Gottfried Keller
Martin Salander
Gottfried Keller

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8

Die Söhne Weidelich fuhren fort, kräftig emporzuwachsen und leiblich zu gedeihen; sie gingen in guter Haltung einher, voll sichtlicher Zufriedenheit mit dem Aufsehen, das sie erregten, wenn sie beisammen waren. Auch an geistigen Gaben litten sie nicht eben Mangel, wohl aber an der Ausdauer, die vorgenommenen Studien zu vollenden. Als sie in die oberen Klaffen rückten und das Leben und Lernen ihnen täglich ernster und tiefsinniger wurde, war Julian der erste, der nicht mehr »wollte«. Er sprang ab und ging auf die Schreibstube eines Notars. Isidor hielt aus bis zum Schlusse, machte aber die Prüfungen zum Übergang an die Hochschule nicht mehr mit, sondern besuchte als sogenannter Zuhörer ein halbes Jahr lang einige juristische Vorlesungen und stand dann auch auf einer Notariatskanzlei unter.

Beide besaßen eine regelmäßig schöne Handschrift, wie sie der angehenden Gelehrsamkeit, die andere Bedürfnisse hat, sonst nicht eigen zu bleiben pflegt, und beide liebten gleichmäßig, sich im Malen kalligraphischer Kunststücke zu ergehen. Sie erwiesen sich als sehr brauchbar in den vorkommenden Geschäften und eigneten sich durch die tägliche Erfahrung beinahe spielend die diesem Kanzleiwesen zugrunde liegenden Kenntnisse an.

Dem Vater Weidelich wollte ein solcher Ausgang zwar nicht gefallen; er fragte, ob das die ganze Herrlichkeit sei, die man habe erreichen wollen? Die Mama hingegen war höchlich zufrieden. »Die Buben sind klüger als wir,« sagte sie, »die wissen schon, wo sie hinausmüssen! Können sie nicht alles, was man ihnen zu tun gibt? Warum sollen sie sich ihre jungen Köpfe zerbrechen wie andere Narren?«

Und weil sie nun, anstatt fernere unabsehbare Kosten zu verursachen, bereits selber etwas Geld verdienten, fand sich auch der Vater zufriedengestellt und blieb es, als im Alter von knapp zwanzig Jahren die Zwillinge von den Vorgesetzten zu ihren Amtsvertretern befördert wurden und demgemäß bereits gerichtliche Zeugnisse über ihre Wahlfähigkeit als Notare besaßen.

Um diese Zeit ungefähr ereignete es sich, daß ein seltsames Phänomen verliebter Leidenschaft mehr in der Welt war oder ruchbar wurde.

Martin Salander glaubte wahrzunehmen, daß seine zwei Töchter und deren Mutter nicht mehr in einem vertraut unbefangenen Verhältnis zueinander standen, daß die Töchter in einer geheimnisvollen Übereinstimmung zusammenhielten und lebten, die Mutter dagegen von einem tiefen Ernst, wo nicht Kummer, erfüllt schien, den sie nicht immer zu verhehlen wußte, besonders seit sie nicht mehr in ihrer Handlung beschäftigt war. Denn Salander, dessen Hauptverkehr ohne besondere Anstrengung fortwährend ordentlich blühte, vielleicht gerade weil er nicht künstelte und spekulierte, mehr von seinen bürgerlichen Liebhabereien oder Pflichtleistungen eingenommen: Salander mochte nicht länger ansehen, wie Frau Marie ohne alle Not sich als Handelsfrau plagte. Er hatte daher das Filialwesen einem tätigen jungen Kaufmann um gutes Geld überlassen und die treffliche Gattin zur Ruhe gesetzt, was sie sich ohne überflüssige Reden gefallen ließ. Den ganzen Gewinn, der ein schönes Kapital ausmachte, hatte er, ohne Widerspruch zu dulden, zu ihrem längst versicherten Frauengute geschlagen, damit sie unabhängig von ihm selbst und seinem Stern oder Unstern, und im Falle seines Todes auch unabhängig von den Kindern sein sollte in einer unsichern Zeit. Da sie also nun mit Gedanken und Sorgen, die sie drückten, nicht mehr hinter dem Kaufmannspult untertauchen konnte, lag ihr Angesicht offen vor dem Manne, und dieser fragte, was vorgehe.

Wenn die gute Frau reden mochte, so hätte sie es ja von selbst getan. Sie sah vor sich nieder, rieb sich die Hände als ob es sie frösteln würde, dann sagte sie: »Ein Ziegel ist uns auf den Kopf gefallen!«

»Ein Ziegel? Von welchem Dache denn?« fragte Martin betreten, da er aus dem Ernste der Gattin auf etwas Bedenkliches, ja Gefährliches schließen mußte.

»Ich kann es doch nicht länger für mich allein verwinden! Unsere Töchter haben eine Liebschaft!«

»Zusammen dieselbe?« fragte der Mann lächelnd, etwas erleichtert, daß es nicht auf Schrecklicheres hinauslief.

Die Frau verharrte in strengem Ernste.

»Nein, es ist eine Doppelliebschaft, kurz und gut, sie haben sich mit den Zwillingsschreibern aus dem Zeisig verlobt!«

»Die Hexen! Wie kommt denn das, wann, wie, wo denn? Da muß ich mich allerdings langsam hineinfinden! Das ist fast eine Nachricht wie ein Dachziegel, wenn es auch nicht gleich ein Loch in den Kopf macht!«

»Mir hat es den Kopf genug durchlöchert. Denke dir doch, zwei Mädchen von fünf- und sechsundzwanzig Jahren wollen zwei zwanzigjährige Zwillinge heiraten! Das ist ein ungehöriges Abenteuer, beides, das Alter und die Zwillinge! Wären es alte Weiber, die sich junge Männer nehmen, so kommt das ja oft vor, man lacht, und damit ist's gut! Aber Mädchen, in der Blüte ihrer Jahre und doch an der Grenze ihrer Jugend stehend, eine solche Wahl treffen, flaumbärtige Gecklein, zwei Schwestern zwei Zwillinge!«

»Nun, es ist schon eine Art Roman und auch mir nicht just angenehm; allein die Liebe macht ja stets fort solche Streiche; sagt man nicht hundertmal, was man erlebe, sei oft krasser als alles, was man erfinde?«

»Ja, ja! Es ist dann auch meistens danach, ich danke dafür! Ach, liebster Mann, wir haben gewiß gefehlt, daß wir die Kinder nirgends in die Welt geschickt haben und auch nichts erlernen ließen, was einem Berufe ähnlich war! Du sagtest, wer Töchter im Hause zu behalten vermöge, der solle es tun, und von Pensionen wolltest du nichts wissen, noch weniger von Berufssachen. Das nanntest du den Ärmeren das Brot vor dem Munde wegnehmen und eine Hungerschluckerei, wo es sich nicht um bestimmte Talente handle, die zu pflegen seien. Du schwärmtest für die freien Töchter des Hauses und für die freien Hausfrauen, welche nicht der Dienstbarkeit zu verfallen brauchen, und ich stimmte dir bei, weil ich selbst von unserm Glück betört war, obgleich ich wußte, wie gut es mir gekommen wäre, wenn ich einstmals einen Beruf gelernt hätte! Du mußt das nicht übelnehmen, es soll nicht der leiseste Vorwurf sein!«

»Ich versteh' es auch nicht so, mein liebes Weib, weil ich genau weiß, wie gut du dich durch die Welt schlägst! Daß sie dir auf der Kreuzhalde die Bäume weggeschlagen haben, war nicht deine oder meine Schuld!«

»Lassen wir das; ich will nur sagen, hätten die Mädchen nicht über eine so vollkommene Muße und Freiheit verfügt, so hätten sie schwerlich das widerwärtige Abenteuer zusammen ausspintisiert! Jetzt, was sollen wir mit dem Zwillingsgemüse anfangen? Und die aufgeblasene Waschfrau obendrein!«

»Ei, was die betrifft, so ist es gewiß eine rohe Muschel; aber auch sie birgt die Perle der Muttertreue! Doch mit alledem erfahre ich nicht, was eigentlich vorgeht. Haben sie sich dir offenbart?«

»Gott bewahre, sie sind ja volljährig. Sie würden die Eltern allerdings zur gutfindenden Zeit begrüßt haben; auch wäre, wie ich sicher glaube, keines der Kinder für sich allein so verschlagen, so rücksichtslos gegen uns gewesen, aber das verwünschte Doppelgespann hat die traurige Geschichte zu einer verschworenen Heimlichkeit gemacht –«

»Liebe Marie,« unterbrach Martin, »wir wollen die Frage der Zulässigkeit einstweilen ruhen lassen! Du kannst doch nicht im Ernste behaupten, daß Zwillinge sich nicht verehelichen dürfen, und ebensowenig, daß es zwei Schwestern, denen sie gefallen, verboten sei, sie zu nehmen.«

»Das behaupte ich alles nicht, ich sage nur, daß es mir in unserem Falle nicht gefällt, nicht konveniert, mich bekümmert, weil es eine ungesunde Laune ist! Denke dir, wie ein paar unreife Knaben unsere erwachsenen Töchter aufs Korn gefaßt und sie förmlich erobert haben, während die törichten Mädchen im Besitze des schönen Geheimnisses die besten Anlässe verschmähten, zu Männern zu kommen! Und wir freuten uns bald ihrer Zurückgezogenheit, wenn sie wie Nonnen hausten und in dunklen Kleidern, verschleiert, einhergingen, bald bedauerten wir, daß sie das junge Leben nicht froher genießen wollten! Freilich, sie haben es auf ihre Weise genossen – du mußt wissen daß die jungen Leutchen Zusammenkünfte halten, wenn es ihnen beliebt; Mondscheinnächte, Sonnenaufgänge im Sommer, lange Spaziergänge im Frühling, im Winter die Eisbahn – unsere alte Magd hat mir alles hinterbracht, nachdem sie jahrelang geschwiegen. Und warum? Weil sie sich mit der Weidelichsfrau auf dem Markte gezankt hat, die ihr schon von obenherab aufspielen wollte. Sie klatschte nämlich, unsere Töchter seien jedenfalls eine halbe Million wert, das Stück, das höre man allenthalben sagen! Diese Schwätzerei und Vertraulichkeit wollte sich die Magdalena doch nicht gefallen lassen, sie gab eine ablehnende Antwort, sie forsche nicht nach, was die Herrschaft besäße und dergleichen, worauf die andere entgegnete, da möge sie als Dienstbote recht haben, sie, die Frau Weidelich, sei eben im Falle, sich eher darum zu kümmern, was diese oder jene Leute für Vermögen hätten. Sie solle nicht zu neugierig sein, sagte wiederum unsere Magd, noch sei nicht aller Tage Abend. Wenn eine Waschfrau aus dem Kalten waschen wolle, so möge sie immerhin zwei Zuber in den Regen hinausstellen, das gebe ein schönes Wasser zum Reinspülen; wenn sie aber eine Million auffangen wolle, so genüge es nicht immer, zwei Zwillinge auf die Welt zu stellen und auf die Suche zu schicken! Worauf sie sich ausschalten, bis es hinreichte und die Magdalene ganz erhitzt nach Hause gelaufen kam und mir alles hinterbrachte und beichtete. Als ich ihr natürlich die Leviten las und sie fortzuschicken drohte, weil sie uns so schmählich und fortgesetzt hintergangen, redete sie sich damit aus, daß die Kinder ihr heilig versprochen hätten, bei erster Gelegenheit die Sache den Eltern selbst zu entdecken, womit sie ja ganz aus dem Spiele käme. Ich habe aber aus dem Zanke auf dem Markte erfahren und bin überzeugt, daß die Mutter der Zwillinge die Urheberin und das Triebrad des ganzen Elendes ist. Geschwiegen habe ich bis jetzt, weil ich mich schämte, mich von den eigenen Kindern so beiseitegesetzt zu sehen!«

»Du hast da wohl recht, arme Marie,« versetzte der Mann mit trüber Miene, »nur teile ich dies Schicksal mit dir. Aber doch möchte ich sagen, es sei nicht die Gesinnung oder übler Charakter, was die Mädchen zu ihrem kuriosen Wandel getrieben, sondern das Bewußtsein des Auffälligen und Untunlichen des ganzen Verlaufes, den ihr dummer Liebeshandel genommen hat. Eh' ich sie nun zur Rede stelle, wünschte ich nur zu wissen, welcher Art eigentlich der intime Verkehr des artigen Quartetts ist; ich möchte mich nicht im Tone vergreifen, du wirft mich verstehen?«

»Die Magdalene hat mir geschworen, daß es in aller ehrbaren Sitte zugehe. Sie sähen sich höchstens des Monats einmal, und die Mädchen hielten die jungen Menschen streng in den Schranken eines sogar pedantischen Verkehrs. Wenn man nicht wie ein Sperber aufpasse, so merke man kaum, daß zwei Liebespaare zusammen seien. Die willfährige Person hat die Kinder nämlich schon mehrmals auf nächtlichen Ausgängen begleitet und bewacht, während wir ahnungslos schliefen.«

»Ich muß einer solchen Zusammenkunft unbemerkt beiwohnen und glaube, das beste wäre, alsdann je nach den Umständen mitten unter das Völkchen zu treten und die Sache zum Austrag zu bringen, jedenfalls die Burschen nach Hause zu schicken und die Mädchen gleich mit heimzunehmen.«

»Wenn es damit getan ist!« sagte Frau Salander; »es ist mir aber jedenfalls lieb, wenn du die Sache nun rasch an die Hand nimmst und zum Rechten siehst. Ich bin dem Handel nicht gewachsen; es beklemmt mir die Brust, mit Töchtern, die keine Kinder mehr sind, von Dingen zu sprechen, die nicht sein sollten. Wenn nur unser Arnold hier wäre, so wüßte ich schon, was ich hätte!«

»Nun, was denn?«

»Er müßte mir als ein flotter Student, der er ist, die Schreiberlein verjagen und seinen Schwestern die tollen Ideen austreiben!«

»Ach, du gute Frau, da bist du nicht auf dem rechten Wege! Tolle Ideen sind leider ein zäheres Herz als die heißeste Leidenschaft. Übrigens kommt er ja nicht mehr als Student, sondern als Doctor juris zurück, und ich fürchte, er würde nicht mehr die frühere Laune dazu haben.«

Die Gelegenheit, einer Schäferstunde der verratenen Liebesleute beizuwohnen, ergab sich nach wenigen Tagen. Martin Salander hatte vor einiger Zeit die Töchter genötigt, aus ihrer nonnenhaften Haltung herauszutreten und sich in einen Gesangchor aufnehmen zu lassen, welcher jeweilig größere Tonwerke einübte und in Verbindung mit einem zahlreichen Orchester in einer der Stadtkirchen hören ließ. Sie hatten gute Stimmen und konnten auch ordentlich singen. Es sei barbarisch, sagte er, solcher Übung aus dem Wege zu gehen, anstatt durch dieselbe anderen Freude bereiten zu helfen und sich selbst für die späteren Jahre die Fähigkeit zu erwerben, mit Verständnis zu hören und zu genießen, wenn man nicht mehr mittun könne.

Um die gleiche Zeit traten auch die Brüder Isidor und Julian in den Chor.

Jetzt hatte Magdalena der Frau Salander die Kunde zugeraunt, daß in der morgigen Konzertprobe, welche bis spät in die Nacht dauern werde, die Salanderschen Fräulein mit ihrer Leistung ziemlich früher fertig würden und mit den Liebhabern eine Zusammenkunft verabredet hätten.

»Rate, wo sie hingehen!« sagte Marie zum Manne, als sie ihm die Ankündigung hinterbrachte. »Du errätst es nicht, und doch sind sie oft dort gewesen: in dem großen Garten, der sich hinter dem Hause deines Geschäftslokales erstreckt!«

»Die Wetterhexen! Wie kommen sie hinein? Sie werden mir doch nicht die Haus- und Kontorschlüssel ausführen und die fremden Burschen überall durchlassen?«

»Bewahre! Sie haben den alten rostigen Schlüssel gefunden, der die kleine Hintertüre in der Gartenmauer aufschließt, der Mauer, welche das große Grundstück an der entlegenen Seitenstraße eingrenzt. Die Mädchen gehen zuerst hin, zehn Minuten später machen sich die Zwillinge aus der Probe fort.«

An dem betreffenden Tage hielten sich die Töchter still zu Hause bis am Abend, rollten dann ihre Singstimmen zusammen und begaben sich richtig in die Konzertprobe. Der Vater hatte sie am Mittagtische beobachtet, etwas verlegen, denn es waren ja stattliche Frauenzimmer von guter Haltung und lang nicht mehr Kinder. Er hatte auch nichts Besonderes an ihnen gewahrt, als daß sie dem musikalischen Abend mit einiger Spannung entgegensahen, der schwierigen Aufgabe wegen.

Das Haus, in welchem er seine Geschäftsräume gemietet, war im übrigen zur Zeit unbewohnt, und Salander ging zuweilen mit dem Gedanken um, das alte Wesen zu kaufen und umzubauen, kam aber immer wieder bescheidentlich davon ab. Inzwischen hatte er einen Buchhalter und den Gewerbsknecht darin untergebracht; die hausten aber auf einer anderen Seite, als wo der Garten lag. Salander begab sich am vorgerückten Abend unbemerkt auf sein Kontor, machte bei verschlossenen Läden Licht und verweilte so lange, bis er die Stunde für gekommen hielt. Dann zog er Gummischuhe über die Füße und ging leise über den mondhellen Hof weg bis an das Gittertor des parkartigen Gartens. Vorsichtig guckte er eine Weile durch das krause Eisenzeug, hörte und sah jedoch weder einen Laut noch eine Bewegung von Menschen. Also öffnete er sachte das Gitter und betrat den Garten, der überall mit schlanken hohen Bäumen besetzt war, wie sie jetzt nicht mehr gepflanzt wurden.

Ungefähr in der Mitte stand ein altes, in Sandstein gearbeitetes und verwittertes Brunnenwerk mit Delphinen und Tritonen, von einem spärlichen Wassergeträufel umflüstert. Vor dem Brunnen dehnte sich ein geräumiger Rundplatz, von mächtigen Akazien umstanden, und da die Bäume noch unbelaubt waren, schien der Vollmond ungehindert auf den Platz wie auch auf die Alleewege, die in denselben mündeten. Dicht hinter dem Brunnen stand ein neues Gebüsch von Nadelhölzern. Martin Salander schlüpfte hinein; es verbarg ihn vollkommen. Diesen Platz beschloß er besetzt zu halten, da dem Brunnen gegenüber eine halbrunde Steinbank den zu dieser Jahreszeit einzigen Ruhesitz darbot.

Es war auch Zeit, daß der lauschende Vater seinen Standort eingenommen. In wenig Minuten hörte er ganz nahe gedämpfte, aber rasche Schritte, und die dunklen Gestalten seiner Töchter glitten wie Nachtschatten an dem Brunnen vorüber und umwandelten nebeneinander den runden Platz, ohne ein Wort zu sprechen, zwei- oder dreimal, bis sie plötzlich vor dem Brunnenbecken anhielten. Salander konnte sie nicht erkennen, sie hatten die Schleier tief über die Gesichter und um Hals und Kinn gezogen. Sie streiften die Handschuhe ab, suchten die hohle Hand unter den Delphinen mit Wasser zu füllen und schlürften es begierig in sich hinein. Zwar wehte eine milde Aprilnacht in der Luft, fast wie eine Mainacht so lau, aber doch nicht so warm, den Durst der Jungfrauen zu erklären.

»Himmel, da brennt's, daß sie so löschen!« dachte Martin Salander hinter seinen Koniferen; »natürlich, trägt doch jede ein Elmsfeuer im Herzen!«

Sie schöpften abermals Wasser und kühlten die Stirnen, nachdem sie die Schleier etwas gelüftet.

»Die armen Würmer!« dachte der Vater wiederum, »das ist eine schwierige Geschichte!«

Jetzt erkannte er auch die Jüngere, Nettchen, an der Stimme, als sie nicht laut, aber vernehmlich sagte. »O Setti, ich fürchte, unser Glück hat am längsten gedauert!«

»Warum? Wegen der schlechten Madlene?« erwiderte die ältere Schwester, freilich auch nicht ohne einen unfreiwilligen Seufzer.

»Ach, schilt sie deswegen nicht, sie ist unserer Mutter doch auch etwas schuldig! Und einmal mußte es doch kommen, jetzt ist es da!«

»Nun ist es freilich da oder wird bald kommen, ja! Nun heißt es eben kämpfen und ausharren! Oder sollen wir die liebsten Menschen, dies Wundergeschenk des Himmels, leichten Sinnes fahren lassen und verstoßen?«

»Und kannst du dich so leichten Kaufes im Unfrieden von den besten Eltern trennen? Wenn nur die Mutter die armen Knaben für brav halten könnte! Aber ich weiß, sie tut es nicht und tut es nicht!«

»Sie hat gut sagen, weil sie alle mit unserem Vater vergleicht, der freilich ein Ausbund ist, dem nicht jeder das Wasser reicht! Und doch ist er vielleicht nicht minder ein kleiner Springinsfeld gewesen, so gut wie unsere blonden Schätze, die Goldköpfe! Und sind sie nicht jetzt schon so fleißig wie die Bienen, ehe sie nur die Nahrungssorgen kennen? Ich verlasse mich auf die nie ganz versiegende Güte der Mutter und hauptsächlich aber auf den freieren Sinn des Vaters! Ich habe neulich ein gewiß wahres Wort gelesen, daß nur ein Mann im vollen Sinne des Wortes human sein könne, human in allen Lagen des Lebens! Ich fühle wenigstens, ich als Weib bin es nicht imstande, ich will nichts weitersagen!«

Salander war von solch ungeheuerlichen Reden seiner Ältesten so verwundert und zugleich erschüttert, daß er sich unwillkürlich an einer jungen Tanne festhielt und so ein Geräusch in dem Busche verursachte. Die Schwestern schwiegen mäuschenstill, voll Schrecken in die Finsternis hineinstarrend. Als nichts weiter erfolgte, sagte Setti: »Es ist der Wind oder ein Vogel gewesen, den wir aus dem Schlafe geweckt haben. Wir wollen uns niedersetzen!«

Sie wendeten sich nach der Steinbank, hatten sie aber noch nicht erreicht, als im Hintergrunde die Mauerpforte knarrte. Die Mädchen standen wie gebannt und sahen die Zwillingsherren auf den Fußspitzen die mondhelle Allee einhersäuseln. Auf dem Brunnenplatze angelangt, breiteten sie ohne Säumen die Arme nach den Liebhaberinnen aus, wurden jedoch zurückgewiesen.

»Halt, ihr Herren!« schalt Setti mit verhaltener, aber entschiedener Stimme, »es ist ausgemacht, daß ihr bei solcher Gelegenheit ungleiche Hüte tragen sollt, damit jede Dame ihren Ritter erkennen kann! Nun kommt ihr mit Hüten, die sich so gleich sehen wie zwei Eier! Welcher ist denn nun der Isidor?«

»Und welcher der Julian?« fügte Netti bei.

Beide riefen gleichzeitig: »Ich!« offenbar aus Mutwillen.

»Laßt sehen!« befahl Setti unwillig, »die Ohrläppchen her!« Sie ging auf den einen zu und griff nach seinem rechten Ohre, während Netti das gleiche mit dem linken Ohre des andern tat.

»Aha!« sagte Salander bei sich selbst, »das Eiernudelchen und das Zuckerschneckchen!« und wieder mußte er an sich halten, um sich nicht durch lautes Gelächter zu verraten. »Soll ich diese meine zwei Meisterstücke mit ihren Liebhabern nicht um Geld sehen lassen?«

Inzwischen hatten die Schwestern richtig herausgefunden, was ihnen gehörte, ohne sich von den Schäkern länger hänseln zu lassen. Jeder erhielt einen feierlichen Kuß und sodann auf der halbrunden Bank einen Platz angewiesen neben seiner Liebsten, worauf sogleich die Befehlsworte doppelt zu vernehmen waren: »Nicht umfangen, oder wir gehen!«

Zuerst schien die kleine Versammlung sich paarweise zu unterhalten, weshalb Salander nicht ein Wort verstand. Er sah nur, daß die Töchter aufrecht und bewegungslos saßen, wie Steinbilder, während Isidor und Julian, jeder der Seinigen bescheiden zugeneigt, sich begnügen mußten, die nur mondhellen Gesichter mit den Augen zu liebkosen.

Herr Salander wunderte sich aufs neue über die Mädchen; sie erschienen ihm wie zwei dämonische Verkörperungen einer und derselben Wahnidee, von welcher die Unglücklichen besessen wären. Wenn nun der eine der Zwillinge sterben müßte oder sonst abhanden käme, würden sie dann vielleicht durch die bloße Halbierung geteilt, oder würden sich am Ende beide an den übrigbleibenden Teil hängen, gleich den salomonischen Müttern, und das Gespenst ihrer eingebildeten Leidenschaft sie aufreiben?

Es schauderte ihn bei dem Gedanken, daß solche Seelenstörungen den so blühenden Mädchen beschieden sein könnten. Und immer saßen sie noch da und flüsterten Unvernehmliches mit den Jünglingen, die jetzt aufsprangen, von irgendeinem Worte getroffen.

Setti sprach allein weiter und so laut, daß es der Vater im Busche verstehen konnte: »Ja, ihr schönen Brüder! Es ist geschehen, was uns weh tut! Aus gewissen Reden, die eure Frau Mutter auf offenem Markte hören ließ, müssen wir schließen, daß man uns Schwestern für reiche oder reich werdende Personen hält und somit alle Lieb' und Treue dem vermeintlichen Vermögen unserer Eltern gilt!«

Die Brüder prallten zurück und standen betreten vor den gestrengen Mädchen; denn auch Nettchen wendete sich düster, obgleich mit weicher Stimme, gegen ihren Zwillingsanteil, zwar schon nicht mehr genau wissend, ob es der rechte sei, wegen des vorgegangenen Platzwechsels. Auch die Schwestern waren nämlich aufgestanden und zwischen die verwirrten Zwillinge getreten, die nach Worten suchend hin und herschritten.

»Ja, so ist es, wir sind keine Marktware!« sagte Netti und wischte sich die Augen, mit denselben trotzdem den durch das Hin- und Hergehen der Unterscheidung entschlüpften Julian zu haschen suchend. Das beliebte Greifen nach dem Ohrläppchen war durch den Ernst des Augenblicks unmöglich geworden.

Setti befand sich in gleicher Lage, jedoch mit mehr Geistesgegenwart.

»Sprich du, Isidor, wenn ihr etwas zu sagen habt!« rief sie in leidenschaftlicher Vergessenheit dennoch lauter, als sie wollte. Und sofort sich fassend, ergriff er endlich das Wort.

»Was können wir dafür, wenn unsere gute Mama sich freut, daß ihre Söhne reiche Bräute haben? Ist es eine Sünde für sie? Und wäre es selbst für uns eine Sünde, die Geliebte vor allen Nahrungssorgen gesichert zu wissen? Obgleich wir hoffen und vertrauen, sie aus eigener Kraft dagegen zu schützen! Nein, teure Elisabeth! Ich habe nicht notwendig, dein Erbe zu lieben; aber dich zu lieben habe ich notwendig, das schwöre ich dir! Lasse Geld und Gut, Eltern, Haus und Heimat und alles im Stich und komm mit mir! Auch ich verachte nicht, um der Armut oder um meiner selbst willen einzig und allein geliebt zu werden, auch ich will alle schönen Hoffnungen und was mir von den Eltern zukommen wird, dahinten lassen und mit dir bis ans Ende der Welt gehen!«

Er hatte sich während dieser Worte dem älteren Fräulein Salander zu Füßen geworfen, was bisher unter den vier Leuten noch nie vorgekommen und auch sonst gerade nicht landesüblich war. Das gleiche tat Julian und hielt eine noch feurigere Rede an Netti, in welcher er aber nicht arm, sondern reich werden zu wollen versprach, um zu beweisen, daß er nicht auf den Reichtum der Braut zu schauen brauche.

Sie hielten die Hände der Schwestern fest umklammert und bedeckten sie, durch die eigenen Worte zu Tränen gerührt, mit Küssen. Da nun jede wieder ihren Anteil sicher an der Hand fühlte und noch größere Rührung empfand, so endete der prüfungsvolle Augenblick damit, daß die Jünglinge sich emporschwangen und die schmucken Mädchen ohne Widerstand umarmten, und dies unter so heftigem Küssewechsel, wie es auch noch nie geschehen. Man sah dabei, daß die Jünglinge kräftig genug in die Höhe geschossen waren, um die auch nicht kurzen Frauengestalten zu überragen.

Das bemerkte auch Martin Salander, der unversehens zwischen den zwei Paaren stand und vielleicht noch lange hätte stehen können. Allein er legte links und rechts eine Hand auf die entsprechende Zwillingsschulter und sagte: »Laßt's für heute genug sein, ihr jungen Herren! Und ihr artigen Frauenzimmer seid so gut, euch von ihnen zu trennen! Hier steht der Vater, wie es scheint für euch eine überflüssige Person!«

Die vier Liebesleute fuhren weit auseinander, Setti und Netti mit Schreckenslauten, Isidor und Julian aber sich bald ermannend.

»Herr Salander, es geht alles mit rechten Dingen zu, wir sind mit Ihren Fräulein Töchtern verlobt!«

»Wir sind nämlich alle volljährig, soviel wir wissen!« sagten die Jünglinge etwas patzig; Salander merkte indessen wohl, daß es mehr aus Unbeholfenheit denn aus Trotz geschah.

»Das freut mich,« versetzte er, »es überhebt mich einigermaßen der Verantwortlichkeit, wenn ein dummer Streich geschehen sollte. Einstweilen kann ich den edlen Wettstreit wegen des zu erwartenden Vermögens sogar entgegenkommend schlichten und den Kummer meiner Kinder, es möchte sich um eine schnöde Geldheirat handeln, zum voraus mäßigen, indem ich einfach die Töchter enterbe, wenn sie in Mißachtung der Eltern und unschicklichem Lebenswandel verharren sollten!«

Das Wort Enterbung lief wie eine gemeinsame sanfte Erschütterung durch die vier Verlobten. Sein harter Klang brachte die Töchter Salanders, die an dergleichen als etwas Mögliches nie gedacht, unmittelbar zum Weinen, ohne daß sich vorläufig der kürzeste Gedankengang damit verband; und die Brüder Weidelich senkten, in der Mondscheindämmerung freilich kaum bemerkbar, auf einen Ruck die Köpfe.

Niemand sprach zunächst ein Wort. Salander benutzte die Stille, die Szene zu schließen.

»Für einmal«, sagte er in ruhigem Tone, »muß ich im Namen beider Eltern nun wünschen, daß in Zukunft dieser geheime Verkehr unterbleibt; es wird für jeden das beste sein. Darf ich die jungen Herren zu dem Hinterpförtchen begleiten, durch welches sie hereingekommen sind, damit ich den Schlüssel an mich nehmen kann? Meine Töchter werden den Garten mit mir auf dem gewohnten Wege verlassen. Nehmt Abschied!«

Die weinenden Mädchen schickten sich an, dem Gebote zu gehorchen; da sie aber über dem Auftritte die Spur der Erkennens wieder verloren hatten und die Jünglinge unentschlossen, ja störrisch sich nicht rührten, reichte jede dem Unrechten die Hand, ihm mit klopfendem Herzen den Mund zum Kusse bietend. Die wackeren Jungen wollten es nicht hierbei bewenden lassen, sondern änderten rasch die Stellung, wechselten Mädchen und Hände und umarmten jeder die Seinige, worauf sie, durch die Verwirrung mürbe geworden, dem Herrn Salander folgten, indessen Setti und Netti trauernd auf die Steinbank sanken.

Nachdem ihr Vater die Zwillinge durch das Mauerpförtchen entlassen, den Schlüssel zweimal umgedreht und zu sich gesteckt hatte, kehrte er auf den Rundplatz zurück.

»So, nun wollen wir zur Mutter gehen,« rief er den Töchtern zu, »sie grämt sich zu Hause! Es ist zehn Uhr vorbei!«

Er ging ihnen voran in das Haus und das Kontor, wo noch das Licht brannte. Während sie sich dort so gut wie möglich von dem erlebten Schreck erholten, sann Vater Martin über den Zuspruch nach, den er ihnen halten sollte und auch wollte; je länger er aber die so vollkommen ausgereiften Jungfrauen betrachtete, desto schwerer dünkte es ihm, da viel hineinzureden. Er beschränkte sich daher auf ein paar anzügliche Brocken, die er hinwarf, um der Mutter den intimen Teil der nötigen Vorstellungen zuzuschieben.

»Ist das nun«, sagte er, vor ihnen stillstehend, »die große Rarität, die ihr euch ausgesucht habt? Denkt ihr großen Staat damit zu machen? Zwei Männer, die ihr nicht voneinander unterscheiden könnt, wenn es etwas dämmerig ist? Dem ließe sich zwar abhelfen durch eine Bedingung im Ehekontrakt, daß sie die Bärte ungleich tragen sollen, zum Beispiel der eine einen Vollbart, der andere einen Schnurrbart. Allein genauer überlegt, haben sie leider noch gar keine Bärte und bekommen am Ende niemals solche, die dicht genug wären, unterschiedliche Charaktere daraus zu schneiden!«

Der Spott brachte nicht die gewünschte Wirkung hervor; er betrübte nur die Mädchen auf das tiefste, daß sie wieder zu weinen anfingen, nachdem sie schon sorgfältig die Augen getrocknet hatten.

»O lieber Vater,« schluchzte Setti, »es nützt gar nichts, es hängt nicht von uns ab! Solange sie uns treu bleiben, lassen wir nicht von ihnen!«

»So?«

»Ja, Vater!« rief jetzt Nettchen, »wie können wir unsere Wahl denn anders rechtfertigen als durch die Sündhaftigkeit, mit welcher wir den armen Menschen die Treue halten?«

»Da haben wir den starren Wahn!« dachte Salander.

»Und was die größere Jugend unserer Verlobten betrifft,« fuhr die ältere Tochter nicht ohne Zierlichkeit fort, »so bedürfen sie nicht nur liebevoller, sondern auch mit einem mütterlichen Sinne begabter Frauen, die sie wohltätig zu lenken verstehen! Ihre eigene Mutter hat nicht diejenigen Eigenschaften, welche zur Bezähmung so kecker Burschen erforderlich wären. Wir aber, Netti kann es bezeugen, haben schon einen veredelnden Einfluß über sie gewonnen, sie hören auf uns und lassen sich gefallen, was wir ihnen sagen.«

Nettchen gab ungesäumt ihr Zeugnis ab: »Es ist wahr, was Setti sagt, sie sind schon viel manierlicher, selbst gesitteter, als da wir sie kennen lernten!«

»Das läßt sich bei Gott hören, es mag etwas dran sein!« dachte der umhergehende Herr Vater; »dann müssen die Gesellen aber ziemlich ungezwungen gewesen sein!« Laut sagte er: »Wir werden heute mit dieser Materie nicht fertig! Kommt, wir wollen gehen!«

Er löschte das Licht und führte die bedrängten Fräulein unbemerkt auf die Straße. Schweigend schritt er neben ihnen her; daß er nicht fröhlich wie sonst an jeden Arm eines der Kinder nahm, dagegen zwei oder dreimal einen Seufzer vernehmen ließ, machte ihnen das Herz auch wieder schwerer, je näher sie der Wohnung kamen. Und als sie in die Stube traten, wo die Mutter ganz allein am Tische saß und strickte, fühlten sie, daß sie trotz ihres schönen und klugen Mädchenalters einen tiefen Fall getan. Sie suchten jedoch nicht etwa in ihr Schlafzimmer zu entfliehen, sondern setzten sich still an eine Wand und blickten traurig auf den Boden.

»Guten Abend, Frau!« sagte Salander, »da haben wir die Vögel eingefangen! Sie bitten dich um Verzeihung und willigen ein, daß alles weitere Ausfliegen einstweilen unterbleibe! Denn sie waren mehr unbesonnen als leichtsinnig und jedenfalls mehr leichtsinnig als böse!«

»Das fehlte noch, daß es mehr bös als leichtsinnig heißen müßte!« erwiderte Marie Salander ohne aufzublicken.

Die den Gegenstand dieses kurzen Gespräches bildeten, waren solche Worte nicht gewöhnt und hätten nie geglaubt, daß es dergleichen für sie gäbe. Wehrlos verharrten sie im Schweigen.

»Wenn ihr noch Hunger habt,« sagte die Mutter, »so könnt ihr in die Küche gehen; hier hat man längst abgeräumt. Das Bett werdet ihr auch wohl finden, alt genug seid ihr!«

Sie standen auf und gingen hintereinander her in die Küche, nahmen dort jedoch nur das nötige Licht und stiegen ohne zu essen eine Treppe hinauf in ihr Schlafgemach. Über ihnen auf dem Estrich lag mäuschenstill in ihrem Bett die Magd, die sich kurz vorher weggeschlichen.

Unten strickte die bekümmerte Frau fort, ohne eine Masche fallen zu lassen.

»Du hast sie also wirklich beisammen getroffen?« fragte sie den Mann.

»Gewiß, ja! Zuerst kamen die Kinder anmarschiert, im hellen Mondschein, dann die vertrackten Weidelichsjungen; ich steckte in dem Gebüsch hinter dem Brunnen, sah alles, was vorging, und hörte beinahe alles, was gesprochen wurde. Ich muß dir nun zuerst sagen, daß ich, abgesehen von der Heimlichkeit, mit welcher sie uns hintergingen, nichts sah oder hörte, was ehrbaren Liebesleutchen nicht erlaubt ist; ich möchte behaupten, ich sah und hörte nicht einmal alles Erlaubte, soviel ich mich wenigstens, mit deiner Genehmigung zu sagen, aus unserer eigenen Praxis erinnern kann. Die Kinder scheinen eine merkwürdige Gewalt über die Bengel zu haben –«

»Nimm es mir nicht übel, Martin,« unterbrach ihn Marie, »aber du sprichst ganz verkehrt und närrisch! Das Gegenteil ist wahr, die Bengel üben ja die unglückliche Gewalt über die Kinder!«

»Nicht so, Marie! Diese Gewalt, die du meinst, die sitzt auch in den Mädchen selbst, die Jungens würden sie nie haben; es ist das Wahngebilde, an dem sie leiden! Doch laß dir erzählen, wie es herging!«

Er beschrieb ihr so genau und anschaulich als möglich den ganzen Hergang, indes sie bald ungläubig, bald verwundert, aber immer unwillig aufschaute, den Kopf schüttelte und wieder strickte.

Plötzlich warf sie den Strumpf auf den Tisch.

»Ich komme nicht darüber hinweg! Sie haben mich als Mutter beleidigt; ich bin nie gewöhnt gewesen, seit ich die Kinder besaß, und war von Hause aus nicht gewöhnt, von gewissen Dingen zu reden und zu sagen, die nicht sein sollen. Ich glaube auch jetzt noch, daß gutgeartete Kinder am besten durchkommen, wenn sie die Leute im Haus, namentlich Vater und Mutter, offen und tadellos wandeln sehen, ohne sie darüber predigen zu hören. Und nun diese jahrelange Verschlagenheit zweier Töchter gerade gegen die Mutter!«

»Das mußt du nicht von der Seite allein nehmen. Es ist in Gottes Namen einmal geschehen, ein neuer Fall von Menschengeschichten, woher sollen diese herkommen, wenn es nicht immer neue Erscheinungen gibt? Vielleicht ein lumpiges Lustspiel, vielleicht ein erbaulich ernsthaftes Schicksal!«

»Und wie steht es nun! Wie soll es werden?«

»Wie ich dir sagte, sie erklären, von den Zwillingen nicht zu lassen, sie meinen, aus ihnen zu machen, was sie wollen und was gut sei! Daß aber der Verkehr in bisheriger Weise aufhört, dessen bin ich ziemlich sicher. Denn als ich ein Wort von Enterbtwerden fallen ließ, fühlte ich deutlich, daß die Herrschaften mürbe wurden. Ich mußte es tun, weil ihrerseits bereits das Wort Volljährigkeit gefallen war.«

Frau Salander wurde in diesem Augenblicke totenbleich und griff nach der Seite, wo das Herz hängt.

»Enterben!« wiederholte sie mit jammervoller Stimme, »kannst du denn das wegen einer solchen Sache?«

»Eigentlich wohl nicht leicht,« erwiderte Martin möglichst ernsthaft, »ein guter Advokat könnte indessen einen unordentlichen Lebenswandel, fortgesetztes Mißachten und Hintergehen der Eltern, Kinderundank und dergleichen schon so heraus drechseln, daß es durchzusetzen wäre vor nicht allzu scharfsichtigen Richtern.«

Maria Salander packte ihr Strickzeug zusammen. Es rannen ihr Tränen über die Wangen, die sie nicht beachtete.

»So weit ist es schon gekommen,« sagte sie, indem sie die Lampe löschte und den Leuchter zum Schlafengehen ergriff, »so weit, daß in diesem Hause ein solches Wort ertönen muß! Zwei Kinder verlieren!«

Martin stützte und führte die schwankende Frau und tröstete sie im Gehen: »Ei gedenke doch, ich müßte ja tot sein, wenn das Testament eröffnet und angegriffen würde! Wenn ich unter dem Boden dann den Prozeß gewänne, so könntest du und dein Sohn Arnold den Mädchen alles wieder zurückgeben!«

Isidor und Julian Weidelich waren sehr erschrocken und kleinlaut in der dunklen Straße hinter der Gartenmauer gestanden und dann einig geworden, nach dem Singhause zurückzukehren, ihre Abwesenheit eher zu vertuschen. Sie setzten sich, als sie hörten, daß immer noch geübt wurde, in ein Trinkstübchen, in welchem sich pausierende Sänger erfrischten, und sie taten, als ob sie die ganze Zeit über vorhanden gewesen wären. Dann schlugen sie erst den Weg nach dem Zeisig ein, wo im elterlichen Hause für jeden ein artiges kleines Studierzimmer gebaut und eingerichtet war.

Nach und nach fanden sie Worte, von dem Ereignis dieses Abends zu reden, wurden aber nicht recht klug daraus. Für sie ragten vornehmlich zwei Dinge aus dem Abenteuer heraus: die Anfechtung ihrer verlobten Bräute wegen der Liebe aus Habsucht, ehe der Vater kam, und die Drohung des letzteren mit Enterbung der Töchter. Beide Punkte standen in unheimlicher Beziehung zueinander. Die Fräulein wollten nicht des Vermögens wegen geliebt sein und der Vater ihnen dasselbe entziehen, wenn sie sich überhaupt lieben ließen. Aber konnte denn der Alte sie wirklich enterben? Über diesen Gegenstand waren sie als angehende Notare schon von einiger Erfahrung, der betreffende Abschnitt des Erbrechtes ihnen geläufig. Das Ergebnis des Ratschlages fiel auch ziemlich verständig aus: sie fanden, es dürfte besser sein, sich den Geboten des Herrn Salander zu fügen und die Zusammenkünfte mit den Töchtern einzustellen, um die Frage jedenfalls nicht zu verschärfen. Sie hielten dafür, daß die Mädchen auch keine Neigung hätten, die unbestimmte Gefahr herauszufordern, und von der Volljährigkeit allein nicht leben könnten, wenn es zum Bruche mit den Eltern käme; und sie fürchteten die Mutter noch mehr als den Vater.

Dagegen wollten sie einen schriftlichen Verkehr einführen und so die Zeit erwarten, die ihre Aussichten und Hoffnungen krönen würde. Der Treue der beiden Geliebten waren sie ja sicher, wie ihrer eigenen, und indem sie über diese Seite der Angelegenheit ein paar jugendliche Redeblumen von leichter Bauart in die Verhandlung streuten, nahm diese den verwunderlichsten Ton von der Welt an. Und doch war es ihnen auch hiermit Ernst, da es ja sonderbar hätte zugehen müssen, wenn so junge Gesellen keines dankbaren Gefühles für die Hingabe eines solchen Schwesterpaares fähig gewesen wären.

Zu Hause wollten sie den Vorfall verschweigen, damit die Mama nicht neue Verwirrung stifte.


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