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Im Salanderschen Haushalt schien der gute Hausgeist der Unbefangenheit irgendwo krank zu liegen In Erwartung eines schweren Tages hatten Setti und Netti, die in jener Unglücksnacht nicht geschlafen, einander gelobt, dem Gerichte der tiefverletzten Mutter mit kindlicher Bescheidenheit, aber auch mit wandelloser Treue dem erwählten Geschicke standzuhalten.
Als sie am Morgen in der Familienstube erschienen, sagte niemand ein Wort, und auch als der Vater fortgegangen und sie mit der Mutter allein waren, schwieg diese beharrlich von der Sache, gab auch nicht den geringsten Anlaß, den die Töchter zu einer Beichte hätten ergreifen können. So ging es den Tag hindurch, den folgenden Tag und alle anderen Tage. Die Mutter begrub ersichtlich für sich das Unheil in die Nacht des Schweigens, um es so zu vernichten, im Glauben, daß es gelingen müsse. Der Vater tat auch, als ob er es rein vergessen hätte, und nur die Magdalene flüsterte ihnen einmal zu, sie dürfe nicht davon sprechen, wenn sie nicht fortgeschickt werden wolle.
Arnold schrieb wie gewohnt nach Hause, bald an die Eltern, bald an die Schwestern. Die Briefe an Vater und Mutter wurden offen herumgeboten, kein Wort verriet darin, daß er etwas von dem Kummer der Mutter wußte, und was er an die Schwestern schrieb, war ebenso ahnungslos und brüderlich ungeniert wie von jeher.
Wenn sie ausgingen, so bemerkten sie nicht die kleinsten Zeichen einer Überwachung; man fragte gar nicht, wo sie hin wollten, und noch weniger sah ihnen jemand nach. Kehrten sie zurück, so kümmerte sich niemand darum, wo sie gewesen seien, wenn sie es nicht selbst sagten.
So wußten diese stattlichen Hochjungfrauen nicht, woran sie waren, und gingen wie Schatten in ihrem durchsichtigen Doppelgeheimnis herum. Sie fühlten sich um so unbehaglicher, je mehr ein ruhiges Einvernehmen sich herzustellen, eine versöhnliche Ausgleichung in alter Gewohnheit neu zu befestigen begann; denn die Mutter sah bei alledem so aus, wie wenn ein einziges Wort die Finsternis wieder verbreiten könnte. Eines Mittags saß Salander mit den Töchtern allein bei Tisch, weil Frau Marie verreist war, dem Leichenbegängnis einer auf dem Lande verstorbenen Verwandten beizuwohnen. Salander zog einige Privatbriefe aus der Tasche, die er vom Bureau mitgebracht, und beschaute sie näher.
»Da ist auch einer von Arnold,« sagte er, »was schreibt er?« und legte den geöffneten Brief auf den Tisch. Setti nahm das Papier und las. Arnold berichtete, daß er leidlich doktoriert habe, so und soviel Geld draufgegangen sei und daß er nun von der Erlaubnis Gebrauch zu machen gesonnen sei, über London und Paris heimzureisen und dazu ein Jahr zu verwenden.
»Das ist mir recht wegen der Sprachen, in denen er noch zurück ist,« sagte der ehemalige Sekundarlehrer, »für das andere gebe ich ihm nicht so viel. Wenn er von England spricht, wird er Dschury sagen, und Schüri, wenn er von Paris erzählt, mehr kann er in einem halben Jahre kaum erschnappen, was die Rechte betrifft!«
Inzwischen hatte Setti den Brief hingelegt, ohne ihn fertig zu lesen, und hielt das Taschentuch vor die Augen. Gleich darauf auch Netti, die den Brief aufgenommen und ebenfalls hineingeblickt.
»Was gibt es denn? Was habt ihr?« fragte der Vater betroffen, »warum lest ihr nicht zu Ende?«
Er nahm den Brief an sich, suchte den abgebrochenen Schluß und las laut: »Nun grüße ich auch treulichst das holde Geschwisterpaar! Der Kürze halber habe ich, um mir den teuren Zwiebegriff schneller vor die Seele zu führen, die Namen Setti und Netti zusammengezogen und denke nur ›Snetti!‹, so stehen sie vor mir. Aber wie steht es denn mit ihnen? Ist noch keine Verlobung in der Luft? Sie sind nachgerade keine Hasenbraten mehr! Mir kann es recht sein, wenn ich sie noch hübsch zu Hause treffe; denn bei so wählerischen Stiftsdamen weiß der Kuckuck, was sie einem für Schwäger aussuchen!«
»Ja so!« brummte der Vater gutmütig, »hätt' ich gewußt, was da steht, so blieb der Brief in der Tasche. Aber tut die Augentröckner weg und eßt eure Suppe.«
Seine Art zu reden tröstete die Mädchen ein bißchen; es war doch das Freundlichste, was sie in der ganzen Zeit gehört, und sie aßen mit dem Vater zu Ende.
Als die Magd nichts mehr im Zimmer zu tun hatte und Martin seinen Wein gemächlich austrank, während die Frauenzimmer nach bestehender Sitte des Hauses noch so lange ihre Plätze behielten, nahm er in gemütlichem Tone wieder das Wort.
»Da das leidige Verhältnis, das uns alle behext, durch Arnolds arglosen Scherz einmal berührt worden ist, so wollen wir vernünftig ein bißchen weiter davon reden! Ihr haltet euch sehr achtungswert; wir glauben, die Mutter und ich, daß ihr den Umgang mit den jungen Leuten wirklich meidet; hinwieder wissen wir nicht, woran wir mit der Zukunft sind und ob ihr selbst etwas mehr im klaren seid? Vielleicht, dachten wir, finden sie sich doch allmählich zurecht und sich selbst wieder, und zwar ohne die zwei seltsamen Beisterne! Da kommt neulich der Laufknabe von der Post und erzählt, er habe auch die Fräuleins am Schalter gesehen. Haben sie Briefe hingebracht? frag' ich, und er sagt: ›Nein, sie haben Briefe geholt, die für sie dort lagen.‹ Gut, ich weiß schon, was es ist, gab ich zur Antwort. Verkehrt ihr also poste restante mit ihnen?«
»Ja!« entgegneten die Töchter beide zugleich.
»Und in welchem Sinne? Der hoffenden Zuversicht oder der entsagenden Freundschaft? Ihr seht, daß ich mich in dem Sprachgeiste auszudrücken weiß, der in der bewußten Korrespondenz walten wird!«
»Unsere Freunde entsagen nicht, solange sie zweier Herzen sicher sind, die es nicht von ihnen verlangen!«
Dies sagte Nettchen, und Setti fügte hinzu: »Wie wollten wir freilich die Hoffnung aufgeben, der geliebten Personen verlustig gehen und dagegen für das ganze Leben erst recht eine spottende Nachrede eintauschen?«
»Gut getrumpft!« sagte der Vater, mit innerer Trauer der Gattin gedenkend, die mit ebenso fest eingewurzeltem Gegensinne in derselben Stunde in einem fernen Trauerhause am Tische sitzen und vom Leichenmahle genießen mochte.
»Liebe Kinder!« fuhr er nach einem kurzen Schweigen fort, »wie lang' wollt ihr denn eigentlich auf das vermeintliche Glück warten? Wenn ich nur das wüßte! Ja, wenn ihr zwanzig Jahre alt wäret, wie die Liebhaber, dafür diese von eurem Alter, das ließe sich hören!«
»Immer das gleiche!« riefen die Töchter durcheinander, »habt doch Geduld, in wenig Jahren werden wir mit ihnen gleich alt scheinen, sie so alt wie wir und wir so jung wie sie, wenn wir nur erst verbunden sind! Sie werden Männer sein! Übrigens bekommen sie schneller die ihnen gebührende Stellung, als manche glauben, und dann hat das Elend ein Ende!«
»Trumpf!« rief der Vater lachend, aber voll Verwunderung über die Reden der Töchter; »das tönt ja alles wie im heroischen Zeitalter, wo Männer und Frauen ewig jung blieben! Wir wollen es abwarten, und mögt ihr nicht eine Zeit erleben, wenn es nach eurem Willen geht, wo ihr wirklich heroischer Kräfte bedürftet! Jetzt wollen wir die Sitzung aufheben. Heute abend muß ich in eine Versammlung wegen der kommenden Wahlen gehen und kann nicht wegbleiben. Da wäre es artig von euch, wenn ihr statt meiner euch auf den Bahnhof begeben und die Mutter abholen wolltet. Ich weiß, es tut ihr gut, wenn sie euch unerwartet dort trifft!«
Die Töchter versprachen, es zu tun, und erröteten leise aus geheimer Freude über den erhaltenen Auftrag.
Martin Salander ging in sein Geschäft, arbeitete ein paar Stunden darin und dann noch eine gute Zeit in der Wahlsache, indem er Briefe und andere Papiere durchging und dies oder jenes anmerkte. Es handelte sich um die Ermittelung einer Vorschlagsliste für die Kreiswahlen in den Großen Rat des Standes Münsterburg, die Durchmusterung der bisherigen Inhaber der Stellen, den Ersatz abgehender, den Eintritt neuer Mitglieder. Salander freute sich immer noch seiner Unabhängigkeit von allen Wahlverlegenheiten in Ansehung seiner eigenen Person, indem er trotz seiner oft in Anspruch genommenen Dienste und mehrfachen Zumutens dem förmlichen Amts- und Titelwesen ferngeblieben.
Jetzt wollte es ihm aber heimlich bedünken, daß er, wie so mancher andere auch, vieles doch am besten in dem gesetzgebenden Rate vertreten und sagen könnte, als am entscheidenden Orte; denn was half es ihm, wenn er in freien Vereinen und Zusammenkünften eine Meinung durchsetzte gegen irgendeinen Gegner, der dann in der Behörde saß und dort allein das Wort hatte.
Er brachte aber nicht über sich, was doch gang und gäbe ist, sich selbst vorzuschlagen, das heißt vertraulich den andern Führern zu eröffnen, daß er Lust verspüre, gewählt zu werden; und um nicht den Anschein davon zu gewinnen, nahm er ausdrücklich an der Leitung der heutigen Zusammenkunft teil, während diejenigen wegblieben, die genannt zu werden wünschten oder wußten, daß es geschah. Freilich nicht alle; denn einige wiederum erschienen freimütig und setzten sich breit hin.
Im Saale zu den Vier Winden, der den verschiedensten Parteien und Vereinen als Sammelort diente, fand Salander zwei lange Tische von dichteren Gruppen und einzelnen Bürgern ungleich besetzt, während ebenso viele Männer noch an den Wänden herumstanden und miteinander sprachen. Unter diesen trieben sich die Einberufer umher, hier und da Rücksprache nehmend oder einen der schwierigeren Kannengießer bearbeitend. Auch Salander gesellte sich zu ihnen. Er war der Haupturheber des Gedankens, in versöhnlichem Sinne beiden Hauptparteien Rechnung zu tragen; er selbst gehörte der demokratischen an, deren Macht seit einiger Zeit im Volke zu wanken begann, und so hielt er es für ebenso klug als billig, den Altliberalen wieder mehr Raum zu gönnen. Namentlich war er ein Verehrer der modernen Liebhaberei der Minderheitenvertretung geworden, der nicht nur politische Philosophen, sondern auch allerlei praktische Leute anhingen, welchen der schöne Grundsatz nächstens selbst nützlich werden konnte, nachdem sie bislang keine anders gesinnte Fliege zugelassen hatten, noch ferner zuzulassen gesonnen waren.
Da die Tische sich allmählich dichter bevölkerten, gab der Vorsitzende das Zeichen des Beginnes. Salander, durch die noch Herbeieilenden schreitend, begegnete einem jungen Manne, der ihm bekannt schien und ihn durch Hutabnehmen ehrerbietig grüßte, was er höflich erwiderte. Er mußte einen der Tische entlang gehen, um seinen Platz am Kopfende desselben unter den Anführern zu finden. Auf demselben Wege stieß er abermals auf den jungen Mann, der die gleiche Höflichkeit wiederholte und den Hut zog, diesmal mit einer Verbeugung. Der scheint seinen Hut gar nicht ablegen zu wollen, dachte er eben, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel; das waren ja die Zwillinge! Ei nun, sie zeigten doch eine wackere Teilnahme an den Landesangelegenheiten; das steht jungen Leuten gut und beweist einen ernsten Sinn! Wenn sie nichts Schlimmeres treiben, so ist es so übel nicht mit ihnen beschaffen!
Durch diese Gedanken und die Erinnerung an das mittägliche Gespräch mit den Töchtern halb zerstreut, nahm er endlich seinen Platz ein, das Schöppchen Wein bestellend, das der Ehrbarkeit halber in dieser Gegend des Saales nur ganz langsam, gleichsam unmerklich getrunken werden durfte.
Die Verhandlungen nahmen ihren Anfang mit einer politischen Rede des Vorsitzenden, der Wahl der Stimmenzähler und anderer Funktionäre, worauf der Umgang der Vorschläge eröffnet wurde. Einige gedruckte Zettel, von den bestellten Berichterstattern mündlich erläutert, lagen zugrunde, und fünf bis sechs unbestrittene Namen waren bald erledigt. Aber schon beim siebenten Namen, als der Präsident die Frage stellte, ob ein weiterer Vorschlag gemacht werden wolle, erschallte aus dem Hintergrunde eine kräftige Stimme, die rief: »Ich schlage vor Herrn Martin Salander, Kaufmann in Münsterburg!«
Und aus einer andern Ecke des Saales her rief einer ebenso laut: »Unterstützt!«
»Ah! Gut so! Schon längst verdient!« und dergleichen murmelte es an den Tischen, und jeder sah sich nach den Rufenden um.
Der Vorsitzende aber klingelte an seinem Glase, und als es still geworden, sprach er: »Ich möchte die Versammlung fragen, ob wir jetzt schon auf neue Namsungen eintreten oder vorerst die noch vorhandenen Vorschläge bereinigen wollen, die voraussichtlich rasch und mit Einmut abgetan sind!«
»Ich beharre auf meinem Antrag!« rief die erste Stimme, und das laute »Unterstützt!« aus der andern Ecke folgte unmittelbar wieder darauf. Der Präsident verkündigte: »Es ist vorgeschlagen, Herrn Martin Salander als siebentes Mitglied unseres Kreises im Großen Rate auf die Wahlliste zu nehmen! Ich bitte den Antragsteller, sich zu nennen!«
»Notariatssubstitut Isidor Weidelich!« erschallte es vom alten Orte her noch lauter, und von der Unterstützungsecke her schrie der andere Rufer, offenbar Bruder Julian: »Bravo! bravo!«
Alles sah sich wieder um.
»Was ist das für ein Weidelich? Welcher ist es? Der junge Mensch dort?« hieß es.
Der Präsident klingelte wieder und rief: »Wem es also beliebt, daß auf den Wahlvorschlag des Herrn Isidor Weidelich schon jetzt eingetreten werde, der hebe die Hand auf!«
»Auf!« schrien nun eine Anzahl junger Leute, die Hände in der Luft schwenkend, und ihnen folgte eine Hand um die andere etwas zögernd; als es aufhörte, ersuchte der Vorsitzende, die Stimmen zu zählen. Es ergaben sich sechsundfünfzig Hände.
»Es scheint dies die Mehrheit zu sein! Oder wird das Gegenmehr verlangt?«
Zwei oder drei erhoben die Hand, ließen sie aber wieder sinken, als sie sahen, daß sie allein blieben.
»Es ist also beschlossen, die Vorschlagswahl des Herrn Martin Salander sofort vorzunehmen. Wer dafür stimmt, daß derselbe an nächstfolgender Stelle auf die Liste gesetzt und dem Volke im Namen der gegenwärtigen Versammlung zur Wahl empfohlen werde, der beliebe die Hand zu erheben!«
Mit Ausnahme weniger Lücken, die fast nicht bemerklich waren, erhoben sich alle Hände mit einem beifälligen Geräusch, welches bewies, daß. Salanders Wahl den anwesenden Bürgern an sich als erwünscht erschien.
Der so gut wie gewählte Mann befand sich in verdrießlicher Aufregung. Den geheimen Wunsch im Herzen, den ihm wohl gebührenden Sitz im Rate endlich einzunehmen, sah er sich denselben durch das kecke und verfrühte Eingreifen der Zwillinge zugewendet und zugleich durch die unhöflichen Umständlichkeiten des Vorsitzenden das Abstimmen aufgehalten, ein Zusammentreffen, das ihm nur unwillkommen sein konnte. Erwägend, daß er die Wahlbewerbung unter solchen Umständen nicht übernehmen und die Ratsstelle namentlich nicht den Zwillingen verdanken dürfe, hatte er in der Zerstreuung den rechten Augenblick entschiedener Einsprache versäumt und war so unruhig und verlegen, daß er sein Schöppchen, das unberührt stand, in lauter kleinen Schlücken beinah ausgetrunken hatte, als der Vorsitzende das günstige Ergebnis mit einer gewissen Feierlichkeit bestätigte und im Geschäfte fortfahren wollte. Er dankte für das ehrende Zutrauen, erklärte aber, die Kandidatur aus Gründen ablehnen zu müssen, die er hier nicht auseinandersetzen könne, und bat mit sehr bestimmten Worten um Vornahme einer neuen Wahl. Jetzt erst machten sich zwei ältere Männer geltend, um ihn zur Umkehr zu bewegen. Diesen war er im Herzen wahrhaft dankbar; allein er blieb fest in seinem Entschlusse, und so nahm das Geschäft seinen weiteren Verlauf, bis es mit den üblichen Zwischenfällen und unvorhergesehenen Wendungen zu Ende geriet.
Auch der Vorsitzende, mit Salander in ähnlicher Lage geheimen Wunsches, wurde beim Aufstellen neuer Kandidaturen auf Martins Vorschlag gewählt, womit dieser seine Bürgerpflicht ruhig erfüllte, weil er jenen als einen tüchtigen Mann kannte.
Auf dem Heimwege hatte er sehr widersprechende Gefühle zu überwinden. Ein, wie er glaubte, ihm zu fernerem Wirken notwendiges Amt mußte er fahren lassen, weil er es nicht aus den Händen derjenigen empfangen durfte, die es wie aus dem Ärmel geschüttelt ihm schenkten. Was würde Frau Marie dazu gesagt haben, wenn es hieß, die Weidelichs hätten ihn öffentlich ausgerufen! Und doch, so sehr er sich über die Schlingel, wie er sie nannte, ärgerte, empfand er widerwillig einen Schimmer von Wohlwollen für sie und den mißlungenen Streich, den sie ihm gespielt. Dann schämte er sich, das erstemal, wo er nach mehrjähriger Tätigkeit auf die Schwelle des Rathauses getreten, in einen so kleinen Fallstrick geraten zu sein und sich zudem gestehen zu müssen, es gebreche ihm an der derben Rücksichtslosigkeit, welche zum rüstigen Vorgehen auf politischer Laufbahn unentbehrlich sei.
Schließlich ward er doch mit seiner Handlungsweise zufrieden, da er die Folgen, alle die weiteren Anforderungen bedachte, wenn der Pfad des amtlichen Lebens einmal beschritten war. Nein, sagte er, das Bewußtsein, von den zwei Bürschchen auf den Schild gehoben zu sein, wäre mir überall nachgelaufen, und gewiß hätten sie selbst sich sehr unbequem an meine Füße geheftet! Und was heut nicht geschieht, kann ja in glücklicherer Stunde besser geschehen!
Für sein Verhalten erntete er auch den schönsten Lohn, als er das Erlebnis der Frau erzählte und sie ihn höchlich darum belobte. Er hatte sie in zufriedener und weicher Stimmung zu Hause gefunden, weil sie das Entgegenkommen der Töchter als einen Anfang zum Bessern empfand und auslegte, deshalb auch den Abend in freundlichem Vernehmen mit ihnen verlebte, was die Mädchen hinwieder zu ihren Gunsten deuteten, als sie zu Bett gingen.
Die Urheber all dieser Gemütswirrnisse, Julian und Isidor, steckten nach der Versammlung in einem Bierhause der Stadt die Köpfe zusammen.
»Das ist uns nun schlecht gelungen mit dem verhofften Schwiegerherrn!« vermeinte der eine von ihnen.
»Was den Alten unserer teuren Schätze betrifft, so glaube ich, er rechnet uns den guten Willen an bei Gelegenheit, und übelgenommen hat er es gewiß nicht!« erwiderte der andere; »aber sonst ist unser Auftreten ja vollkommen gelungen, er wurde ja so gut wie einmütig gewählt!«
»Freilich, ja, wer hätte gedacht, daß wir zwei das erstemal schon, so wir in eine politische Versammlung gehen, einen Ratsherrn machen würden?«
»Das sag' ich auch, ein guter Anfang! Anstich, trink! Das müssen wir fortsetzen! Wenn wir mit folgendem Erfolg ferner politisieren, so wird uns das sehr fördersam sein! Mein Chef sagt, er wolle dies Jahr noch abgehen; ich muß jetzt schon fast alles machen!«
»Und meiner wird nicht mehr gewählt, sehr wahrscheinlich, wenn seine Amtsdauer abläuft.«
»Da kannst du gleich schon jetzt vorarbeiten in deinem Kreise! Trink deinen Rest!«
»Es gilt deinen Anstich! Hör einmal, was mir neulich eingefallen ist, ich wollt' es mir reiflicher überlegen!«
»Los damit!«
»Ich kalkuliere, es wäre nützlich, wenn wir zwei nicht zu der nämlichen Partei gehen würden, da könnten wir uns besser in die Hände arbeiten! Es kommt das öfter in Familien vor, daß der eine Bruder grau, der andere schwarz, der dritte rot ist, und alle stehen sich gut dabei; einer macht dem andern Freunde, indem er mit Liebe von ihm spricht und ihn empfiehlt!«
»Das leuchtet mir ein! Wahrhaftig, je deutlicher ich's denke! Du Himmelhund! Aber wie sollen wir den Kuchen teilen? Hast du eine bestimmte Vorliebe, ein Prinzip?«
»Ich? Noch nicht, das werden wir später mit der Erfahrung erwerben, wenn es unerläßlich ist! Aber für jetzt ist es mir gleichgültig, welches Lied ich pfeife; man braucht überhaupt nicht immer zu schwatzen, wenn man nicht bei der Sache ist!«
»'s kommt dir ein Quart!«
»Trink und Anstich!«
»Sieh, so denk' ich gerade! Nur einen Haken hat die Sache, den flotten oder minder flotten Klang des Namens! Jetzt sind die Demokraten oben und gelten für schneidig; die Altliberalen werden schon von ihnen Zöpfe genannt. Konservativ wäre dem Ohr genehmer, aber das Simpelvolk braucht den Ausdruck nicht!«
»Da ist etwas dran! Schon das Wort altliberal oder altfreisinnig gleicht einer Nachtmütze!«
»Und doch, auf der andern Seite fängt der Begriff Demokrat an zu brenzeln! Und ein Notar hat es hauptsächlich mit dem Kapital zu tun!«
»Jawohl, aber du vergissest, daß auch die verschuldeten Bauern, die Debitoren und Konkursiten, arme Leute aller Art, mit dem Notar zu tun haben, das muß man dir ja nicht sagen! Und diese haben bei den Notarwahlen die Mehrheit, wie anderwärts!«
»Auch wieder wahr! Hör jetzt, da Vorteil und Nachteil sich so gleichmäßig gegenüberstehen, so schlag' ich vor, die Parteien unter uns auszuwürfeln!«
»Kellnerin, den Würfelbecher!«
Als das Geräte da war, ergriff es Julian und schüttelte es.
»Wie soll es nun gelten? Ich denke, wir schließen alle Nebenparteien aus und spielen nur um die zwei Hauptlager!«
»Also Demokrat oder Altliberaler! Da reicht ein Wurf hin; wer die meisten Augen wirft, wird das, was vorher bestimmt wurde, der andere nimmt den andern Namen an.«
»So sagen wir, der Gewinnende wird Demokrat, der Verlierende Altliberaler! Soll es gelten?«
»Fest soll es gelten!«
»Trink vorher den Rest, a tempo prosit!«
»Drauf los, prosit!«
Julian schüttelte nochmals die drei Würfel und stürzte den Becher auf den Tisch. Es lagen achtzehn Augen, alle drei Sechser.
»Es ist schon fertig!« rief Isidor.
»Nein, du wirfst auch, du kannst ja ebensoviel werfen und dann stechen wir!« sagte der Bruder Julian.
Der andere warf, aber nur dreizehn Augen.
»Prosit Anstich, Herr Demokrat!« rief er, und der andere, Julian, rief: »Prosit Anstich, Herr Altliberaler, vulgo Zopfius!«