Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Am Pfingsttage war ich schon früh auf den Füßen; unsere Trommler, als die allerkleinsten auch die muntersten Burschen, durchzogen in ansehnlichen Haufen die Stadt, umschwärmt von marschbereiten Schülern, und ich beeilte mich, zu ihnen zu stoßen. Meine Mutter hatte aber noch gar viel zu besorgen; sie füllte meinen Tornister mit Eßwaren, hing mir ein artiges Reisefläschchen um, mit Wein gefüllt, steckte mir noch hie und da etwas in die Taschen und gab mir gute Verhaltungsregeln. Ich hatte längst mein Gewehr auf der Schulter und die Patrontasche umgehängt, worin auch mein großer Taler steckte, und wollte mich endlich ihren Händen entreißen, als sie ganz verwundert sagte, ich werde doch etwas Geld mitnehmen wollen. Hierauf nahm sie das bereits Abgezählte hervor und unterwies mich, wie ich es einzuteilen hätte. Es war zwar nicht überreichlich, aber doch anständig und vollkommen hinreichend und selbst für unvorhergesehene Fälle berechnet. In einem Papiere war noch ein besonderes Stück eingewickelt, welches ich in dem gastfreundlichen Hause, wo ich einquartiert würde, den Dienstboten zu geben hätte. Wenn ich die Sache recht betrachtete, so war dies auch die erste Gelegenheit, wo eine solche Ausstattung eigentlich notwendig schien, und die Mutter ließ es also nicht an dem Ihrigen fehlen. Aber nichtsdestominder war ich überrascht; ich geriet in die größte Verlegenheit und Aufregung, und indem ich die Treppen hinunterstieg, drangen mir seltenerweise Tränen aus den Augen, daß ich sie hinter der Haustür abtrocknen mußte, ehe ich auf die Straße trat und zu dem fröhlichen Haufen stieß. Der allgemeine Jubel hätte in meinem Gemüte, welches durch die liebevolle Sorge der Mutter bewegt war, einen um so empfänglicheren Grund gefunden, wenn nicht der Taler in der Tasche mir wie ein Stein auf dem Herzen gelegen hätte. Jedoch als sich die ganze Schar zusammenfand, das Kommando ertönte und wir uns ordneten und abzogen, wurden meine düsteren Gedanken gewaltsam unterdrückt, und als ich, zur Vorhut eingeteilt, schon auf den freien Höhen ging unter dem morgenfrischen Himmel und der lange Zug schimmernd und singend, mit wehender Fahne, sich zu unseren Füßen heranbewegte, da vergaß ich alles und lebte nur dem Augenblicke, welcher Perle für Perle von der glänzenden Schnur der nächsten Erwartung fiel. Wir führten ein lustiges Vorhutleben; ein alter Kriegsmann, in fremden Diensten ergraut und nun dazu verwendet, uns kleinen Nesthüpfern das Handwerk beizubringen, leitete uns an zu allerlei Schabernack und ließ sich unablässig bestürmen, aus unseren Feldflaschen zu trinken, was er mit scharfer Kritik des Inhaltes tat. Wir waren stolz, keinen der Schulmänner bei uns zu haben, welche die große Kolonne begleiteten, und hörten andächtig die Kriegsabenteuer, so uns der alte Soldat erzählte.

Zur Mittagszeit machte der Zug in einem sonnigen unbewohnten Talkessel halt; der wilde Boden war mit vielen einzelnen Eichen besetzt, um welche sich das junge Volk lagerte. Wir Leute von der Vorhut aber standen auf dem Berge und schauten zufrieden auf das fröhliche Gewühl hinunter. Wir waren still geworden und schlürften den stillen glanzvollen Tag ein; der alte Feldwebel lag froh an der Erde und blinzte in den ruhevollen Horizont hinaus, über blaue Ströme und Seen hin. Obgleich wir noch nichts von landschaftlicher Schönheit zu sagen wußten und einige vielleicht in ihrem Leben nie dazu kamen, fühlten wir alle doch ganz die Natur, und das um so mehr, als wir mit unserem Freudenzuge eine würdige Staffage in der Landschaft bildeten, selbst handelnd darin auftraten und daher der empfindsamen Sehnsucht untätiger Naturbewunderer enthoben waren. Denn ich habe erst später erfahren und eingesehen, daß das müßige und einsame Genießen der gewaltigen Natur das Gemüt verweichlicht und verzehrt, ohne dasselbe zu sättigen, während ihre Kraft und Schönheit es stärkt und nährt, wenn wir selbst auch in unserm äußern Erscheinen etwas sind und bedeuten, ihr gegenüber. Und selbst dann ist sie in ihrer Stille uns manchmal noch zu gewaltig; wo kein rauschendes Wasser ist und gar keine Wolken ziehen, da macht man gern ein Feuer, um sie zur Bewegung zu reizen und sie nur ein bißchen atmen zu sehen. So trugen wir einiges Reisig zusammen und fachten es an; die roten Kohlen knisterten so leis und angenehm, daß auch unser grauer und rauher Führer vergnügt hineinsah, während der blaue Rauch dem Heerhaufen im Tale ein Zeichen unseres Aufenthaltes war; trotz der mittäglichen Sonnenhitze schien uns die erhöhte Glut des Feuers lieblich; wir verlöschten es ungern, als wir abzogen. Gar zu gern hätten wir einige Schüsse in die stille Luft gesandt, wenn es nicht streng untersagt gewesen wäre; ein Knabe hatte schon geladen und mußte den Schuß kunstgerecht wieder aus dem Gewehre ziehen, was ihm so peinlich war als einem Schwätzer das Unterdrücken eines Geheimnisses.

Im Scheine des Abendgoldes sahen wir endlich die befreundete Stadt vor uns, aus deren mit Blumen und grünen Zweigen bekleidetem, altertümlichem Tore die so wie wir gerüstete Jugend uns entgegentrat, umgeben von den schaulustigen und freundlichen Eltern und Geschwistern. Ihre Artillerie löste uns zu Ehren eine Anzahl von Schüssen; wir betrachteten mit kritischem Auge, wie die kleinen Kanoniere neben der Mündung mit ebenso zierlicher Verrenkung sich zurückbogen, wenn die Lunte sich dem Brander näherte und nach dem Schusse ebenso hampelmännisch sich mit dem Wischer auslegten, wie das alles bei uns üblich war. Noch mehr Ursache zur Eifersucht gaben uns die hübschen Perkussionsgewehre, womit unsere Kameraden einherzogen, da wir selbst nur alte Steinschlösser hatten, welche sich dann und wann erlaubten zu versagen. Die Regierung dieses Kantons stand ein wenig im Geruche, in ihrem aufgeweckten Sinne für alles Gute und Schöne manchmal mehr Aufwand zu machen, als sich mit haushälterischen Bedächtigkeit vertrüge, und hatte demgemäß für ihre Schuljugend solche neue Waffen beschafft zu einer Zeit, wo dergleichen erst bei größeren Militärstaaten in der Einführung begriffen waren. So hörten wir denn, während unsere Freunde uns wohlgefällig erklärten, wie bei ihnen während der Ladung die Bewegung von »Pulver auf Pfann'« nun wegfiele, unsere erwachsenen Begleiter heimlich einen bedächtigen Tadel über solchen Aufwand aussprechen. Doch waren wir endlich ermüdet und gaben uns willig den Einladungen der Familien hin, welche sich so eifrig um unsere Beherbergung stritten, daß unsere ganze Schar in ihren offenen Armen so schnell verschwand wie ein flüchtiger Regenschauer im heißen durstigen Erdreiche. Wir sahen uns nun vereinzelt in die Mitte häuslicher Wirtlichkeit versetzt als Gegenstand festlichen Wohlwollens und belohnten diese Gastfreundschaft dadurch, daß wir, als ob wir in Feindesland wären, beim Schlafengehen unsere Flintchen mitnahmen und neben die großen Gastbetten stellten, welche zu ersteigen wir alle unsere Turnerkünste aufbieten mußten.

Das Fest des anderen Tages erfüllte alle Erwartungen. Der Wetteifer ließ beide Parteien bei den Übungen gleich wohl bestehen; gegen die Perkussionsgewehre unserer Nebenbuhler aber hatten wir einen anderen Trumpf auszuspielen. Indem ihre Artillerie nämlich nur blind zu schießen gewohnt war und keine Kugeln kannte, schoß die unserige so geschickt nach dem Ziele, daß das bei solcher Gelegenheit stehende Sprichwort: »Die Kleinen machten es wahrlich besser denn die Großen!« diesmal nicht ganz unrichtig war und die Nachbarn dem ernsthaften Richten der Geschütze verwundert zuschauten.

Ein großes Festmahl, welches einige tausend junge und alte Menschen vereinigte, wurde auf einer grünen Wiese eingenommen. Beliebte Jugendfreunde hielten Tischreden und trafen in denselben das Rechte, indem sie, anstatt uns in hohlem frühreifem Ernste zu halten, in reinem Humor den Ton unschuldiger Fröhlichkeit anstimmten, ihr Alter vergaßen, ohne kindisch zu tun, und uns dadurch desto leichter lehrten, die Freude nicht ohne Witz zu genießen. Darauf zog eine Reihe feiner Mädchen aus dem Tore an uns vorbei auf einen geebneten Rasenplatz und lud uns mit Gesang zu Spiel und Tänzen ein. Sie waren alle weiß und rot gekleidet und entfalteten sich in der lieblichsten Blüte vom kindlichen Lockenkopfe bis zur angehenden Jungfrau; hinter dem weiten Kranze ragte manch weibliches Haupt in reifer Schönheit, um die zarten Pflänzlinge zu überwachen und bei guter Gelegenheit selbst noch ein bißchen jugendlicher über den Rasen zu schlüpfen, als in sonstigen Tagen erlaubt war. Hatten doch die Männer ihrerseits die Gelegenheit auch ersehen und die Lust der Kinder bereits zu ihrer eigenen Sache erklärt und schon mit mancher Flasche besiegelt! Unsere tapfere Schar näherte sich in dichtem Haufen dem flüsternden Kreise der Schönen, keiner wollte recht der vorderste sein; unsere Sprödigkeit ließ uns fast feindlich und düster aussehen, während das Anziehen der weißen Handschuhe ein weitgehendes Flimmern und Schimmern verursachte. Doch es zeigte sich nun, daß die Hälfte der Handschuhe überflüssig war, indem wir in zwei verschiedene Teile zerfielen, in solche Knaben nämlich, welche größere Schwestern zu Hause hatten, und in solche, welche dieses angenehme Glück nicht kannten. Die ersteren zeigten sich als zierliche Tänzer, welche bald gesucht und ausgezeichnet wurden, indessen die letzteren wie ungeleckte Bären über den Rasen stolperten und nach einigen mißlungenen Abenteuern sich aus den Reihen stahlen und bei den Trinktischen zusammenfanden, wo wir mit energischem Gesang ein wildes Soldatenleben führten, als rauhe Krieger und Weiberfeinde, und uns gegenseitig einzubilden suchten, daß die Mädchen doch häufig nach unserem tüchtigen Treiben herüberschielten. Unser Zechen bestand zwar mehr in einer bescheidenen Nachahmung der Alten und überwand den natürlichen Widerwillen gegen Unmäßigkeit nicht, der noch in jenem Lebensalter liegt; doch bot es hinlänglichen Spielraum für unsere kleinen Leidenschaften. Der Weinbau dieser Landschaft war bedeutender und edler als bei uns; daher hatten unsere jungen Nachbarn schon eine entschiedenere Färbung in ihrer Fröhlichkeit und vertrugen ein stärkeres Glas Wein als wir, so daß sie ihren Ruf vollkommen rechtfertigten. Da galt es nun, sich hervorzutun; ich gab mich diesem Bestreben ohne Rückhalt hin, meine wohlversehene Kasse verlieh mir die nötige Sicherheit und Freiheit, und dieser folgte alsobald eine gewisse Achtung meiner Umgebung. Wir durchzogen Arm in Arm die Stadt und die Lustplätze vor derselben; das schöne Wetter, die Freude, der Wein regten mich auf und machten mich geschwätzig und ausgelassen, keck und gewandt; aus einem stillen und blöden Fernesteher war ich urplötzlich ein lauter Tonangeber geworden, der sich in übermütigen Bemerkungen und Erfindung von Schwänken erging und welchen die übrigen Wortführer, die sich bisher wenig aus mir gemacht, sogleich anerkannten und hätschelten. Die Eigenschaft als Fremder, der neue Schauplatz erhöhte noch die Stimmung. Es ist schwer zu entscheiden, was größer war, ob meine Redseligkeit, mein Freudenrausch oder meine erwachte Eitelkeit; kurz ich schwamm in einem ganz neuen Glücke, welches am dritten Tage womöglich noch zunahm, als wir heimwärts zogen und die allseitige Zufriedenheit sowie die freiere Ordnung und Haltung eine neue Reihe fröhlicher Auftritte veranlaßten.

Als ich mit Sonnenuntergang das Haus meiner Mutter betrat, bestaubt und sonnverbrannt, die Mütze mit einem Tannenreise geschmückt, die Mündung des Gewehrchens und der eigene Mund prahlerisch von Pulver geschwärzt, da war ich nicht mehr der gleiche, wie ich ausgezogen, sondern einer, der sich mit den kecksten Führern der Knabenwelt in verschiedene Verabredungen und Versprechungen eingelassen hatte zur Fortsetzung des begonnenen Tones. Hauptsächlich sollten die tanzkundigen Feintuer oder Weichlinge, wie wir sie nannten, verhindert werden, uns bei der einheimischen Schönheit etwa in den Schatten zu stellen; wir wollten daher ihren zierlichen Künsten ein derbes militärisches Wesen, kühne Taten und allerlei Streifereien und Unternehmungen entgegensetzen zur Begründung eines bedenklichen Ruhmes. Voll von diesen Ideen und noch voll der durchlebten Freude, die ich so wenig erschöpft hatte als sie mich, fühlte ich mich in der besten Laune und erging mich in unserem Hause in lauten Erzählungen und prahlerischem, barschem Wesen, bis ich durch einige magische Witzkörner, die meine Mutter in die unbescheidene Brandung warf, für einmal zu Ruhe und Schlaf gebracht wurde.


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