Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Er strich ihr liebevoll die Locken zurück, die aus ihrer Verbannung im wohlgebauten Nacken an den gebührenden Platz neben den errötenden Wangen zurückstrebten. Betroffen und gerührt bat ich um Verzeihung für die unbewußte Verletzung ihrer Gefühle, die ich begangen. Meine eigene Beschämung, fügte ich bei, habe ich verdient, da ich mich verlocken ließ, die vermeintliche stolze Gräfin abtrumpfen zu wollen, anstatt sie in ihrer Art und Weise ungeschoren zu lassen. Übrigens sei ihr Herkommen doch noch das vornehmste, denn sie komme so recht unmittelbar aus Gottes Hand, und man könne sich ja die höchsten und wunderbarsten Dinge darunter denken!

»Nein«, versetzte der Graf, »wir wollen keine verwunschene Prinzessin aus ihr machen. Der einfache Hergang ist hier jedermann bekannt, und was jedes Kind weiß, dürfen Sie auch erfahren. Vor zwanzig Jahren, als meine Frau, die einzige, gestorben war, trieb ich mich schmerzlich und trostlos im Lande umher. Eines Abends stieg ich an der österreichischen Donau in einem unserer Stadthäuser ab, das die Geliebte gern und häufig bewohnt hatte. Als ich ins Haus ging, sah ich ein schönes zwei- bis dreijähriges Kind still auf der Steinbank neben dem Portale sitzen, ohne seiner zu achten. Ich ging nochmals aus, um das Abendrot über dem breiten Strome zu sehen, das die Verstorbene so oft aufgesucht; das Kind schlief nun. Als ich eine halbe Stunde später zurückkam, weinte es leise und furchtsam. Ich rief jetzt den Hausmeister herbei, der in seiner Teilnahmlosigkeit von nichts wissen wollte, als daß ein Haufen Auswanderer die Stadt durchschwärmt habe, denen das Kind wohl angehöre. Ich befahl, es ins Haus zu nehmen und zu pflegen, und da die Sache langsam und widerwillig vonstatten ging, nahm ich es zu mir und gab ihm von meinem eigenen Essen. Die Auswanderer waren allerdings dagewesen, aber schon auf Flößen und Schiffen die Donau hinuntergefahren. Laut den erhobenen polizeilichen Nachforschungen kamen sie aus Schwaben und gingen nach dem südlichen Rußland; allein weder in ihrer alten noch in der neuen Heimat wollte jemand etwas von dem Kinde wissen; nirgends wurde ein solches vermißt, nirgends war es in Büchern oder Schriften der Ausgewanderten eingetragen. Eine Bande Zigeuner, die in der Nähe der Stadt erschien, gab Anlaß zu neuen Untersuchungen. Aber auch da kam nichts heraus. Kurz, das Kind verblieb mir als Findelkind schönster Sorte, wie Sie's da vor sich sehen! Ich verschaffte ihm eine schöne gesicherte Findlingsexistenz, erklärte meine tote Frau zu seiner Patin und nannte es mit ihrem Namen Dorothea. Den Zunamen Schönfund ließ ich durch Amtsgewalt festsetzen, und als die Person sich später gar so gut anließ und ich sie an Kindes Statt in aller Form rechtens adoptierte, ließ ich noch den hiesigen Orts- und Hausnamen dranhängen. So heißt sie nun Schönfund-W...berg. Zu einer Gräfin konnt ich sie freilich nicht machen, es ist auch nicht nötig!«

»Bin ich nun mehr zu bemitleiden oder zu beneiden?« fragte mich das schöne Wesen mit leicht geneigtem Haupte.

»Gewiß nur zu beneiden«, sagte ich, aus meiner gerührten Verwunderung erwachend; »Sie gleichen einfach einem Stern, der aus der Tiefe des Himmels neu erschienen ist und dem man einen Namen gegeben hat. Ein Stern kann aber wieder verschwinden, während die unsterbliche Seele, die jetzt Ihren Namen trägt, nie mehr vergeht.«

Sie bewegte aber den Kopf leise wie zu einem Nein und sagte: »Mit diesem Trost wollen wir uns nicht stark brüsten! Der Findling wird sich so still wieder drücken, wie er gekommen ist!«

Als ich diese Worte nicht recht zu deuten wußte, weil ich die eigene Rede, die sie hervorgerufen, über ihrem Anblicke schon vergessen hatte, sagte der Graf zu mir: »Sie müssen nämlich wissen, es ist Dortchens Wahrzeichen, daß sie ganz auf eigene Faust nicht an Unsterblichkeit glaubt, und zwar nicht etwa infolge eingeschulter Dinge oder durch fremden Einfluß, sondern auf ursprüngliche Weise, sozusagen von Kindesbeinen auf!«

Dorothea schämte sich wie über ein verratenes Herzens-Geheimnis; sie drückte das errötende Gesicht auf den Damast des Tischtuches, daß die Locken sich auf dessen Fläche ausbreiteten. Auf mich aber machte der Vorgang einen Eindruck, welcher dem uns befallenden sanften Schreck oder Schauder gleicht, wenn ein Wesen, das uns bereits mit Wohlgefallen umsponnen hat, mit irgendeiner entschiedenen Eigenschaft plötzlich dicht an die Seele herantritt.

»Da ich nun ganz erkannt bin und durchschaut werde«, sagte sie, unversehens sich mit holdem Lächeln aufrichtend, »will ich mich zurückziehen und sorgen, daß wir einen traulichen Winkel für unsern Kaffee finden.«

Als ich später den Grafen auf seinen Geschäftsgängen begleitete, da er die Hauptaufsicht über seine Güter selber führte, befrug ich ihn um das Nähere.

»Es ist in der Tat so«, antwortete er, »seit sie ihr Urteil nur ein wenig rühren konnte und diese Dinge nennen hörte, wir wissen die Zeit kaum anzugeben, sagte sie mit aller Unbefangenheit, aus dem kindlichsten und reinsten Herzen heraus, daß sie gar nicht absehen und glauben könne, wie die Menschen unsterblich sein sollten. Es kommt allerdings nicht selten vor, daß rechtliche Leute aus allen Ständen dies ursprüngliche schlichte Vergänglichkeitsgefühl ohne weiteres aus der Mutter Natur schöpfen und, ohne skeptischer oder kritischer Art zu sein, dasselbe unbekümmert bewahren wie eine harmlose Selbstverständlichkeit. Aber so lieblich und natürlich wie bei diesem Kinde ist mir die Erscheinung noch nie vorgekommen, und ihre unschuldige Überzeugung veranlaßte mich, der ich Gott und Unsterblichkeit hatte liegen lassen, wie sie lagen, meinen philosophischen Bildungsgang noch einmal vorzunehmen, und als ich auf dem Wege des Denkens und der Bücher wieder da anlangte, wo das Mädchen von Hause aus gewesen, und Dortchen mir über die Schultern mit in die Bücher guckte, da war es erst merkwürdig, wie sich das gedanklich bestärkte Gefühl in ihr gestaltete. Wer sagt, daß es ohne Unsterblichkeitsglauben weder Poesie noch Lebensweihe in der Welt gebe, der hätte sie sehen müssen; nicht nur Natur und Leben um sie herum, sondern sie selbst wurde wie verklärt. Das Licht der Sonne schien ihr tausendmal schöner als andern Menschen, das Dasein aller Dinge wurde ihr heilig und ebenso der Tod, den sie sehr ernsthaft nimmt, ohne ihn zu fürchten. Sie gewöhnte sich, zu jeder Stunde an ihn zu denken, mitten in der heiteren Freude und im Glücksgefühl, und daß wir einst ohne allen Spaß und für immer abscheiden müssen. Das ganze vorübergehende Dasein unserer Persönlichkeit und ihr Begegnen mit den anderen vergänglichen, belebten und unbelebten Dingen, unser aufblitzendes und verschwindendes Tanzen im Weltlichte hat für sie einen zarten leichten Anhauch bald von milder Trauer, bald von zierlicher Fröhlichkeit, welche den Druck der schwerfälligen Ansprüche des einzelnen nicht aufkommen läßt, während das Gesamtwesen doch besteht. Und welche Pietät und Teilnahme hegt sie für die Sterbenden und Toten! Ihnen, welche ihren Lohn dahinhaben und abziehen mußten, wie sie sagt, schmückt sie die Gräber, und es vergeht kein Tag, an welchem sie nicht eine Stunde auf dem Kirchhofe zubringt. Dieser ist ihr Lustgarten und ihr Schmollwinkel, und bald kehrt sie fröhlich und übermütig, bald still und nachdenklich davon zurück.«

Solch anmutige Art eignete sich freilich einstweilen nur für ein so sorgloses, leidenfreies und feingebildetes Leben und für die gesunde Jugendkraft; dennoch vermehrte die Schilderung derselben meine Teilnahme und Befangenheit.

»Glaubt sie denn auch nicht an Gott?« fragte ich.

»Schulgerecht«, erwiderte der Graf, »sind allerdings beide Fragen unzertrennlich; nach Frauenart macht sie sich jedoch nicht viel aus der Logik, da sie hier mit ihren Begriffen nicht fertig ist. Du lieber Gott, sagt sie, was kann ich ärmstes Ding wissen! Bei Gott ist alles möglich, auch daß er existiert! Weiter geht sie aber mit so drolligen Wendungen nicht, vielmehr verursacht ihr in Gespräch und Lektüre eine zu große Freiheit oder Frechheit im Ausdrucke nur Mißbehagen, und allzu grobe Ausfälle duldet sie nicht. Sie sehe nicht ein, sagt sie, warum man gegen den lieben Gott, auch wenn man von seiner Abwesenheit überzeugt sei und ihn nicht fürchte, brauche grob und unverschämt zu sein. Das erscheine ihr mehr als eine schäbige, denn tapfere Manier.«

Nach der Rückkehr von unserem Gange suchte ich mein idyllisches Quartier im Gartenhaus auf, wo ich mich zu lassen gebeten hatte, als ich nach dem Schlosse übersiedeln sollte. Ich fand jedoch das kleine Gemach bewohnt; denn Dorothea, die sich nach ihrer Übung wieder einmal im untern Saale aufgehalten, war mit der Gärtnerstochter hinaufgestiegen, um nachzusehen, ob es an nichts fehle. Als ich eintrat, sah ich, daß zwei prachtvolle hohe Schilfrohre mit ihren Blütenbüscheln kreuzweise hinter den Spiegel gesteckt waren. Unter dem Spiegel, der in einem verblichenen Rahmen von versilbertem getriebenem Kupfer steckte, lag der Zwiehanschädel auf der Kommode, auf einem Postamente von grünem Moose weich gebettet, und um den Scheitel wand sich ein Kränzlein von Immergrün. Mit den Ellbogen auf das bauchig geschweifte Möbel gestützt, stand Röschen übergelehnt und betrachtete den Kopf aufmerksam mit gerümpftem Näschen und possierlich gespitztem Munde. Etwas zurück stand die Herrin, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie es schien in ernsthaften Gedanken das Werk ihrer Hände gleichfalls beschauend.

»Bewundern Sie unsre Tapezierkünste!« wandte sie sich zu mir, »wir haben Ihrem stummen Reisekameraden den Aufenthalt etwas verschönert und Sie dabei mitgemeint. Soeben bedenke ich aber, daß Sie sich des Gefährten entledigen und ihm die Ruhe gönnen sollten. Wir wollen ihn gelegentlich auf unserm Gottesacker begraben, ich habe just eine wohlgeborgene kleine Kopfstelle unter den Bäumen für ihn ausgedacht, die niemals umgegraben wird.«

Dieses »gelegentlich«, das wie ein Rosenblatt ohne alles Gewicht von ihren Lippen fiel, erklang so gastfreundlich, daß es mir sogleich das Herz erfreute. Doch erwiderte ich, der Schädel müsse nach meinem Vorsatze mit mir in die Heimat zurück, und dort wolle ich ihn endlich wieder der Erde übergeben, wenn das auch als eine leere und unnütze Handlung erscheine.

»Wann gehen Sie denn?« sagte Dortchen.

»Ich denke morgen, wie ausgemacht!«

»Sie gehen nicht, sondern tun, was der Papa rät! Kommen Sie, ich zeig Ihnen was Hübsches!« Sie öffnete ein altes, eingelegtes Schränkchen, das in der Ecke stand, und nahm einige sehr bunte feine und echte chinesische Täßchen aus demselben hervor. »Sehen Sie, die hab ich von Ihrem und unserm Trödelmännchen erwischt; er hat mir noch mehrere in Aussicht gestellt, aber nicht Wort gehalten bis jetzt. Wir haben sie hieher gebracht, damit Sie uns einmal zum Kaffee bei sich einladen können oder unten im Saal, und damit auch etwas Artiges in Ihrem Zimmer ist! Schau auf, Röschen, so hat Herr Lee Flöte gespielt, als ich ihn zuerst gesehen!«

Sie nahm meinen Stock, hielt ihn wie eine Flöte an den Mund und sang dazu ein paar Zeilen der Freischütz-Arie »Und ob die Wolke sie verhülle«, und den Stock weglegend, sang sie in beschleunigtem Tempo, sie übermütig abhaspelnd, die Schlußverzierung mit einer Schönheit und Sicherheit der Stimme, die mich in neues Erstaunen versetzte. Sie sang aber keine Note länger, als sich mit einer kurzen Aufwallung guter Laune vertrug, und das Lied verklang ebenso unerwartet, wie es begonnen. Plötzlich sah sie den Kaplan über den Platz gehen und rief ihm aus dem Fenster zu: »Ehrwürden! kommen Sie ein bißchen zu uns herauf, wir schwatzen hier, bis wir zum Tee wandern, und machen unserm herrlichen Dulder Odysseus den Hof. Röschen stellt die Nausikaa vor, Sie die heilige Macht Alkinoos', des edlen Phäakenbeherrschers, und ich die Mama Arete, Tochter des göttergleichen Rexenor!«

»Da wären Sie ja meine Gemahlin, gnädigste Heidin!« sagte der geistliche Herr schnaufend, als er in der Tat herangestiegen kam.

»Merken Sie was, o geschorener Diener der heiligen Jungfrau«, lachte sie, »welche den Äther beherrscht und thronet auf goldnen Altären?«

»Diese Unterhaltung geht über meinen Horizont!« rief Röschen, nachdem sie dem Kaplan einen der wenigen Stühle zugerückt hatte, und zog sich zurück, indessen jener ein lustiges Plaudern begann und den Krieg mit dem Fräulein fortführte. Schließlich kam noch der Graf, um zu sehen, wo wir alle blieben, und nahm an dem Geplauder teil, bis es dunkelte und der Mond über den Parkbäumen stand, der seinen Schein in das Zimmer hereinsandte. An seiner Gestalt erkannte ich, daß nun vier Wochen verflossen seien, seit ich mit den Arbeitermädchen unter den Silberpappeln am Flusse gesessen, und wunderte mich über den Wechsel der Dinge in einem so einfachen Lebenslauf.

Im Schlosse saß die kleine Gesellschaft dann noch lange beisammen. Im Anfange schien Dortchen noch aufgeregt fröhlich; allmählich wurde sie stiller und begnügte sich, zuweilen an dem großen Flügel kurze Sätze anzuschlagen; zuletzt verschwand sie ohne Abschied.

Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden, bis der Morgen graute, ohne daß ich mich deswegen übel befand. Kaum hatte ich eine kurze Zeit geschlafen, so wurde ich geweckt, weil die Stunde der Abreise da war. Verwirrt und in Übereilung kleidete ich mich an und lief hinüber, wo der Graf schon beim Frühstück saß, der Wagen vor der Türe stand und der Kutscher bei den Pferden. Als wir eingestiegen waren, sagte der Graf: »Nun, wohin soll's gehen?« Keine Dorothea ließ sich sehen und doch wagte ich weder nach ihr zu fragen, da ich die Unbefangenheit allbereits eingebüßt, noch vermochte ich ohne Abschied aus dem Lande zu gehen. Ich sagte daher, nachdem ich mich eine Minute besonnen, im letzten Augenblicke, ich wolle dem Vorschlag des Herrn Grafen folgen.

»Gut so!« erwiderte er und ließ die Richtung nach der Stadt einschlagen, von welcher ich hergekommen.


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