Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Berufsahnungen

Der nächste junge Tag ließ mich von allen Seiten mit dem Rufe: Maler! begrüßen. »Guten Morgen, Maler!« »Haben der Herr Maler wohl geruht?« »Maler, zum Frühstück!« hieß es, und das Völklein handhabte diesen Titel mit derjenigen gutmütig spottenden Freude, welche es immer empfindet, wenn es für einen neuen Ankömmling, den es nicht recht anzugreifen wußte, endlich eine geläufige Bezeichnung gefunden hat. Ich ließ mir jedoch den angewiesenen Rang gern gefallen und nahm mir im stillen vor, denselben nie mehr aufzugeben. Ich brachte aus Pflichtgefühl die erste Morgenstunde noch über meinen Schulbüchern zu, mich selbst unterrichtend; aber mit dem grauen Löschpapier dieser melancholischen Werke kam die Öde und die Beklemmung der Vergangenheit wieder heran; jenseits des Tales lag der Wald in silbergrauem Duft, die Terrassen hoben sich merklich voneinander los; ihre laubigen Umrisse, von der Morgensonne bestreift, waren hellgrün, jede bedeutende Baumgruppe zeichnete sich groß und schön in dem zusammenhaltenden Dufte und schien ein Spielwerk für die nachahmende Hand zu sein; meine Schulstunde wollte aber nicht vorübergehen, obschon ich längst nicht mehr aufmerkte.

Ungeduldig ging ich, ein Lehrbuch der Physik in der Hand, hin und her und durch mehrere Zimmer, bis ich in einem derselben die weltliche Bibliothek des Hauses entdeckte; ein breiter, alter Strohhut, wie ihn die Mädchen zur Feldarbeit brauchen, hing darüber und verbarg sie beinahe ganz. Wie ich denselben aber wegnahm, sah ich eine kleine Schar guter Franzbände mit goldenem Rücken, ich zog einen Quartband hervor, blies den dichten Staub davon und schlug die Geßnerschen Werke auf, in dickem Velinpapier, mit einer Menge Vignetten und Bildern geschmückt. Überall, wo ich blätterte, war von Natur, Landschaft, Wald und Flur die Rede; die Radierungen, von Geßners Hand mit Liebe und Begeisterung gemacht, entsprachen diesem Inhalte; ich sah meine Neigung hier den Gegenstand eines großen, schönen und ehrwürdigen Buches bilden. Als ich aber auf den Brief über die Landschaftsmalerei geriet, worin der Verfasser einem jungen Manne guten Rat erteilt, las ich denselben überrascht vom Anfang bis zum Ende durch. Die unschuldige Naivität dieser Abhandlung war mir ganz faßlich; die Stelle, wo geraten wird, mannigfaltig gebrochene Feld- und Bachsteine auf das Zimmer zu tragen und danach Felsenstudien zu machen, entsprach meinem noch halbkindischen Wesen und leuchtete mir ungemein in den Kopf. Ich liebte sogleich diesen Mann und machte ihn zu meinem Propheten. Nach mehr Büchern von ihm suchend, fand ich ein kleines Bändchen, nicht von ihm, aber seine Biographie enthaltend. Auch dieses las ich auf der Stelle ganz durch. Er war ebenfalls ein hoffnungsloser Schüler gewesen, indessen er auf eigene Faust schrieb und künstlerischen Beschäftigungen nachhing. Es war in dem Werklein viel von Genie und eigener Bahn und solchen Dingen die Rede, von Leichtsinn, Drangsal und endlicher Verklärung, Ruhm und Glück. Ich schlug es still und gedankenvoll zu, dachte zwar nicht sehr tief, war jedoch, wenn auch nicht klar bewußt, für die Bande geworben.

Es ist bei der besten Erziehung nicht zu verhüten, daß dieser folgenreiche und gefährliche Augenblick nicht über empfängliche junge Häupter komme, unbemerkt von aller Umgebung, und wohl nur wenigen ist es vergönnt, daß sie erst das leidige Wort Genie kennen lernen, nachdem sie unbefangen und arglos bereits ein gesundes Stück Leben, Lernen, Schaffen und Gelingen hinter sich haben. Ja, es ist überhaupt die Frage, ob nicht zu dem bescheidensten Gelingen eine dichte Unterlage von bewußten Vorsätzen und allem Apparate der Geniesucht gehöre, und der Unterschied mag oft nur darin bestehen, daß das wirkliche Genie diesen Apparat nicht sehen läßt, sondern vorweg verbrennt, während das bloß vermeintliche ihn mit großem Aufwande hervorkehrt und wie ein verwitterndes Baugerüst stehen läßt am unfertigen Tempel.

Den berückenden Trank schöpfte ich jedoch nicht aus einem anspruchsvollen und blendenden Zauberbecher, sondern aus einer bescheidenen lieblichen Hirtenschale; denn bei allen Redensarten war dies Geßnersche Wesen durchaus einfacher und unschuldiger Natur und führte mich für einmal nur mit etwas mehr Bewußtsein unter grüne Baumschatten und an stille Waldquellen.

In der Biographie machte ich auch die Bekanntschaft mit dem alten Sulzer, welcher in Berlin des jungen Geßner Gönner gewesen; wie ich nun unter den Büchern einige Bände der »Theorie der schönen Künste« bemerkte, nahm ich sie als in mein neuentdecktes Gebiet gehörig in Beschlag. Dies Buch muß seinerzeit eine gewaltige Verbreitung gefunden haben, da man es fast in allen alten Bücherschränken findet und es auf allen Auktionen spukt und für wenig Geld erstanden werden kann. Gleich einer jungen Katz im Grasgarten fuhr ich in der enzyklopädischen Einrichtung des längst obsolet gewordenen Buches herum, alles für bare Münze nehmend und hundert vorläufige und unverstandene Gesichtspunkte ergreifend, und als der Mittag herannahte, war mein Kopf von Gelehrsamkeit vollgepfropft; ich fühlte beinahe selbst den gravitätischen Stolz in meinen gekräuselten Lippen und aufgespannten Augen und schleppte sämtliche Kunstliteratur in mein Zimmer hinüber zu der Mappe des Junker Felix.

Kaum nahm ich mir nach Tische noch Zeit, bei der Großmutter einen kurzen Besuch abzustatten, ein kleines Testamentchen mit Goldschnitt und silbernem Schlößchen, das sie für mich bestimmt hatte, einzustecken, und eilte wieder davon. Die Großmutter sah mir, soweit ihre schwachen Augen reichten, etwas wehmütig nach; denn sie hatte mir die heilige Gabe mit besonderer Liebe und Feierlichkeit einhändigen wollen. Aber ich schwand ihr eilig aus dem Gesichte, allein begierig, meine angefachte Kunsteinsicht an den Mann oder vielmehr an die Bäume zu bringen.

Mit einer Mappe und Zubehör versehen, lief ich bereits unter den grünen Hallen des Bergwaldes hin, jeden Baum betrachtend, aber nirgends eigentlich einen Gegenstand sehend, weil der stolze Wald eng verschlungen, Arm in Arm stand und mir keinen seiner Söhne einzeln preisgab; die Sträucher und Steine, die Kräuter und Blumen, die Formen des Bodens schmiegten und duckten sich unter den Schutz der Bäume und verbanden sich überall mit dem großen Ganzen, welches mir lächelnd nachsah und meiner Ratlosigkeit zu spotten schien. Endlich trat ein gewaltiger Buchbaum mit reichem Stamme und prächtigem Mantel und Krone herausfordernd vor die verschränkten Reihen, wie ein König aus alter Zeit, der den Feind zum Einzelkampfe aufruft. Dieser Recke war in jedem Aste und jeder Laubmasse so fest und klar, so lebens- und gottesfreudig, daß seine Sicherheit mich blendete und ich mit leichter Mühe seine Gestalt bezwingen zu können wähnte. Schon saß ich vor ihm und meine Hand lag mit dem Stifte auf dem weißen Papiere, indessen eine geraume Weile verging, eh ich mich zu dem ersten Strich entschließen konnte; denn je mehr ich den Riesen an einer bestimmten Stelle genauer ansah, desto unnahbarer schien mir dieselbe, und mit jeder Minute verlor ich mehr meine Unbefangenheit. Endlich wagte ich, von unten anfangend, einige Striche und suchte den schön gegliederten Fuß des mächtigen Stammes festzuhalten; aber was ich machte, war lebens- und bedeutungslos; die Sonnenstrahlen spielten durch das Laub auf dem Stamme, beleuchteten die markigen Züge und ließen sie wieder verschwinden, bald lächelte ein grauer Silberfleck, bald eine saftige Moosstelle aus dem Helldunkel, bald schwankte ein aus den Wurzeln sprossendes Zweiglein im Lichte, ein Reflex ließ auf der dunkelsten Schattenseite eine neue mit Flechten bezogene Linie entdecken, bis alles wieder verschwand und neuen Erscheinungen Raum gab, während der Baum in seiner Größe immer gleich ruhig dastand und in seinem Innern ein geisterhaftes Flüstern vernehmen ließ. Aber hastig und blindlings zeichnete ich weiter, mich selbst betrügend, baute Lage auf Lage, mich ängstlich nur an die Partie haltend, welche ich gerade zeichnete, und gänzlich unfähig, sie in ein Verhältnis zum Ganzen zu bringen, abgesehen von der Formlosigkeit der einzelnen Striche. Die Gestalt auf meinem Papiere wuchs ins Ungeheuerliche, besonders in die Breite, und als ich an die Krone kam, fand ich keinen Raum mehr für sie und mußte sie, breit gezogen und niedrig wie die Stirne eines Lumpen, auf den unförmlichen Klumpen zwingen, daß der Rand des Bogens dicht am letzten Blatte stand, während der Fuß unten im Leeren taumelte. Wie ich aufsah und endlich das Ganze überflog, grinste ein lächerliches Zerrbild mich an, wie ein Zwerg aus einem Hohlspiegel; die lebendige Buche aber strahlte noch einen Augenblick in noch größerer Majestät als vorher, wie um meine Ohnmacht zu verspotten; dann trat die Abendsonne hinter den Berg und mit ihr verschwand der Baum im Schatten seiner Brüder. Ich sah nichts mehr, als eine grüne Wirrnis und das Spottbild auf meinen Knien. Ich zerriß dasselbe, und so hochmütig und anspruchsvoll ich in den Wald gekommen, so kleinlaut und gedemütigt war ich nun. Ich fühlte mich abgewiesen und hinausgeworfen aus dem Tempel meiner jugendlichen Hoffnung; der tröstende Inhalt des Lebens, den ich gefunden zu haben wähnte, entschwand meinem innern Blicke und ich kam mir nun vor, wie ein wirklicher Taugenichts, mit welchem wenig anzufangen sei. Ich brach verzagt und weinerlich auf, mit gebrochenem Mute nach einem andern Gegenstande suchend, welcher sich barmherziger gegen mich erwiese. Allein die Natur, mehr und mehr sich verdunkelnd und verschmerzend, ließ mir kein Almosen ab; in meiner Bedrängnis tat sich mir das Wort kund »Aller Anfang ist schwer«, und damit die Einsicht, daß ich ja erst jetzt anfange und diese Mühsal eben den Unterschied von dem früheren Spielwerke begründe. Aber die Einsicht stimmte mich nur trauriger, da mir Mühseligkeit und saurer Fleiß bisher unbekannte Dinge gewesen waren. Ich nahm meine Zuflucht endlich wieder einmal zu Gott, der mir im Rauschen des Waldes und in meinem eingebildeten Elende wieder nahe getreten, und bat ihn flehentlich, mir zu helfen um meiner Mutter willen, deren sorgenvoller Einsamkeit ich nun auch gedachte.

Da traf ich auf eine junge Esche, welche mitten in einer Waldlücke auf einem niedrigen Erdwalle emporwuchs, von einer sickernden Quelle getränkt. Das Bäumchen hatte einen schwanken Stamm von nur zwei Zoll Dicke und trug oben eine zierliche Laubkrone, deren regelmäßig gereihte Blätter zu zählen waren und sich, sowie der Stamm, einfach, deutlich und anmutig auf das klare Gold des Abendhimmels zeichneten. Weil das Licht hinter der Pflanze war, sah man nur den scharfen Umriß des Schattenbildes; es schien wie absichtlich zur Übung eines Schülers hingestellt.

Ich setzte mich noch einmal hin und wollte flugs das kindliche Stämmchen mit zwei parallelen Linien auf mein Papier stehlen; aber noch einmal wurde ich gehöhnt, indem der einfache, grünende Stab im selben Augenblicke, wo ich ihn zu zeichnen und genauer anzusehen begann, eine unendliche Feinheit der Bewegung annahm. Die beiden aufstrebenden Linien schmiegten sich in allen kaum merklichen Biegungen so streng aneinander, sie verjüngten sich nach oben so fein und die jungen Äste gingen endlich in so gemessenen Winkeln daraus hervor, daß um kein Haar abgewichen werden durfte, wenn das Bäumchen seine schöne Gestalt behalten sollte. Doch nahm ich mich zusammen und klammerte mich ängstlich und aufmerksam an jede Bewegung meines Vorbildes, woraus endlich nicht eine sichere und elegante Skizze, sondern ein zaghaftes, aber ziemlich treues Gebilde hervorging. Ich fügte, einmal im Zuge, mit Andacht die nächsten Gräser und Würzelchen des Bodens hinzu und sah nun auf meinem Blatte eines jener frommen nazarenischen Stengelbäumchen, welche auf den Bildern der alten Kirchenmaler und ihrer heutigen Epigonen den Horizont so anmutig und naiv durchschneiden. Ich war zufrieden mit meiner bescheidenen Arbeit und betrachtete sie noch lange abwechselnd mit der schlanken Esche, die sich im leisen Abendhauche wiegte und mir wie ein freundlicher Himmelsbote erschien. Als ob ich wunder was verrichtet hätte, zog ich hochvergnügt dem Dorfe zu, wo meine Verwandten begierig waren, die Früchte meiner mit so viel Anspruch unternommenen Waldfahrt zu sehen. Nachdem ich aber mein Bäumlein mit seinen höchstens vier Dutzend Blättern hervorgezogen, löste sich die Erwartung in ein allgemeines Lächeln auf, welches bei den Unbefangensten zum Gelächter wurde; nur dem Oheim gefiel es, daß man doch gleich ein junges Eschchen erkannte, und er munterte mich auf, unverdrossen fortzufahren und die Waldbäume recht zu studieren, wozu er mir als Forstmann behilflich sein wolle. Er besaß noch so viel städtische Erinnerung, daß ihm dergleichen nicht lächerlich vorkam; auch mochten leidenschaftliche Jäger von jeher die Malerei wohl leiden, insofern sie den Schauplatz ihrer Freuden und Taten selbst verherrlicht. Daher begann er nach dem Abendessen noch sogleich einen Kursus mit mir und sprach von den Eigentümlichkeiten der Bäume und von den Stellen, wo ich die lehrreichsten Exemplare finden würde. Zuvörderst aber empfahl er mir, die Studien des Junkers Felix zu kopieren, was ich an den folgenden Tagen mit großem Eifer tat, indessen wir an den schönen Abenden unsere Spürgänge für die nächste Jagdzeit fortsetzten und dabei die reizendsten Gründe und Höhen durchstreiften, umgeben und begleitet von der reichen Baumwelt.

So ging die erste Woche meines ländlichen Aufenthaltes angenehm zu Ende, und um diese Zeit wußte ich schon etwelche Bäume voneinander zu unterscheiden und freute mich, die grünen Gesellen mit ihren Namen begrüßen zu können; nur hinsichtlich der Kräuterdecke des feuchten oder trockenen Bodens bedauerte ich erst jetzt wieder lebhaft die Unterbrechung der botanischen Anfänge in der Schule, da ich wohl fühlte, daß für die Kenntnis dieser kleinen, aber weit mannigfaltigeren Welt einige grobe Umrisse nicht genügten; und doch hätte ich so gern die Namen und Eigenschaften aller der blühenden Dinge gekannt, welche den Boden bedeckten.


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