Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Als ich den Rhein überschritt und das Land betrat, war dieses gerade mit dem Getöse jener politischen Aktionen erfüllt, welche mit dem Umwandlungsprozeß eines fünfhundertjährigen Staatenbundes in einen Bundesstaat abschlossen, ein organischer Prozeß, der über seiner Energie und Mannigfaltigkeit die äußere Kleinheit des Landes vergessen ließ, da an sich nichts klein und nichts groß ist, und ein zellenreicher, summender und wohlbewaffneter Bienenkorb bedeutsamer ist, als ein mächtiger Sandhaufen. Beim schönsten Frühlingswetter sah ich Straßen und Wirtshäuser angefüllt und hörte das zornige Geschrei über gelungene oder mißlungene Gewalttat. Man lebte mitten in der Reihe von blutigen oder trockenen Umwälzungen, Wahlbewegungen und Verfassungsänderungen, die man Putsche nannte, und Schachzüge waren auf dem wunderlichen Schachbrette der Schweiz, wo jedes Feld eine kleinere oder größere Volkssouveränität war, die eine mit Vertretung, die andere demokratisch, diese mit, jene ohne Veto, diese von städtischem Wesen, jene von ländlichem, und wieder eine andere mit theokratischem Öle versalbt, daß sie nicht aus den Augen sehen konnte.

Sogleich übergab ich mein Gepäck der Postanstalt und beschloß, den Rest der Reise zu Fuß zurückzulegen, um unverweilt eine vorläufige Kenntnis der Zustände aus eigener Anschauung zu erwerben; denn gerade auf meinem Wege rauchte und schwelte es an mehreren Orten.

Und doch lag überall das Land in himmelblauem Duft, aus welchem der Silberschein der Gebirgszüge und der Seen und Ströme funkelte, und die Sonne spielte auf dem jungen betauten Grün. Ich sah die reichen Formen der Heimat, in Ebenen und Gewässern ruhig und waagrecht, im Gebirge steil und kühn gezackt, zu Füßen blühende Erde und in der Nähe des Himmels eine fabelhafte Wüste, alles unaufhörlich wechselnd und überall die zahlreich bewohnten Tal- und Wahlschaften bergend. Mit der Gedankenlosigkeit der Jugend und des kindischen Alters hielt ich die Schönheit des Landes für ein historisch-politisches Verdienst, gewissermaßen für eine patriotische Tat des Volkes und gleichbedeutend mit der Freiheit selbst, und rüstig schritt ich durch katholische und reformierte Gebietsteile, durch aufgeweckte und eigensinnig verdunkelte; und wie ich mir so das ganze große Sieb voll Verfassungen, Konfessionen, Parteien, Souveränitäten und Bürgerschaften dachte, durch welches die endlich sichere und klare Rechtsmehrheit gesiebt werden mußte, die zugleich die Mehrheit der Kraft, des Gemütes und des Geistes war, der fortzuleben fähig ist, da wandelte mich die begeisterte Lust an, mich als einzelner Mann und widerspiegelnden Teil des Ganzen zum Kampfe zu gesellen und mitten in demselben mich mit regen Kräften fertig zu schmieden zum tüchtigen und lebendigen Einzelmann, der mitratet und -tatet und rüstig drauf aus ist, das edle Wild der Mehrheit erjagen zu helfen, von der er selbst ein Teil, die ihm aber deswegen nicht teurer ist, als die Minderheit, die er besiegt, weil diese hinwieder mit der Mehrheit vom gleichen Fleisch und Blut ist.

Aber die Mehrheit, rief ich vor mir her, ist die einzige wirkliche und notwendige Macht im Lande, so greifbar und fühlbar wie die körperliche Natur, an die wir gefesselt sind. Sie ist der einzig untrügliche Halt, immer jung und immer gleich mächtig; daher gilt es, sie unvermerkt vernünftig und klar zu machen, wo sie es nicht ist. Dies ist das höchste und schönste Ziel. Weil sie notwendig und unausweichlich ist, so kehren sich die verkehrten Köpfe aller Extreme gegen sie, indessen sie stets abschließt und selbst den Unterliegenden beruhigt, während ihr ewig jugendlicher Reiz ihn zu neuem Ringen mit ihr lockt und so sein eigenes geistiges Leben erhält und nährt. Sie ist immer liebenswürdig und wünschbar, und selbst wenn sie irrt, hilft die gemeine Verantwortlichkeit den Schaden ertragen. Wenn sie den Irrtum erkennt, so ist das Erwachen aus demselben ein frischer Maimorgen und gleicht dem Anmutigsten, was es gibt. Sie läßt es sich nicht einfallen, sich stark zu schämen; ja die allgemein verbreitete Heiterkeit läßt den begangenen Fehltritt kaum ungeschehen wünschen, da er ihre Erfahrung bereichert, die Lust der Besserung hervorgerufen hat und auf das schwindende Dunkel das Licht erst recht hell erscheinen läßt.

Sie ist die reizende Aufgabe, an welcher sich ihr einzelner messen kann, und indem er dies tut, wird er erst zum ganzen Mann, und es tritt eine wundersame Wechselwirkung ein zwischen dem Ganzen und seinem lebendigen Teile.

Mit großen Augen beschaut sich erst die Menge den einzelnen, der ihr etwas vorsagen will, und dieser, mutig ausharrend, kehrt sein bestes Wesen heraus, um zu siegen. Er denke aber nicht, ihr Meister zu sein; denn vor ihm sind andere dagewesen, nach ihm werden andere kommen, und jeder wurde von der Menge geboren; er ist ein Teil von ihr, welchen sie sich gegenüberstellt, um mit ihm, ihrem Kind und Eigentum, ein Selbstgespräch zu führen. Jede wahre Volksrede ist nur ein Monolog, den das Volk selber hält. Glücklich aber, wer in seinem Lande ein Spiegel seines Volkes sein kann, der nichts widerspiegelt als das Volk, während dieses selbst nur ein kleiner Spiegel der weiten lebendigen Welt ist und sein soll.

Dergestalt redete ich mich in eine hohe Begeisterung hinein, je blauer der Himmel glänzte und je näher ich der Vaterstadt kam.

Freilich ahnte ich nicht, daß Zeit und Erfahrung die idyllische Schilderung der politischen Mehrheiten nicht ungetrübt lassen würden; noch weniger merkte ich, daß ich im gleichen Augenblicke, wo ich mich selbsttätig zu verhalten gedachte, auch schon die Lehren der Geschichte vergaß, noch bevor ich nur den ersten Schritt getan. Daß große Mehrheiten von einem einzigen Menschen vergiftet und verdorben werden können und zum Danke dafür wieder ehrliche Einzelleute vergiften und verderben, – daß eine Mehrheit, die einmal angelogen, fortfahren kann, angelogen werden zu wollen, und immer neue Lügner auf den Schild hebt, als wäre sie nur ein einziger bewußter und entschlossener Bösewicht – daß endlich auch das Erwachen des Bürgers und Bauersmannes aus einem Mehrheitsirrtum, durch den er sich selbst beraubt hat, nicht so rosig ist, wenn er in seinem Schaden dasteht, – das alles bedachte und kannte ich nicht.

Aber auch mit diesen Schatten wäre ja das Unausweichliche und Notwendige der Mehrheit, ohne deren Zustimmung der mächtigste Selbstherrscher in Rauch aufgeht, und ihre reine Größe, wenn sie unverderbt ist, stark genug gewesen, meine Vorsätze zu tragen und den Durst nach der neuen Lebensluft nicht erlöschen zu lassen. So griffen denn meine Schritte immer kecker und unternehmungslustiger aus, bis ich plötzlich das Pflaster der Stadt unter den Füßen fühlte und ich doch mit klopfendem Herzen ausschließlicher der Mutter gedachte, die darin lebte.

Meine Sachen mußten inzwischen auf der Post angekommen sein. Ich lenkte die Schritte zuerst dahin, um sogleich eine Schachtel an Hand zu nehmen, die meine bescheidenen Reisegrüße für sie enthielt, nämlich den Stoff für ein feineres Kleid, welches zu tragen ich sie zu überreden hoffte, und einen Vorrat ausländischen Gebäckes, das würzig und haltbar ihr einen guten Mund machen sollte.

Diese Schachtel an der Hand, ging ich am noch lichten Nachmittage durch unsere alte Straße; sie erschien mir belebter als vor Jahren; auch sah ich, daß manche neue Verkaufsmagazine errichtet und alte rußige Werkstätten verschwunden, mehrere Häuser umgebaut und andere wenigstens frisch verputzt waren. Nur das unsrige, ehemals eines der saubersten, sah schwarz und räucherig aus, als ich mich näherte und an die Fenster unserer Stube hinaufblickte. Sie standen offen und waren mit Blumentöpfen besetzt; aber fremde Kindergesichter schauten heraus und verschwanden wieder. Niemand bemerkte oder kannte mich, als ich eben in die bekannte Türe treten wollte, ein Mann ausgenommen, der, mit einem Zollstab und Bleistift in der Hand, über die Gasse geeilt kam. Es war der Handwerksmeister, der mich einst auf seiner Hochzeitsreise besucht hatte.

»Seit wann sind Sie da, oder kommen Sie eben?« rief er, eilig mir die Hand reichend.

»Diesen Augenblick komme ich«, sagte ich, und er antwortete und bat mich, schnell eine Minute bei ihm drüben einzutreten, eh ich hinaufginge.

Ich tat es mit ängstlicher Spannung und fand mich in einem schönen Verkaufsladen, in dessen Hintergrund die junge Frau am Schreibpulte saß. Sofort kam auch sie mir entgegen und sagte: »Um Gottes willen, warum kommen Sie so spät?«

Erschreckt stand ich da, ohne noch erraten zu können, was es sein möchte, das die Leute so erregte. Der Nachbar aber säumte nicht, mich aufzuklären.

»Ihre gute Mutter ist erkrankt, so schwer, daß es vielleicht nicht ratsam ist, wenn Sie unangekündigt und plötzlich bei ihr erscheinen. Seit heute früh haben wir nichts gehört; nun aber ist's am besten, meine Frau geht schnell hinüber und sieht nach, wie es steht. Sie warten indessen hier!«

Ohne an eine so traurige Wendung glauben zu wollen und doch bekümmert, ließ ich mich wortlos auf einen Stuhl sinken, die Schachtel auf den Knien. Die Frau lief über die Gasse und verschwand in der Türe, die mir wie einem Fremden noch verschlossen sein sollte. Die Augen voll Tränen, kehrte die Nachbarin zurück und sagte mit verschleierter Stimme: »Kommen Sie schnell, ich fürchte, sie macht es nicht mehr lang, ein Geistlicher ist dort! Die arme Frau scheint nicht mehr bei Bewußtsein!«

Sie eilte wieder vor mir her, um hilfreich bei der Hand zu sein, wenn es not tat, und ich folgte mit zitternden Knien. Die Nachbarin erklomm rasch und leicht die Treppen; auf den verschiedenen Stockwerken standen feierlich Leute unter ihren Türen, leise sprechend, wie in einem Sterbehause. Auch vor unserer Wohnung standen solche, die ich nicht kannte; meine Führerin im alten Vaterhause eilte auch an diesen vorüber, und ich folgte ihr bis auf den Dachboden, wo ich unsern Hausrat dicht aufeinander stehen sah und die Mutter in einem Kämmerchen wohnte. Leise öffnete die Nachbarin dessen Türe; da lag die Arme auf dem Sterbebett, die Arme über die Decke hingestreckt, das todesbleiche Gesicht weder rechts noch links wendend und langsam atmend. In den ausgeprägten Zügen schien ein tiefer Kummer auszuleben und der Ruhe der Ergebung oder der Ohnmacht Platz zu machen. Vor dem Bette saß der Diakon der Kirchgemeinde und las ein Sterbegebet. Ich war geräuschlos eingetreten und hielt mich still, bis er geendet. Die Nachbarin trat, als er das Buch sachte zuschlug, zu ihm und flüsterte ihm zu, der Sohn sei angekommen.

»In diesem Fall kann ich mich zurückziehen«, sagte er, sah mich einen Augenblick aufmerksam an, grüßte und begab sich hinweg.

Die Nachbarin trat jetzt an das Bett, nahm ein Tüchlein und trocknete sanft die feuchte Stirn und die Lippen der Kranken; dann, während ich immer noch wie ein vor Gericht Gerufener dastand, den Hut in der Hand, die Schachtel zu Füßen, neigte sie sich nieder und sagte ihr mit zarter Stimme, welche die Leidende unmöglich erschrecken konnte. »Frau Lee! der Heinrich ist da!«

Obgleich diese Worte bei aller Weichheit so vernehmlich gesprochen waren, daß auch die vor der offenen Türe versammelten Weiber sie hörten, gab sie doch kein anderes Zeichen, als daß sie die Augen leise nach der Sprechenden hin wendete. Indessen benahm mir außer der Trauer auch die dumpfe dämmerige Luft des Kämmerchens den Atem; denn der Unverstand der Wärterin, die in einem Winkel hockte, hielt nicht nur das kleine Fenster verschlossen, sondern auch die grüne Gardine davor, und ich mußte daran erkennen, daß heute noch kein Arzt dagewesen sei.

Unwillkürlich schlug ich die Gardine zurück und öffnete das Fenster. Die reine Frühlingsluft und das mit ihr einströmende Licht bewegten das erstarrende ernste Gesicht mit einem Schimmer von Leben; auf der Höhe der hageren Wangen zitterte leicht die Haut; sie regte energisch die Augen und richtete einen langen fragenden Blick auf mich als ich mich, ihre Hände ergreifend, zu ihr niederbeugte; das Wort aber, das ihre ebenfalls zitternden Lippen bewegte, brachte sie nicht mehr hervor.

Die Nachbarin nahm die Wärterin mit sich hinaus, drückte leise die Türe zu, und ich fiel an dem Bett nieder mit dem Rufe: »Mutter! Mutter!« und legte den Kopf weinend auf die Decke. Ein röchelndes stärkeres Atmen hieß mich wieder emporschnellen, und ich sah die treuen Augen gebrochen. Ich nahm den leblosen Kopf in die Hände und hielt dies Haupt vielleicht zum ersten Male in meinem Leben so in der Hand, wenigstens soweit ich mich entsinnen konnte. Allein es war für immer vorbei.

Es fiel mir ein, daß ich ihr wohl die Augen zudrücken sollte, daß ich ja dafür da sei und sie es vielleicht noch fühlen würde, wenn ich es unterließe; und da ich neu und ungeübt in diesem bittern Geschäfte war, so tat ich es mit zager, scheuer Hand.

Die Frauen traten nach einer Weile herein, und als sie sahen, daß die Mutter verschieden war, erboten sie sich, das Nötige zu tun und die Leiche für den Sarg einzukleiden. Da ich einmal da war, verlangten sie von mir die Anweisung eines Totengewandes. Ich öffnete einen der auf dem Dachboden stehenden Schränke, der voll guter Kleider hing, die seit Jahren geschont und gespart und nicht nach der Mode geschnitten waren. Die Wärterin aber sagte, es müsse ein Totenkleid vorhanden sein, von welchem die Selige gesprochen, und wirklich fand man dasselbe, in ein weißes Tuch eingeschlagen, im Fuße des Schrankes liegen. Zu welcher Zeit sie es anfertigen ließ, war mir unbekannt.

Die Frauen sprachen auch davon, wie wenig Mühe die Tote während ihrer Krankheit verursacht, wie still und geduldig sie gelegen und fast nie etwas verlangt habe.


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