Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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3

Anna

Weil ich die mir durch den Aufenthalt Römers zugemessene Zeit wohl benutzen mußte, so konnte ich nicht daran denken, das Dorf zu besuchen, obschon ich verschiedene Grüße und Zeichen von daher erhalten hatte. Um so fleißiger dachte ich an Anna, wenn ich arbeitete und die grünen Bäume leise um mich rauschten. Ich freute mich für sie meines Lernens, und daß ich in diesem Jahre so reich an Erfahrung geworden gegen das frühere Jahr; ich hoffte einigen wirklichen Wert dadurch erhalten zu haben, der in ihren Augen für mich spräche und in ihrem Hause die Hoffnung begründe, die ich selbst für mich zu hegen mir erlaubte.

Der Herbst war gekommen, und als ich eines Mittags zum Essen nach Hause ging und in unsere Stube trat, sah ich auf dem Ruhbettchen einen schwarzseidenen Mantel liegen. Freudig betroffen eilte ich auf denselben zu, hob das leichte angenehme Ding in die Höhe und untersuchte es von allen Seiten. Ich eilte damit in die Küche, wo ich die Mutter beschäftigt fand, ein besseres Essen als gewöhnlich zu bereiten. Sie verkündigte mir die Ankunft des Schulmeisters und seiner Tochter, fügte aber sogleich mit besorgtem Ernst bei, daß sie leider nicht zum Vergnügen gekommen wären, sondern um einen berühmten Arzt zu besuchen. Während die Mutter in die Stube ging und den Tisch deckte, deutete sie mir mit einigen Worten an, daß sich bei Anna seltsame und beängstigende Anzeichen eingestellt hätten, der Schulmeister sehr bekümmert sei und sie, die Mutter, selbst nicht minder; denn nach der ganzen Erscheinung des armen Mädchens könne es sich ereignen, daß das zarte Wesen nicht alt werde.

Ich saß auf dem Ruhbette, hielt den Mantel fest in meinen Händen und hörte ganz verwundert auf diese Worte, die mir so unerwartet und fremd klangen, daß sie mir mehr merkwürdig als erschreckend vorkamen. In diesem Augenblicke ging die Tür auf, und die ebenso geliebten als wahrhaft geehrten Gäste traten herein. Überrascht stand ich auf und ging ihnen entgegen, und erst als ich Anna die Hand geben wollte, sah ich, daß ich immer noch ihren Mantel hielt. Sie errötete und lächelte zugleich, während ich verlegen dastand; der Schulmeister warf mir vor, daß ich mich den ganzen Sommer über nie sehen lassen, und so vergaß ich über diesen Begrüßungen die Mitteilung der Mutter, an welche mich auch nichts Auffallendes erinnerte. Erst als wir am Tische saßen, wurde ich durch eine gewisse vermehrte Liebe und Aufmerksamkeit, mit welcher meine Mutter Anna behandelte, gemahnt und glaubte jetzt nur zu sehen, daß sie gegen früher fast größer, aber auch zugleich zarter und schmächtiger erschien; ihre Gesichtsfarbe war wie durchsichtig geworden, und um ihre Augen, welche erhöht glänzten, bald in dem kindlichen Feuer früherer Tage, bald in einem träumerischen tiefen Nachdenken, lag etwas Leidendes. Sie war heiter und sprach ziemlich viel, während ich schwieg, hörte und sie ansah; auch der Schulmeister war heiter und ganz wie sonst; denn bei den Schicksalen und Leiden, welche uns Angehörige betreffen, benehmen wir uns nicht lamentabel, sondern fast vorn ersten Augenblicke an mit der gleichen Gefaßtheit, mit dem gleichen Wechsel von Hoffnung, Furcht und Selbsttäuschung wie die Betroffenen selbst. Doch ermahnte er jetzt seine Tochter, nicht zu viel zu sprechen, und mich fragte er, ob ich die Ursache der kleinen Reise schon kenne, und setzte hinzu: »Ja, lieber Heinrich! meine Anna scheint krank werden zu wollen! Doch laßt uns den Mut nicht verlieren! Der Arzt hat ja gesagt, daß vorderhand nicht viel zu sagen und zu tun wäre. Er hat uns einige Verhaltungsregeln gegeben und anbefohlen, ruhig zurückzukehren und dort zu leben, anstatt hieher zu ziehen, da die dortige Luft angemessener sei. Für unsern Doktor will er uns einen Brief mitgeben und von Zeit zu Zeit selbst hinauskommen und nachsehen.«

Ich wußte hierauf rein nichts zu erwidern, noch meine Teilnahme zu bezeugen; vielmehr wurde ich ganz rot und schämte mich nur, nicht auch krank zu sein. Anna hingegen sah mich bei den Worten ihres Vaters lächelnd an, als ob sie Mitleid mit mir hätte, so peinliche Dinge hören zu müssen.

Nach dem Essen verlangte der Schulmeister, von meinen Beschäftigungen zu wissen und etwas zu sehen; ich brachte eine wohlgefüllte Mappe herbei und erzählte von meinem Meister; doch verweilte er nicht lange dabei, sondern machte sich bereit, einige Gänge zu tun und Einkäufe zu besorgen. Meine Mutter begleitete ihn, und ich blieb allein mit Anna zurück. Sie fuhr fort, meine Sachen aufmerksam zu beschauen; auf dem Ruhbett sitzend, ließ sie sich alles von mir vorlegen und erklären. Während sie auf meine Landschaften sah, blickte ich auf sie nieder, manchmal mußte ich mich beugen, manchmal hielten wir ein Blatt zusammen in den Händen lange Zeit, doch ereignete sich sonst gar nichts Zärtliches zwischen uns; denn während sie für mich nun wieder ein anderes Wesen war und ich mich scheute, sie nur von ferne zu verletzen, häufte sie alle Äußerungen der Freude und der Aufmerksamkeit allein auf meine Arbeiten und wollte sich nicht von denselben trennen, während sie mich selbst nur wenig ansah.

Plötzlich sagte sie: »Unsere Tante im Pfarrhaus läßt dir sagen, du solltest mit uns sogleich hinausfahren, sonst sei sie böse! Willst du?« Ich erwiderte: »Ja, jetzt kann ich schon!« und setzte hinzu: »Was fehlt dir denn eigentlich?« »Ach, ich weiß es selbst nicht, ich bin immer müde und leide manchmal ein wenig; die anderen machen mehr daraus, als ich selbst!«

Meine Mutter und der Schulmeister kamen zurück; neben den fremdartigen, pharmazeutischen Paketen, die er mit einem verstohlenen Seufzer auf den Tisch legte, brachte er einige Geschenke für Anna mit, gute Kleiderstoffe, einen großen warmen Schal und eine goldene Uhr, als ob er mit diesen kostbaren und auf die Dauer berechneten Sachen eine günstige Wendung des Geschickes erzwingen wollte. Als Anna darüber erschrak, sagte er, sie habe die Dinge schon lange verdient und das bißchen Geld hätte gar keinen Wert für ihn, wenn er nicht ihr eine kleine Freude dadurch verschaffen könnte.

Er zeigte sich zufrieden, daß ich mitfahre; meine Mutter sah es auch gern und legte mir einige Sachen zurecht, indessen ich das Gefährt aus dem Gasthause holte, wo es eingestellt war. Anna sah allerliebst aus, als sie wohlvermummt und verschleiert dem Schulmeister zur Seite saß. Ich nahm den Vordersitz und hatte das Leitseil des gutgenährten Pferdes ergriffen, das schon ungeduldig scharrte; die Mutter machte sich noch lange am Wagen zu schaffen und wiederholte dem Schulmeister ihre Anerbietungen zu jeglicher Hilfe, und wenn es notwendig würde, hinzukommen und Anna zu pflegen; die Nachbaren steckten die Köpfe aus den Fenstern und vermehrten mein Selbstbewußtsein, als ich endlich mit meiner liebenswürdigen und anmutigen Gesellschaft die enge Straße entlang fuhr.

Es glänzte ein sonniger Herbstnachmittag auf dem Lande, Wir fuhren durch Dörfer und Felder, sahen die Gehölze und Anhöhen im zarten Dufte liegen, hörten die Jägerhörnchen in der Ferne, begegneten überall zahlreichem Fuhrwerke, welches den Herbstsegen einbrachte; hier machten die Leute die Gefäße zur Weinlese zurecht und bauten große Kufen, dort standen sie reihenweise auf den Äckern und hoben die Wurzelfrüchte aus; anderswo wieder pflügten sie die Erde um und die ganze Familie war dabei versammelt, von der Herbstsonne hinausgelockt; überall war es lebendig und zufrieden bewegt. Die Luft war so mild, daß Anna ihren grünen Schleier zurückschlug und ihr liebliches Gesicht zeigte. Wir vergaßen alle drei, warum wir eigentlich auf diesen Wegen fuhren; der Schulmeister war gesprächig und erzählte uns viele Geschichten von den Gegenden, durch welche wir kamen, zeigte uns die Wohnungen, wo berühmte Männer hausten, deren wohlgeordnete saubere Hofstätten die weise Klugheit ihrer Besitzer verkündeten. Da und dort wohnte eine hübsche Tochter oder deren zwei, von denen etwas zu erblicken wir im Vorüberfahren uns bemühten, und wenn dies gelang, so grüßte Anna mit dem bescheidenen Anstande derjenigen, welche selbst Blumen des Landes sind.

Doch dunkelte es eine geraume Weile, ehe wir ans Ziel gelangten, und mit der Dunkelheit fiel es mir plötzlich ein, daß ich Judith das Versprechen gegeben, sie jedesmal zu besuchen, wenn ich ins Dorf käme. Anna hatte sich wieder verhüllt, ich saß nun neben ihr, da der Schulmeister, welcher die Wege besser kannte, die Zügel genommen; und weil wir der Dunkelheit wegen nun schweigsamer waren, so hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, was ich tun wollte.

Je untunlicher es mir schien, mein Versprechen zu halten, je weniger ich das Wesen, welches ich mir zur Seite fühlte und das sich nun sanft an mich lehnte, auch nur in Gedanken beleidigen mochte, desto dringender ward auf der anderen Seite die Überzeugung, daß ich am Ende doch mein Wort nicht brechen dürfe, da mich Judith nur im Vertrauen auf dasselbe in jener Nacht entlassen, und ich zögerte nicht, mir einzubilden, daß der Wortbruch sie kränken und ihr weh tun würde. Ich mochte um alles in der Welt gerade vor ihr nicht unmännlich als einer erscheinen, welcher aus Furcht ein Versprechen gäbe und aus Furcht dasselbe bräche. Da fand ich einen sehr klugen Ausweg, wie ich dachte, der mich wenigstens vor mir selbst rechtfertigen sollte. Ich brauchte nur bei dem Schulmeister zu wohnen, so war ich nicht im Dorfe, und wenn ich am Tage dieses besuchte, so mußte ich Judith nicht sehen, welche sich nur meinen nächtlichen und geheimen Besuch während eines Aufenthaltes im Dorfe ausbedungen hatte.

Als wir daher in des Schulmeisters Haus ankamen und dort die Muhme mit einem Sohne und zwei Töchtern vorfanden, welche uns erwarteten und mich mit dem Fuhrwerk gleich mitnehmen wollten, erklärte ich unversehens, hier bleiben zu wollen, und die alte Katherine eilte, mir ein Unterkommen zu bereiten, indessen Anna, die ganz ermüdet und angegriffen war und von Husten befallen wurde, sich sogleich zu Bett begeben mußte. Sie führte mich an einen artig eingerichteten Tisch, auf welchem ihre Bücher und Arbeitssachen, auch Papier und Schreibzeug lagen, setzte Licht darauf und sagte lächelnd: »Mein Vater bleibt alle Abend bei mir, bis ich eingeschlafen bin, und liest mir manchmal etwas vor. Hier kannst du dich vielleicht so lange beschäftigen. Sieh, hier mache ich etwas für dich!« und sie zeigte mir eine Stickerei zu einer kleinen Mappe, welche sie nach jener Blumenzeichnung verfertigte, die ich vor mehreren Jahren in der Weinlaube gemacht und ihr geschenkt hatte. Das naive Bild hing über ihrem Tische. Dann gab sie mit die Hand und sagte wehmütig leise und doch so freundlich »Gut Nacht!« und ich sagte ebenso leise: »Gut Nacht.«

Einige Augenblicke nachher kam der Schulmeister herein, und ich sah, daß er ein schön eingebundenes Andachtsbuch mitnahm, als er sich wieder entfernte, um in Annas Zimmer zu gehen. Ich hingegen beschaute alle Sächelchen, welche auf dem Tische lagen, spielte mit ihrer Schere und konnte mir gar nicht ernstlich denken, daß irgendeine Gefahr für Anna sein sollte.


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