau warf ihm den Schein der flackernden Kerze entgegen, welche teils von seinen starken Schritten, teils von einem leisen Luftzuge unruhig brannte. Salander stellte sich vor den Spiegel, und das Licht emporhaltend, begann er prüfend sich selbst zu beschauen; allein es beschlich ihn eine Scheu, es ward ihm zumut, als ob Marie Salander ihm mit ernsten Augen über die Schulter blickte und erblassend verschwände. Seine Aufregung verwünschend, ging er in das Besuchszimmer, wo ein großer wohlgeschliffener Spiegel hing, und stellte sich vor diesen auf.

Martin Salander war nie ein Liebhaber seines Gesichtes gewesen und bewunderte es im Spiegel so wenig als in den Bildern, welche die Sitte der Zeit ihm abrang. Er ging nun im fünfundfünfzigsten Lebensjahre; zwar nicht älter erscheinend als die meisten seiner Altersgenossen, die sich leidlich erhalten, sah er doch keineswegs so jung aus wie einer jener Glücklichen, die immer Zweiundvierziger bleiben; das noch volle und sogar buschige Haar, sonst blond, war so bezuckert wie ein Ährenfeld, auf das der späte Reif gefallen ist, ebenso der krause Bart, der überdies mehr als eine sehnige Furche an Hals und Unterkiefer verhüllen mochte, aus dem zu schließen, was im oberen Gesichte in milderen Farben zutage trat. Die geistige Jugend und gemütliche Rüstigkeit, die trotzdem dasselbe Gesicht und dessen Augen belebten, konnte er selber nicht verstehen und anrechnen, und so fand er sich von dem nächtlichen Spiegelbild weder erbaut noch aufgemuntert.

»Sei es!« sagte er, indem er rasch den Leuchter wegstellte und sich in einen der Lehnstühle warf, »ich hab' das ja wissen können, und daß ich Alter ein Gesell bin, gehört ja gerade zu der Frage, die mich bewegt! Noch muß ich wirken und schaffen, und noch brauch' ich einen Mund voll Frühlingsluft, welche das Herz erneuert! – Die gute Marie! von Untreue im banalen Sinn ist ja nicht die Rede! Bessere Leute als ich haben ihre Jahre mit der Frauenfreundschaft, Neigung, nenne man es Liebe, verschönt und erweitert; und hat sie nicht im voraus schon gelacht, und wie lieblich gelacht, als ich zum erstenmal von der schönen Myrrha erzählte? Die Myrrha! Wird sie mich dulden können? fühlen können und wollen, was sie mir zu sein vermag? Hier ist ein Schicksal im Spiele, das so oder so vorübergehen wird! Es vernünftig zu lenken, ist meine Sache, es wird bald getan sein, wenn es nicht ist, was ich wünsche – und wenn es ist, so soll der Pfad eben und sonnig bleiben und niemand straucheln!«

Er verlor sich in süßen Träumen vom Genusse einer jugendlichen Neigung des seltenen Geschöpfes und von einem Verkehre, der ein erfreuliches Schauspiel für die Menschen darbieten würde, weit entfernt, Ärgernis zu erregen; und in unbestimmter Zukunft sah er Myrrhas Leben, befreit von den unheimlichen Banden, in denen er jetzt gefangen war, wohlgeordnet dahinfließen an der Hand eines ihrer würdigen Mannes.

Nicht einen Augenblick fielen ihm seine unglücklichen Töchter ein, deren Liebesphantasie er so klar, wenn auch menschlich zu beurteilen wußte, noch weniger der Unterschied zwischen ihrem und seinem Alter und noch weniger derjenige zwischen ihrer damaligen Lage und der seinigen. Und noch weniger ahnte er, wie klar jetzt zutage trat, daß die guten Mädchen die Eigenschaft, solchen »fixen Ideen« anheimzufallen, von niemand anderem als von ihrem Vater ererbt hatten, und welch tragikomischen Anblick es bot, den armen Mann die Tatsache so sehr nachträglich nach rückwärts hin illustrieren zu sehen!

Und weiter bedachte er keineswegs, wie solch ideales Liebesverhältnis eines weisen älteren Mannes als Hauptsache ein mit ungewöhnlichem Geiste begabtes weibliches Wesen voraussetzt, während er von Myrrhas innern Zuständen noch gar keinen Begriff hatte oder dieselben zusammenphantasierte. Und das war wieder um so bedenklicher, als es darauf hinauslief, es walte auch hierin eine Selbsttäuschung vor und die schöne Neigung beruhe lediglich auf einem sinnlichen Anreiz.

Alles das war dem guten Martin Salander in seiner jetzigen Seelenlage unbewußt, aber darum nichtsdestominder vorhanden in ihm, wie außer ihm, und drückte die Seele, wie wenn er an alles dächte; denn sie war doch immer daheim, wie eine gut gewöhnte Hausfrau. Er fiel daher, als er um Mitternacht endlich das Lager suchte, in einen unerquicklichen Schlaf, in welchem die Seele unwirsch herumfuhr wie ein Poltergeist.

Dann erwachte er am Morgen mit schwerem Herzen, und als er den Druck verspürte und ihm ein tiefer Seufzer entfuhr, sagte er: »Aha, da haben wir's! Eine Leidenschaft! Eine Leidenschaft! Ach du lieber Gott! Wie hat das noch an mich kommen müssen!«

Und so hielt er den Rumor des alten Gewissens für den Anbruch eines späten Liebesfrühlings und litt Liebesschmerzen, wie ein junger Mensch, doch mit dem Kummer eines bejahrten Vaters, der sich voll Sorgen für die Seinen niederlegt und mit Seufzen den Tag erwachen sieht.

Dazu ward er in kurzer Zeit mit Verwunderung inne, wie jung er sich vor diesem unglückseligen Abenteuer gefühlt, und wie er jetzt täglich an seine Jahre denken müsse, während er noch nie so nötig hatte, sie zu vergessen, und zwar nicht allein wegen der unbequemen Leidenschaft, sondern auch wegen des allgemeinen Weltlaufes.

Der Sommer wurde mit jeder Stunde geräuschvoller, sozusagen üppiger durch eine ungeheure Zahl größerer und kleinerer Feste, Anlässe, Gesamtreisen, Vereinsausflüge und Begehungen aller Art bis in den Herbst hinein in allen Himmelsrichtungen; es war, als ob das ganze Volk wanderte, unter allen Vorwänden, Dorfschaften und städtische Nachbarschaften, Häuflein von Greisen, welche fünfzig, sechzig, siebzig Jahre alt geworden, und Hunderte von Kinderschulen mit flatternden Fähnchen, von denen zuweilen eine an der Sonne lagerte, bis die Vorsteher aus dem berühmten Bierhause kamen, in das sie geschwind untergetreten. Ein unkundiger Fremder hätte fragen können, wer eigentlich in diesem Lande im Sommer arbeite, außer etwa den Wirtsleuten, weil er nicht bedachte, daß ihrer noch genug da waren, die zu Hause blieben und etwas schafften, und daß auch von denen, die wanderten, manche vor und nach genug taten, um sich die Freude gönnen zu dürfen, wie denn auch immer neue Züge sich auf den Wegen kreuzten und bald wieder verschwanden.

Wenn man jedoch sich der Klagen der schlechte Zeiten und stetig wachsende Volksnot erinnerte, so begriff auch der Einheimische nicht recht, wo sie alle das Geld hernahmen, das sie verjubelten. Scharen katholischer Wallfahrer, die zwischen den weltlichen Lustfahrern sich bewegten, konnten ihn aber belehren, daß früher noch mehr im Volke gewandert und geschmaust wurde, und das gerade in Zeiten der Bedrängnis.

Martin Salander hatte zu besagter Fest- und Wanderfreude sonst redlich das Seinige beigetragen überall, wo irgendeine patriotische, volkserzieherische und fortschrittliche Idee hineingelegt werden konnte; dann begann der wachsende Strom ihn stutzig zu machen, und er mahnte zum Maßhalten. Jetzt, wo das Übermaß im Lande rauschte, wendete sich sein Sinn wieder. Er wollte nicht auf der Seite des griesgrämigen Alters stehen und, gestachelt von dem verliebten Jugendbedürfnis, begab er sich selbst in das Gedränge und war da oder dort hinter den wallenden Fahnen zu erblicken, mit einem Festzeichen im Knopfloch, seidener Armbinde oder mindestens mit einer Alpenrose auf dem Hut. Dergestalt glaubte er das Blühen des Vaterlandes in neuer Jugend zu genießen und räumte an den Festtafeln in Gedanken der Bringerin derselben einen Ehrenplatz neben sich ein, unbeschadet des täglichen Seufzers, mit dem er sich schlafen legte.

»Es ist doch ein wahres Wort,« sagte er einst bei sich selber, »wenigstens für die ideale Liebe, jenes geflügelte: l'amour est le vrai recommenceur! Sie macht mir sogar die alte Republik wieder hüpfen wie ein Zicklein!«

Die Abendsonne, welche eben unter die betreffende Festhalle hereinschien, spiegelte an der vergoldeten Innenwand eines großen Ehrenpokales, der vor ihm stand, mit rotem Weine frisch versehen, und der Goldschein leuchtete mit unbeschreiblichem Zauber in die durchsichtige Purpurflut.

Martin heftete seine Augen auf das funkelnde Farbenbild, das, urplötzlich aus offenem Himmel gekommen, seine Gedanken zu besiegeln schien wie ein flammendes Siegelwachs. Ein rötlicher Schimmer aus dem Becher spazierte sogar über sein begeistertes Gesicht, was eine ihm gegenübersitzende anmutige Frau wahrnahm und es ihm sagte mit der Mahnung, er solle sich still halten, denn er sähe jetzt hübsch aus. Geschmeichelt hielt er ein Weilchen das Gesicht unbeweglich still, bis auf demselben der Abglanz zu flimmern begann, gleich dem Wein in dem Pokale. Denn es lief eine schwache Erschütterung durch den langen schmalen Tisch herauf, welche auch den Inhalt des Bechers bewegte.

Die Erschütterung rührte aber davon her, daß ein Festgenosse von zwei bürgerlich gekleideten Polizeibeamten unversehens aufgefordert wurde, sich zu erheben und mit ihnen hinauszugehen, und sich dessen weigerte, so daß der leicht gezimmerte Tisch einen Stoß empfing, als sie Hand an den Mann legten und ihn zum Aufstehen zwangen. Erbleichend fügte er sich und folgte ihnen, nicht ohne mit niedergeschlagenen Blicken verschiedene Dekorationen, bestehend in Rosetten, Schleifen und silbernen oder vergoldeten Emblemen, vom schwarzen Kleide zu nehmen, eins nach dem andern, so unbemerkt als möglich. Er war nämlich nicht nur mit dem allgemeinen Festzeichen des Tages, sondern, da er im Verlaufe desselben mehrere Freundschaften geschlossen, mit den ausgetauschten besondern Vereinsorden geschmückt.

Nur wenige wurden auf den Vorgang aufmerksam; so auch Salander, an welchem der Mann mit seinen Begleitern vorbei mußte, und jener schauderte, als er wohl sah, wie der Unglückliche die Ehrenzeichen der Freude ablöste und verstohlen in die Tasche zu bringen suchte. Es dünkte ihn nicht weniger schrecklich, als wenn einem hohen Offizier vor der Regimentsfront Degen und Ehrenzeichen abgenommen werden.

Erst als der Mann verschwunden war, verbreitete sich an den Tischen das Gerücht von der Ursache der Verhaftung. Er war ein wohlbekannter und beliebter Festbesucher und eines großen Vertrauens teilhafter Verwalter irgendeiner der florierenden Unternehmungen, stets fröhlich und aufgeräumt, wo er hinkam; nur zuweilen, in letzter Zeit, mit einem gesummten Liedertriller einen aufsteigenden Seufzer abdrehend, oder mit den Fingern auf dem Tische trommelnd oder mit langem Absetzen des Glases zerstreute Gedanken verhüllend. Solche Beobachtungen wurden nun mitgeteilt, nachdem man vernommen, daß während seiner Abwesenheit von Hause ein Wirrsal von Unterschleifen, in das er verflochten, entdeckt und gleichzeitig festgestellt worden sei, wie er bei Auswanderungsagenten sich nach Schiffsgelegenheiten erkundigt habe. In seinem Leichtsinn hatte er sich nicht versagen können, vor der Flucht noch schnell das Fest mitzumachen zur letzten schönen Erinnerung, da ja ein reinlicher Bürger auch das Unliebsame stets zu einem artigen Stammbuchverslein zu gestalten strebt.

Verstimmt verließ Salander das Fest und reiste stracks nach Münsterburg zurück. Nachdem er mit seiner Gattin das Abendbrot geteilt, nahm er eine Zeitung zur Hand, und das erste, was er las, war die Nachricht von den zutage getretenen Unterschlagungen eines Beamten im Osten der Schweiz; im gleichen Blatte stand am Schlusse als Neuestes der kurze Bericht von der Flucht eines Kassiers im Westen.

»Was ist denn das für ein Unglückstag?« rief er kopfschüttelnd und erzählte, was er soeben an dem Feste selbst mit angesehen.

»Es ist zwar nicht eidgenössisch gedacht,« sagte er; »aber ich bin doch froh, daß diese traurigen Sachen nicht in unserm Kanton vorgefallen sind!«

»Lies nur fertig!« versetzte Marie, »auf dem Beiblatte steht noch etwas Schönes!«

Da las Martin richtig, daß ein Aktuarius Schimmel in Münsterburg infolge einer Reihe von Veruntreuungen und Bestechlichkeiten, deren er verdächtig, am heutigen Tage verhaftet worden sei.

»Das fängt bei Gott an, einem an den Hals zu gehen, wie das Wasser!« sagte Salander, indem er die Zeitung wegwarf, »diesem habe ich durch meine Fürsprache zu der Stelle verholfen. Ich hab' es zwar bereut, weil er sich sofort als ein großmäuliger und unverschämter Mensch aufführte und mit seinem Patriotismus prahlte; für unehrlich hielt ich ihn jedoch nicht. Jetzt erinnere ich mich, vernommen zu haben, wie es auffalle, daß er immer an den öffentlichen Wirtstafeln speise, anstatt mit Weib und Kind zu Hause, wo es ihm zu schlecht sei! Da liegt der Lump!«

Auf diesen rauhen Windstoß blieb es den Rest der Woche hindurch still von so ärgerlichen Dingen; ein mit siebenhundert Franken verschwundener junger Mensch, der am Samstag noch vereinzelt durch die Abendzeitungen lief, wurde nicht beachtet. Desto heftiger brach das Unwetter gleich am nächsten Montag wieder los, nachdem durch die mißbräuchliche und unredliche Führung ihrer Leiter ein paar Geldgewerbe ins Schwanken geraten waren und weite Kreise in Mitleidenschaft zogen. Lag hier die Ursache in der blinden Habsucht reicher Leute, welche ihren Überfluß der scheinbar glücklichen Hand solcher moralischen Tolpatsche zum Spielball überließen, so brauste am Dienstag ein Konsortium abgeschiedener Seelen durch die Luft, welche als arme Erwerbsbeflissene aus den Kassen ihrer Vorgesetzten ein gut geregeltes Börsenspiel unterhalten. Am Mittwoch ritt auf der Unheilswolke ein alter Seckelmeister daher, der die Aufsichtsmänner alljährlich den gleichen Haufen zersägter und als Geldrollen verpackter Besenstiele überzählen ließ. Am Donnerstag kam ein Aktienchef, der wöchentlich eine kleine Mappe auf den grünen Tisch und die Faust darauf legte mit den Worten: »Meine Herren, hier ist meine Ehre und jeder wünschbare Nachweis!« Die Beisitzer flatterten als angeschossene Enten hinten drein, weil nie einer gewagt hatte, das Mäppchen unter der Faust wegzuziehen oder auch nur ein »Erlauben Sie!« zu sagen, denn sie waren abergläubisch, und er streckte aus der Faust zwei Finger weit gespreizt hervor, so oft einer Miene machte; sie glaubten, er könne hexen. Als er spurlos verschwand, blieb das Mäppchen auf dem Tisch zurück; es enthielt nichts als eine hohe Säule von benannten Zahlen, welche der Reihe nach durchstrichen waren, mit schwarzer, blauer, roter Tinte, mit Blei- und Silberstift, je nach der Tageszeit und dem Orte des Unterganges. Am Freitag kam ein Gemeindefaktotum, das den Ertrag eines schönen Lärchenwaldes in die Lotterien aller Länder gesandt bis auf ein weniges, das er versoffen hatte. Am Samstag ertränkte sich ein Vormund über sieben reiche Waisen, die nun arm geworden. Am Sonntag war wieder Ruhetag.

Aber am Montag hob der Tanz von neuem an, und so ging er viele Wochen fort, daß man die Mägde auf den Gassen, wenn sie des Morgens die Zeitungen holten und lasen, und die Männer beim Frühschoppen rufen hörte: »Sie haben wieder einen! Wieder einen!«

Durch das erwachte und wachsende Mißtrauen hervorgerufen, vermehrte sich der Untersuch und trieb namentlich ein kleines Heer mittlerer und kleiner Beamten ans Licht, welchen allen es unmöglich gewesen, anvertrautes Gut in Verwahrung zu halten, ohne sich daran zu vergreifen. Und die schlimme Krankheit durchzog das ganze Land, ohne Ansehen der Konfessionen oder der Sprachgrenzen. Nur etwa im Gebirge, wo die Sitten einfacher geblieben und das bare Geld oder Geldwert seltener, war nicht viel davon zu hören.

Unaufhörlich erstaunte und grübelte Martin Salander von neuem und sann der Möglichkeit der traurigen Tatsache nach, daß die Übel der Zeit nicht an den Grenzen der Republik stehenblieben, deren geistigen und sittlichen Ausbau er so getreulich betreiben half. Das war jedoch etwas anderes als jene materiellen Verkehrsfragen, wegen deren er einst den Leuten die Wahrheit sagte.

Sein Herz wurde aufrichtig bekümmert, was ihm insofern zustatten kam, als er jetzt, wenn er sich schlafen legte, unter diesem Gemütsdrucke hervor einen Seufzer tat und der Frau den Grund sagen durfte, wenn sie danach fragte. Die »schöne Leidenschaft« drückte im geheimen freilich mit; doch wagte sie sich einstweilen nicht weiter hervor.


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