Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Das Narrengefecht

Die Sonne ging eben auf, als ich in den Saal trat. Alle Frauen und älteren Leute waren schon weggegangen; die Menge der jüngeren aber, von höchster Lust bewegt, wogte durcheinander und schickte sich an, eine Reihe von Wagen zu besteigen, um unverzüglich, ohne auszuruhen, ins Land hinauszufahren und das Gelage in den Forsthäusern und Waldgärten fortzusetzen, welche an den Ufern des breiten Bergflusses gelegen waren.

Rosalie besaß in jener Gegend ein Landhaus, und sie hatte die fröhlichen Leute der Mummerei eingeladen, sich am Nachmittage dort einzufinden, bis wohin sie als bereite Wirtin ebenfalls da sein würde. Insbesondere waren dazu noch einige Frauen gebeten und diese hatten ausgemacht, da es einmal Fasching sei, in der alten Tracht hinauszufahren; denn auch sie wünschten so lang als möglich sich des glänzenden Ausnahmezustandes zu erfreuen.

Erikson war in seine Wohnung gegangen, um sich in seine gewohnten Kleider zu werfen, die er nur etwas sorgfältiger als sonst auswählte. Da auch Rosalie später in moderner Toilette erschien, wie sie der Jahreszeit und dem Tage einfach angemessen war, ließ sich denken, daß hierin entweder eine Verständigung stattgefunden oder ein übereinstimmendes Gefühl waltete, beides schlichte Anzeichen, die von ruhigen Beobachtern nicht übersehen wurden.

Auch Lys war nach Hause geeilt, doch in entgegengesetztem Sinne. Er hatte seinerzeit zu Studien für das Bild mit dem Salomo versuchsweise ein altorientalisches Königskostüm anfertigen lassen; das lange Gewand war von weißem feinem Batistleinen, in viele Falten gelegt und mit purpurfarbigen, blauen und goldenen Borten, Troddeln und Fransen besetzt. Kopf- und Fußbekleidung entsprachen ebenfalls dem ungefähren vorderasiatischen Stile des Altertums. Die betreffende Studie hatte er in der Ausführung zwar nicht benutzt; jetzt aber schien ihm das Kleid tauglich, um darin einen Scherz vorzubringen und am Hofe der Liebesgöttin sich als gestriger Jagdkönig im Hofgewande einzufinden. Dazu ließ er Haar und Bart mit Brenneisen und duftenden Ölen formieren und kräuseln und legte schließlich um die nackten Vorderarme abenteuerliche Spangen und Ringe. Das alles beschäftigte ihn reichlich bis zur Mitte des Tages, nachdem er in der leidenschaftlichen Verirrung, die ihn befallen, wenig genug geschlafen haben mochte.

Meinerseits hatte ich gar nicht geschlafen, sondern fuhr gleich in der Morgenfrühe mit der Hauptschar hinaus. Große Wagen, mit Landsknechten beladen und von deren Spießen starrend, rasselten voraus und ihnen nach eine lange Reihe von Fuhrwerken aller Art in die helle Morgensonne hinein, am Rande der schönen Buchenwälder, hoch auf den Uferhängen des Stromes, der in glänzenden Windungen um die Geschiebe- und Gebüschinseln rauschte.

Es war ein milder Februartag und der Himmel blau; die Bäume wurden bald von der Sonne durchschossen, und wenn ihnen das Laub fehlte, so glänzte das weiche Moos auf dem Boden und auf den Stämmen um so grüner, und in der Tiefe leuchtete das blaue Bergwasser.

Das bunte Volk ergoß sich über eine malerische Gruppe von Häusern, welche vom Walde umgeben auf der Uferhöhe lag. Ein Forsthof, ein altertümliches Wirtshaus und eine Mühle am schäumenden Waldbach waren bald in ein gemeinsames Lustlager verwandelt und verbunden; die stillen Bewohner sahen sich von dem berühmten Feste gleichsam in Person überrascht und umklungen und hatten genug zu tun mit Sehen und Hören, Bewundern und Belachen alles dessen, was sie in hundert Gestalten so plötzlich von allen Seiten umgab. Den Künstlern aber weckte die freie Natur, der erwachende Lenz den Witz in der tiefsten Seele; die frische Luft legte die beweglichsten Fühlfäden der Freude bloß, und wenn die Lust der entschwundenen Nacht auf Verabredung und geplanter Einrichtung beruhte, so lockte die jetzige Tageslust zufällig und frei zum lässigen Pflücken, wie die Frucht am Baume. Die dem phantasierenden Fühlen und Genießen angemessenen Kleider waren nun wie etwas Hergebrachtes, das schon nicht mehr anders sein kann, und in ihnen begingen die Glücklichen tausend neue Scherze, Spiele und Torheiten von der geistreichsten wie von der kindlichsten Art, oft plötzlich unterbrochen durch einen wohlklingenden, festen Gesang, hier unter Bäumen, dort aus einer Schenkstube oder aus dem Ringe von Landsknechten, welche die Müllerstochter umstellt hatten. Aber bei allem Selbstvergessen blieb jeder, was er war, und huschten die ewigen Menschlichkeiten wie leise Schatten über die frohen Gesichter. Der Mürrische schmollte ein weniges bei Gelegenheit, der Mutwillige reizte den Übelnehmer, der Sorglose den Tadelsüchtigen zu einem kleinen Gezänk; der Gedrückte dachte unversehens einmal an seine Sorgen und tat einen tieferen Atemzug. Der Sparsame und Ängstliche überzählte verstohlen seine Barschaft, und der Leichtsinnige, der schon fertig war, überraschte und kränkte ihn durch ein Darlehnsbegehren. Aber alles dies kräuselte sich im Fluge vorüber wie der Lufthauch auf dem Glanze eines Wasserspiegels.

Auch ich geriet eine Weile in einen solchen Wolkenschatten. Ich war dem Mühlbache nach tiefer in das Gehölz gegangen und wusch mir das Gesicht mit den frischklaren Wellen; dann setzte ich mich auf das Holzwerk einer Wasserschwelle und überdachte die vergangene Nacht und das seltsame Abenteuer im Hausflur der Agnes. Das sanfte Rauschen des Wassers brachte mich in einen Halbschlummer, in welchem meine Gedanken wie träumend in die Heimat wanderten; ich glaubte an der Seite der toten Anna an dem stillen Waldwasser zu sitzen in der Tracht des Tellenspieles; dann sah ich mich an ihrer Seite durch die Abendlandschaft reiten und sah alles mit ruhigem Herzen wie eine Erscheinung verschollener Tage, welche für sich abgeschlossen und nicht mehr zu ändern ist. Unversehens aber verlor sich und verblich das Bild vor der Gestalt der Judith, mit der ich durch die Nacht wandelte; ich war bei ihr im Hause, während die barmherzigen Brüder es belagerten, ich sah sie in ihrem Baumgarten aus dem Herbstdufte hervortreten und endlich auf dem Wagen der Auswanderer in die Ferne verschwinden. Wo ist sie? Was ist aus ihr geworden? rief es in mir und das Heimweh nach ihr machte mich plötzlich munter. Im hellsten Tageslichte sah ich sie vor mir stehen und gehen, aber ich sah keine Erde unter ihren lieben Füßen, und es war mir, als ob ich das Beste, was ich je gehabt und noch haben könnte, gewaltsam und unwiederbringlich mit ihr verloren hätte.

Ich dachte an die Flucht der räuberischen Zeit, seufzte und schüttelte leise den Kopf, und erst jetzt wurden durch den Klang der Schellen meine Gedanken ganz wach und geordnet, daß ich endlich auch der Mutter gedachte, freilich nur wie eines Selbstverständlichen und Unverlierbaren, wie eines guten Hausbrotes; denn daß ein solches eines Tages am ehesten abhanden kommen kann, hatte ich noch nicht erfahren. Dennoch dachte ich mit ziemlichem Ernste an die Frau in der stillen Stube; schon ging ich in meinem zweiundzwanzigsten Jahre, und noch hatte ich ihr keine klare Rechenschaft ablegen können über den Stand meiner irdischen Aussichten, über die Frage des Fortkommens in der Welt. Rasch rückte ich das Täschchen herum, das an meinem Gurte hing und neben dem Schnupftuch und anderen Dingen einen Teil der letzten Barschaft enthielt, die ich noch zu verzehren und die mir die Mutter, wie die früheren Summen, pünktlich und getreulich vor kurzer Zeit gesendet hatte. Freilich nützte das Zählen jetzt nichts, und ich schob die Tasche wieder zurück, verhehlte mir aber nicht, daß meine kleine Hausvorsehung zu Hause die Teilnahme an dem Feste nicht billigen werde. Das Narrenkleid kostete zwar nicht viel, und ich hatte es hauptsächlich aus diesem Grunde gewählt; dennoch konnte die Stunde kommen, wo ich den bescheidenen Betrag bitter entbehren mußte. Doch jetzt verstand ich besser als die Mutter, was nötig und ersprießlich war für einen jungen Gesellen, besonders als ein frisches Lied aus dem Lager der Freude herübertönte. Ich schüttelte abermals den Kopf, daß die Schellen klangen, sprang auf und eilte davon.

Ich trieb mich vergnüglich herum und machte allerlei Gänge in die Landschaft hinein, bald mit andern, bald allein. Gegen Mittag lief ich dem stattlichen Erikson in die Hände, der eben aus der Stadt geschritten kam. Unser erstes Gespräch war das Benehmen unseres Freundes Lys. Erikson zuckte die Achsel und sagte nicht viel, während ich mein Erstaunen ausdrückte und viele Worte machte, wie jener so schmählich handeln könne. Ich ergoß mich im schärfsten Tadel und um so lauter, als ich das dunkle Gefühl empfand, ich sei bei der verwirrten Umhalsung Agnesens in verwichener Nacht einer unerlaubten Anwandlung nur mit Not entgangen. Meine Selbstgerechtigkeit stand ja auf festen Füßen, weil ich durch das erwachte Andenken an Judith und ein starkes Heimweh nach ihr mich jetzt sicher fühlte. Und allerdings war es eigentümlich, daß Erlebnisse, die in vergangenen Tagen gefährlich und ungehörig für mich gewesen, jetzt dazu dienen mußten, mich gegen Verlockungen der heutigen Stunde zu schützen.

»Ich will wetten«, unterbrach mich Erikson, »daß er das arme Ding heute sitzen läßt und nicht mitbringt. Wir sollten ihm aber einen Streich spielen, damit er zur Vernunft kommt. Nimm einen Wagen, fahre in die Stadt und sieh ein wenig zu! Findest du den Tollkopf nicht zu Hause, noch bei dem Mädchen, so bring dieses ohne weiteres mit und zwar in Rosaliens Namen und Auftrag, so kann die Mutter nichts dagegen haben; ich werde das verantworten. Zu Lys wirst du nachher einfach sagen, daß du für deine Pflicht gehalten, dem Gebote nachzukommen, da er dir die Schöne in letzter Nacht so beharrlich anvertraut.«

Ich fand diesen Einfall nur in der Ordnung und fuhr sogleich in die Stadt. Auf dem Wege begegnete ich Lys, der ganz allein in einer Kutsche saß, in einen warmen Mantel gehüllt; die kegelförmige Königsmütze mit ihren Anhängseln, der wunderlich gelockte schwarze Bart verrieten aber genugsam den festschwärmenden Nachzügler.

»Wohin willst du?« rief er mir zu. »Ich soll«, erwiderte ich, »dich aufsuchen und sehen, daß du das gute Mädchen Agnes mitbringst, im Falle du es nicht ohnehin tun würdest! Dies scheint nun so zu sein, und ich will sie holen, wenn du nichts dagegen hast, und in deinem Namen. Eriksons schöne Witwe wünscht es.«

»Tu das, mein Sohn!« sagte Lys möglichst gleichgültig, obschon er sichtlich etwas überrascht war. Er hüllte sich dichter in den Mantel, indem er seinem Kutscher barsch befahl, weiterzufahren, und ich hielt bald nachher vor Agnesens Wohnung. Das Pferdegetrampel und Rollen der Räder sowie das plötzliche Stillstehen widerhallte in ungewohnter Weise auf dem still entlegenen Plätzchen, so daß Agnes im selben Augenblicke mit strahlenden Augen ans Fenster fuhr. Als sie mich aussteigen sah, verschleierte sich der Blick wieder, doch harrte sie noch erwartungsvoll, als ich in die Stube trat.

Ihre Mutter war auch da, beschaute mich von allen Seiten, und indem sie fortfuhr, mit einer alten Straußenfeder ihren Altar, das darüber hängende Bild, die Porzellantassen und Prunkgläser, auch die Wachslichter abzustauben und zu reinigen, fing sie an zu plaudern: »Ei, da kommt uns ja auch ein Stück Karneval ins Haus, gelobt sei Maria! Welch allerliebster Narr ist der Herr! Aber was Tausend habt ihr denn? Was hat Herr Lys nur mit meiner Tochter angefangen? Da sitzt sie den ganzen Morgen, ißt nichts, schläft nicht, lacht nicht und weint nicht! Dies ist mein Bild, Herr, wie ich vor zwanzig Jahren gewesen bin! Doch Sie haben es, glaub ich, auch schon gesehen! Dank unseren Herrn und Heiland, man darf es noch betrachten! Sagen Sie nur, was ist es mit dem Kinde? Gewiß hat Herr Lys sie zurechtweisen müssen, ich sag es immer, sie ist noch zu dumm und ungebildet für den feinen Herrn! Sie lernt nichts und beträgt sich unschicklich. Ja, ja, sieh nur zu, Agnes! Lernst du das von mir? Siehst du nicht auf diesem Bild, welchen Anstand ich hatte, als ich jung war? Sah ich nicht aus wie eine Edelfrau?«

Ich antwortete auf alles dies mit meiner Einladung, die ich sowohl in Lysens als in Frau Rosaliens Namen ausrichtete; auch brachte ich einige Gründe vor, warum jener nicht selbst kommen könne, indes die Mutter einmal über das andere rief: »So mach, so mach, Nesi! Jesus Maria, wie reiche Leute sind da beisammen! Ein bißchen zu klein, ein bißchen zu klein ist die gnädige Frau, sonst aber reizend! Nun kannst du nachholen, was du gestern etwa versäumt und verbrochen! Geh, kleide dich an, Undankbare! mit den kostbaren Sachen, die Herr Lys dir geschenkt! Da liegt der Halbmond am Boden! Aber zuerst muß ich dir das Haar machen, wenn's der Herr erlaubt!«

Agnes setzte sich mitten in die Stube, und ihre Wangen röteten sich leise von wieder aufkeimender Hoffnung. Die Mutter frisierte sie nun mit großer Geschicklichkeit. Sie führte nicht ohne Anmut den Kamm, und als ich die hochgewachsene Frau betrachtete und die immer noch schönen Anlagen und Züge ihres Gesichtes sah, mußte ich gestehen, daß ihre Eitelkeit einst berechtigt gewesen sei.

Agnes saß mit bloßem Halse, von der Nacht der aufgelösten Haare überschattet, und es gewährte mir einen lieblich ruhevollen Anblick, wie die Mutter die langen Stränge kämmte, salbte und flocht und dabei weit zurücktreten mußte. Sie sprach fortwährend, indessen wir andere schwiegen und wohl wußten warum. Ich merkte aus allen den Reden, daß Agnes ihrer eigenen Mutter von dem Unsterne der Nacht noch nichts anvertraut hatte, und entnahm daraus, wie grausam die Sache sie würgen mußte.

Endlich war das Haar ungefähr so gemacht, wie es gestern gewesen, und Agnes ging mit der Mutter nach ihrem gemeinsamen Schlafzimmer, das Dianengewand wieder anzuziehen; sobald sie aber damit nur einigermaßen zustande gekommen, erschienen sie wieder und vollendeten den Anzug in meiner Gegenwart, weil die Alte sich unterhalten und so viel wie möglich von dem Feste, und wie alles verlaufen sei, erfahren wollte. Dann aber brachte sie schnell eine kräftige Schokolade, ihre Lieblingsnahrung, deren Bestandteile nebst Gebäck sie schon seit dem frühen Morgen in Bereitschaft gehalten für den erwarteten Besuch des assyrischen Königs.


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