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Heinrich schlief wie ein Murmeltier bis zwölf Uhr des anderen Tages; eben erwachte er und rieb sich sehr zufrieden die Augen, als der Graf hereinkam und sich nach ihm umsah. »Guten Tag, mein Lieber! Wie gehts Ihnen?« sagte er und setzte sich an das Bett, »bleiben Sie ruhig liegen und duseln sich gemütlich aus! Heinrich tat das auch und sagte: »O es geht gut, Herr Graf! Wie viel Uhr ist es denn?« – »Es ist gerade zwölf Uhr«, erwiderte jener, »es freut mich, daß Sie in meinem Hause so gut geschlafen haben. Nun halten Sie vorerst eine gute Einkehr bei uns und tun Sie ganz, als ob Sie bei den besten und zuverlässigsten Freunden wären, von denen Sie wohl hergestellt und guten Mutes wieder auslaufen werden! Aber nun hören Sie, Sie sind mir ja ein köstlicher Gesell! Wir blieben gestern Nacht noch ziemlich lange auf, und da wir von Ihnen sprachen, fiel uns ein, daß die Bildermappe noch im übel verschlossenen Gartensaale lag. Ich gehe selbst hin, sie zu holen, denn ich wünschte nicht, daß irgend ein Unheil damit geschehe, und bemerke, daß auf dem Kaminsims ein kleines verkommenes Paketchen liegt; ich mußte lachen und dachte: Gewiß sind dies die armütigen Effektchen unseres armen Kauzes von Vagabunden! Ich nahm es in die Hand und fand, daß die Hülle vom Regen und vom Tragen aufgelöst war und auseinanderfiel, und siehe da, statt etwa eines Strumpfes oder eines Schnupftuches, wie ich dachte, fällt mir ein ganz durchnäßtes Buch in die Hand; neugierig schlage ich es auf und sehe lauter Geschriebenes, und indem ich die erste Seite lese, vermute ich sogleich, daß Sie Ihre eigene Geschichte geschrieben haben. Ich sehe das Ding etwas genauer an und erkenne an den Data, daß es Ihre Jugendgeschichte ist, die Sie schon damals mit in die Fremde genommen haben und mit welchem Buche der Erinnerung, als Ihrer letzten Habseligkeit, Sie sich wieder aus dem Staube machen! Ich laufe mit den Sachen zurück und rufe: ›Seht, Leute! Unser Mensch schlägt sich mit seinem Jugendbuche durch Regen und Sturm, wie Vetter Camoens mit seinem Gedichte durch die Wellen! Der Spaß wird köstlich!‹ Dortchen nimmt das Buch und besieht es von allen Seiten. ›Ach du lieber Himmels ruft sie, ›das arme Buch ist ja durch und durch naß und droht zugrunde zu gehen! Das muß sogleich getrocknet werdend!‹ Es wird ein frisches Feuer in den Ofen gemacht, das Mädchen setzt sich auf ein Taburettchen davor und hält das Buch, die Blätter auseinanderschüttelnd und es umwendend und kehrend, sorgfältig an das Feuer, und in weniger als einer Viertelstunde ist das tapfere Werk heil und gerettet. Nun aber lasen wir noch länger als zwei Stunden darin, an verschiedenen Stellen, und wechselten mit dem Vorlesen ab, und diesen ganzen Vormittag hab' ich auf meiner Stube darin gelesen. Auf den letzten Blättern stehen einige Gedichte, die haben Sie allem Anscheine nach erst neulich gemacht und hineingeschrieben?« Heinrich bejahte dies und wurde rot, und der Graf fuhr fort: »Ich will mich gar nicht entschuldigen für unsere Indiskretion; es macht sich so alles von selbst und wir wollen unsere Unverschämtheit nun mit gänzlicher Freundschaftlichkeit abbüßen. Zuerst muß ich Sie einmal küssen, Sie sind ein allerliebster Kerl!«
»Bitte, Herr Graf!« sagte Heinrich und duckte sich ein bißchen unter die Decke, »Sie sind allzugütig; aber ich mache mir nicht viel daraus, Männer zu küssen!«
»Ei sieh da!« rief der treffliche Mann, »Sie schlaues Bürschchen. Aber trotz alledem müssen Sie mich doch ein bißchen wohl leiden, ich verlange es!«
»O gewiß sag' ich Ihnen«, erwiderte Heinrich, mit schüchternen und doch zutulichen Worten; »ich kann Sie gar nicht genug ansehen, so sehr gefallen Sie meinen Augen und meinem Herzen!« Und er sah ihn dabei wirklich mit glänzenden Augen an.
»Nun denn«, sagte der Graf mit feinem und gerührtem Lächeln, »so müssen Sie durchaus geküßt sein zur Besiegelung unseres guten Einvernehmens!« Er umarmte Heinrich und küßte ihn herzlich, und dieser küßte ihn, sein leises Sträuben aufgebend, herzhaft und seine Augen füllten sich mit salzig heißem Wasser, da er endlich einen solchen älteren Männerfreund gefunden nach langem Irrsal. Denn über einen rechten Mann scheint die Welt wieder gelungen, recht und hoffnungsvoll zu sein. Schweigend sah er den Grafen an und dieser schwieg auch eine Weile; dann drückte Heinrich die Augen in das Kissen und suchte sie verstohlen zu trocknen, sagte aber dann: »Es geht mir recht närrisch! Als ich ein Schuljunge war, war nichts imstande, mir Tränen zu entlocken, und ich galt für einen verstockten Burschen; seit ich groß geworden bin, ist der Teufel alle Augenblick los und höchstens bring' ich es zu einem oder zwei gänzlich trockenen Jahrgängen!«
Der Graf nahm seine Hand und sprach: »Gedulden Sie sich noch ein paar Jährchen und dann wird es vorbei sein und standhaftes trockenes Sommerwetter werden. Es ging mir gerade so vor zwanzig und dreißig Jahren und reut mich noch heute nicht! Doch nun stehen Sie auf, ziehen sich an und frühstücken. Wissen Sie was! Ich werde es hierher bestellen, und Sie erzählen mir wie es Ihnen ergangen, das heißt Sie liefern mir eine förmliche Fortsetzung der Jugendgeschichte.«
Während Heinrich sich ankleidete und frühstückte, begann er zu erzählen und zündete dazu, als er mit Essen fertig war, eine gute Zigarre an, wie auch der Graf eine solche rauchte. Heinrich erzählte und beichtete mit Lust und frohem Mut, mit Härte und Schärfe, bald mutwillig, bald traurig, bald schnell und feurig, dann wieder langsam und bedenklich, und tat seinem Wesen nicht den mindesten Zwang an, ohne eine Unschicklichkeit zu sagen, oder wenn er eine solche sagte, so fühlte er es sogleich und verbesserte sich ohne großen Kummer; denn was aus einem schicklichen Gemüte kommt, ist leicht zu ertragen, und sein Zuhörer, obgleich er ein älterer Mann war, verbreitete nichts als Freiheit und Sicherheit um sich. Er war jung mit dem Jungen, ohne den Wert seiner Jahre zu verbergen, leicht beweglich und anmutig, doch mit dem Gewichte eines Mannes, der gelebt und gedacht hat und fest steht, wo er steht. Er hörte geläufig und aufmerksam zu, ohne ängstliche Spannung, und ließ sich ansehen, daß der Erzähler bei ihm zu Hause war und verstanden wurde mit feinem Sinne, auch wenn er ein Wort überhört hatte. Auch gab er sein Verständnis nicht mit Ausrufen und Wortstellungen zu erkennen, sondern hörte ebenso leicht und zwanglos, wie ihm erzählt wurde, und Heinrich konnte im Zimmer umhergehen, einen Gegenstand betrachten oder etwas hantieren, ohne dabei den Zuhörer beim Erzählen zu dessen Pein zu fixieren, ob er auch höre und verstehe? So sprach er zum ersten Mal, seit er jenes Buch geschrieben, wieder so recht aus sich heraus und fühlte mit bewegtem Herzen den Unterschied, wenn man dem toten weißen Papier erzählt oder einem lebendigen Menschenkind. So vergingen beinahe zwei Stunden, und als er mit seiner Ankunft auf dem Kirchhof geendet, sagte der Graf: »Wenn Sie als Maler ein Pfuscher gewesen wären, so hätte das Verlassen dieses Berufes gar keine Bedeutung und könnte uns hier nicht weiter beschäftigen. Da Sie aber, wie ich den Beweis im Hause habe, unter günstigeren Umständen oder bei besserer Ausdauer gar wohl noch eine so gute Figur hätten machen können, als so mancher sein Ansehen kümmerlich aufrechthaltende Gesell, der tut, als ob die Musen an seiner Wiege gestanden hätten, so gewinnt die Sache einen tieferen Sinn, und ich gestehe aufrichtig, daß es mir ausnehmend wohl gefällt und mir als ein stolzer und wohlbewußter Streich erscheint, ein Handwerk, das man versteht, durchschaut und sehr wohl empfindet, dennoch wegzuwerfen, wie einen alten Handschuh, weil es uns nicht zu erfüllen vermag, und sich dafür unverweilt die weite lebendige Welt anzueignen.«
»Sie täuschen sich«, unterbrach ihn Heinrich, »ich konnte wirklich nichts machen, ich habe es ja versucht, und auch bei günstigeren Verhältnissen würde ich höchstens ein stelzbeiniger dilettantischer Akademist geworden sein, einer jener Absonderlichen, die etwas Apartes vorstellen und dennoch nicht in die Welt und in die Zeit taugen!«
»Larifari!« erwiderte der Graf, »ich sage Ihnen, es war bloß Ihr guter Instinkt, der Sie damals nichts zuwege bringen ließ. Ein Mensch, der zu was Besserem taugt, macht das Schlechtere immer schlecht, gerade solange er es gezwungen und in guter Naivetät macht; denn nur das Höchste, was er überhaupt hervorbringen kann, macht der Unbefangene gut; in allem anderen macht er Unsinn und Dummheiten. Ein anderes ist, wenn er aus purem Übermut das Beschränktere wieder vornimmt, da mag es ihm spielend gelingen. Und dies wollen wir, denk ich, noch versuchen; denn Sie müssen nicht so jämmerlich davonlaufen, sondern mit gutem Anstand von dem Handwerk Ihrer Jugend scheiden, daß keiner Ihnen ein schiefes Gesicht nachschneiden kann! Auch was wir aufgeben, müssen wir elegant und fertig aufgeben und ihm mit geschlossener Abrechnung freiwillig den Rücken kehren. Dann aber wollen wir bestialische Flurschützen prügeln, dies sei unser Metier, in Liebe und Haß wirken, in Neigung und Widerstand! Sie werden aufhören, selbst Tränen zu vergießen, aber dafür andere deren vergießen lassen, die einen aus Freude, die anderen aus Zorn und Ärger! Aber jetzt vor allem zur Sache! Ich habe Ihre sämtlichen Studien bei dem alten Teufelskerl gekauft, Stück für Stück um einen Taler. Ich lief eifrig hin, damit mir ja keine entgehe, denn die Sachen gefielen mir wohl, ohne daß ich jedoch viel dabei dachte, und erst als ich sah, daß hier ein ganzer wohlgeordneter Fleiß stückweise zum Vorschein kam, vielleicht die heiteren Blütenjahre eines unglücklich gewordenen Menschen, gewann ich ein tieferes Interesse an den Sachen und sammelte sie sorgfältig auf, seltsam bewegt, wenn ich sie so beisammen sah und alle verschwendete Liebe und Treue eines Unbekannten, die Luft eines schönen Landes und verlorener Heimat herausfühlte; denn man sah wohl, daß dies nicht Reisestudien waren, sondern ein Grund und Boden vom Jugendlande des Urhebers. Der Trödler wollte mir aber nie sagen, wo derselbe aufzufinden, und beharrte eigensinnig auf seinem Geheimnis; er log mich an und sagte, es schicke sie ihm ein auswärtiger Händler, als ob der Kauz weiß Gott welche Geschäftsverbindungen hätte in seiner Spelunke. Nun sagen Sie aber: wollen Sie die Sachen wieder haben, oder wollen Sie mir dieselben lassen?«
»Sie sind ja Ihr Eigentum!« sagte Heinrich.
»Was da Eigentum! Sie werden doch nicht glauben, daß ich, nun ich Sie kenne und in meinem Hause habe, Ihre Mappe um solches Bettelgeld behalten will, das wäre ja wie gestohlen! Oder wollen Sie mich beschenken, Sie armer Schlucker?«
»Ich meine«, sagte Heinrich, »daß die Mappe ihre Dienste getan und sich für mich vollständig verwertet hat; erst habe ich etwas daran gelernt und, indem ich sie zusammenbrachte, nichts Schlechteres verübt; dann hat sie mir zur Zeit der Not das Leben gefristet und zwar auf eine Weise, durch welche ich wieder etwas gelernt habe, und auf die Größe der Summe kam es gar nicht an. Jeder Groschen hatte für mich den Wert eines Talers und machte mir ebenso großes Vergnügen als ein solcher, und so habe ich zu Recht bestehend mich der Sachen entäußert. Endlich hat sie mir Ihr Wohlwollen erworben und mir das artigste Abenteuer vorbereitet, und so denke ich, durch dies alles sei ich vollkommen entschädigt.«
»Dies würde alles ganz nach meinem eigenen Sinne sein, wenn die Umstände anders beschaffen wären. So aber ist es eine Düftelei, die wir lassen wollen. Ich bin reich und würde jetzt die Mappe unbedingt um jeden annehmbaren Preis kaufen, auch wenn Sie selbst gar nichts davon bekämen, also ganz ohne Rücksicht auf Sie. Lernen Sie auf Ihrem Rechte bestehen, wo es niemand drückt und ängstiget, wenn Sie Recht gewähren wollen, und nehmen Sie den Erwerb, der Ihnen gebührt, ohne Scheu, nachher können Sie damit tun, was Sie wollen! Also nennen Sie mir einen Preis, wie er Ihnen gut dünkt, und ich werde noch froh sein, die Sachen zu behalten.«
»Gut denn«, sagte Heinrich lachend, »so wollen wir den Handel abschließen! Es sind über achtzig Blätter; geben Sie mir für jedes ineinander gerechnet einen Louisd'or! Manches darunter würde ich, wenn ich ein florierender Künstler wäre, nicht für zehn verkaufen, aber bei einem solchen Handel in Bausch und Bogen ist es nicht also zu nehmen; davon ziehen Sie dann achtzigmal den Taler ab, den Sie dem Alten für jedes Stück gegeben, so wird die Affäre so ziemlich ehrbar und für beide Teile leidlich ausfallen!«
»Sehen Sie wohl!« sagte der Graf und gab ihm lachend die Hand, »so gefallen Sie mir! Hätten Sie zu wenig oder zu viel verlangt, so würden Sie mir in beiden Fällen nicht gefallen haben! Auch den Abzug des Talers nehme ich an und habe absichtlich gleich Geld mitgebracht; hier ist es, damit sie mit einem guten Pfennig in der Tasche, als Gast und nicht als Bettler, an unseren Mittagstisch kommen, wohin wir jetzt gehen wollen!«
Heinrich steckte die Papiere in die Brusttasche und einiges Silbergeld, welches die betreffende Summe vervollständigte, in die Westentasche, denn eine Börse besaß er nicht, und indem er an des Grafen Arm nach dem Familienzimmer ging, sagte er: »Wenn ehemals ein abenteuernder Held in einer befreundeten Burg einkehrte und sich erholte, so reichte man ihm ein neues Schwert, wenn das seinige im Kampfe mit den Riesen und Ungeheuern zerbrochen war. Heute reicht man ihm, wenn es recht hoch und kühnlich hergeht, ein Bündel Banknoten, welche er auch ganz stillvergnügt einsteckt und mit denen er, statt eines Schwertes, um sich schlagen und weiterfechten muß, um sich Luft zu schaffen für seine wunderlichen und unerheblichen Taten.«
»So ist es«, antwortete der Graf, »darum sehen Sie zu, daß Ihnen das moderne Schwert nie mehr zerbricht! Denn nur wenn Sie Geld haben, brauchen Sie am wenigsten an dasselbe zu denken und befinden sich nur dann in vollkommener Freiheit! Wenn es nicht geht, so kann man allerdings auch sonst ein rechter Mann sein; aber man muß alsdann einen absonderlichen und beschränkten Charakter annehmen, was der wahren Freiheit auch widerspricht!«
Als sie in das Zimmer traten, kam ihnen Dorothea entgegen und begrüßte Heinrich freundlich, doch mit einer gewissen anmutigen Gemessenheit, indem sie einen leichten Knix machte, sich gleich wieder bolzgrad aufrichtete, den Lockenkopf allerliebst auf eine Seite neigte und den Gast mit reizender Hochgnädigkeit ansah. Auch trug sie ein Kleid von schwerem schwarzen Atlas, das sehr aristokratisch geschnitten war, um den Hals eine feine Spitzenkrause, in welcher sich ein glänzendes Perlenhalsband verlor, nicht ohne sich zuerst um ein Stückchen des weißen fräuleinhaften Halses zu schmiegen.
Der Graf sah seine Tochter etwas überrascht an, auch schaute er sich um und sagte verwundert: »Ich dächte, wir wollten essen? und wo hast du denn decken lassen?« »Ich habe heute im Rittersaal decken lassen«, sagte sie, »wir haben so lange nicht da gegessen und der Herr grüne Heinrich kann sich da am besten orientieren, bei wem er eigentlich ist, wir haben uns, die wir ihn nun schon mehr kennen, ihm eigentlich noch gar nicht vorgestellt und kaum weiß er, wie wir heißen!«
Der Graf, welcher nicht wußte, was sie im Schilde führen mochte, ließ sie gewähren und so begab man sich durch einige Gänge des weitläufigen Hauses nach einem langen, etwas düstern Saal. Dieser war von unten bis oben mit Ahnenbildern angefüllt, fast durchgängig schöne Männer und Frauen in allen Lebensaltern, die der Tracht und der Kunst nach zu urteilen bis zum Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts hinaufreichten. Von da ab waren aber noch wohl drei Jahrhundert dargestellt in Waffen, silbernen Geschirren, Hauschroniken in allerhand Pergamentbänden, altertümlichen Urkundenschränken und Kuriositäten aller Art, welche sämtlich mit Daten, Wappen und deutlichen Merkmalen versehen waren. Die Fenster waren zum größten Teil mit gemalten Scheiben bedeckt, auf welchen allen das Wappen des Hauses mit demjenigen der eingeheirateten Frauen verbunden über biblischen Handlungen und Legenden schwebte. Auch war darin das Hauswappen in allen seinen Wandlungen, von seiner ersten kriegerischen Einfachheit bis zu seiner letzten Vermehrung und Zusammensetzung zu sehen. Der Boden des Saales war ganz mit hochrotem Tuche bedeckt, was zu den dunklen alten Möbeln und Bilderrahmen prächtig und romantisch abstach, während die Tritte der Gehenden nur leise darauf ertönten; in dem Kamin von schwarzem Marmor glühten große Eichenklötze, und da das Gemach der langen Verschlossenheit wegen durchräuchert worden, erhöhte der feine Duft noch die Feierlichkeit und Vornehmheit dieses Aufenthaltes.
»Ich habe«, sagte der Graf, »meinen ganzen Familienkram hier auf einen Punkt aufgestapelt, da dergleichen auch sein Recht will und sich nicht so leicht entäußern läßt, als man glauben möchte. Sehen Sie sich ein wenig um, es sind manche hübsche Sachen darunter!«
Heinrich sah sich lebhaft um und bezeugte große Freude über die vielen wertvollen Stücke und über das Merkwürdige, was hier aufgehäuft war; unter den Bildern waren manche von den besten Meistern der verschiedenen Zeiten und Orte, wo die alten Herren auf ihren Zügen und Gesandtschaften sich umgetrieben. Andere, wenn auch von dunkleren örtlichen Pinselieren gemalt, machten sich durch ihren charaktervollen Gegenstand und dessen Schicksal geltend, das ihnen auf der Stirne stand; vorzüglich aber gefielen ihm die vielen feineren oder keckeren Kindergesichter, welche gleich den Blüten an diesem großen Baume zwischen den reifen Früchten überall hervorlächelten, deren Schicksal, dessen Beginn und Morgenrot hier für immer festgehalten schien, nun auch seit Jahrhunderten erfüllt und in die Erde gelegt war oder gar nicht zur Erfüllung gekommen, da ein Kreuz oder ein denatus [gestorben] ansagte, daß sie als Blüten schon vom Baume geweht worden. Manches gemalte Schwert und Panzerstück war im gleichen Saale auch in Wirklichkeit vorhanden, und der Graf hielt ihm die schweren Stücke mit leichter und kundiger Hand vor, indessen Heinrich sie auch nicht wie ein Mädchen ihm abnahm, da ihm die Waffenfähigkeit und Liebhaberei seines Geburtslandes in den Fingern steckte. Dorothea hingegen bewegte sich rasch und gefällig herum, stieg auf Schemel und Tritte, um einen alten silbernen Becher oder ein Kästchen herabzuholen, und wies und erklärte die Sachen mit freundlicher, aber fast mitleidiger Höflichkeit, was indessen Heinrich, der vollauf mit dem Beschauen der Gegenstände beschäftigt war, nicht bemerkte, sondern nur als einen angenehmen Eindruck zu dem übrigen empfand, ohne darauf zu achten. Erst als sie sich zu Tische setzten und man sich gegenübersaß, wo Dorothea, die den Männern vorlegte, mit noch erhöhter vornehmer Freundlichkeit und Herablassung den Gast nach seinen Wünschen und Bedürfnissen fragte, fiel ihm dies Wesen auf, das ihm gestern gar nicht vorhanden geschienen. Es gefiel ihm aber gar wohl, da er geneigt war, solchen schönen Geschöpfen nichts übel zu nehmen, wenn sie nicht gerade zu herzlos waren, und um sie darin zu bestärken und ihr einen Gefallen zu tun, sagte er: »Solche Anschaulichkeit und Durchsichtigkeit einer langen Vergangenheit sind doch eine Art von Concretum, das sich nicht willkürlich vergessen und verwischen läßt. Wenn es einmal da ist, so ist es da, und man kann sich nicht verhindern, an dem Vorhandenen seine Freude zu haben!«
»Gewiß«, erwiderte der Graf, »nur ist es töricht, willkürlich fortsetzen und machen zu wollen, was unter ganz anderen Verhältnissen und Bedingungen geworden ist. Desnahen nenne ich mich auch ungeniert noch von so und so, weil diese Landschaft so heißt und nicht meine Person, welche kein Berg, sondern ein Mensch ist. Schon weil seltenerweise das Grundstück nie aus unserem Besitz gekommen ist und fortwährend welche von uns hier gewohnt haben in gerader Linie, so erfordert eine gewisse Dankbarkeit gegen diese Erscheinung, daß man ihr die Ehre gebe. Ich selbst habe eine bürgerliche Frau genommen, welche früh gestorben ist und mir keinen Erben hinterließ; ich habe sie so geliebt, daß es mir nicht möglich war, wieder zu heiraten, und wenn es nicht zu seltsam klänge, so wäre ich fast froh, keinen Sohn zu hinterlassen; denn wenn ich mir denken müßte, daß diese Familiengeschichte noch einmal achthundert Jahre fortdauern könnte oder wollte, so würde mir dieser Gedanke Kopfschmerzen machen, da es Zeit ist, daß wir wieder untertauchen in die erneuende Verborgenheit. Ich selbst bin im Verfall des alten Reiches geboren und eigentlich schon ganz überflüssig, so daß sich unser Stamm müde fühlt in mir und nach kräftigender Dunkelheit sehnt. Wenn ich einen Sohn hätte, so würde ich auch Besitz und Stamm gewaltsam aufgegeben haben und dahin gezogen sein, wo kein Herkommen gilt und jeder von vorn anfangen muß, damit das Leibliche der Linie gerettet werde und ferner nütze und genieße, da dieses am Ende die Hauptsache ist.«
Heinrich freute sich dieser Reden und fühlte sich durch sie geehrt. »Ist jene stolze schöne Dame, welche dazumal das Hündchen auf den Tisch setzte, vielleicht Ihre Gemahlin gewesen?« fragte er mit höflicher Teilnahme.
»Nein«, sagte der Graf lachend, »das ist meine Schwester; die lebt als Gattin eines alten Edelmannes vom stolzesten Geblüte tief in Polen und ist ganz verbauert; auch hat sie zur Strafe für ihre Narrheiten schon vier Jahre in Sibirien zubringen müssen mit ihrem Eheherrn. Übrigens ist es eine ganz gute und liebe Dame, und wenn ich sterbe, so werde ich diesen ganzen Trödel hier zusammenpacken lassen und ihr zuschicken; vielleicht, wenn es gut geht, rutscht er mit der Zeit weiter ostwärts wieder nach Asien hinüber, woher unsere Urväter gekommen sind, und findet da ein gemütliches Grab!«
Dorothea, welche sah, daß ihrem Gaste diese Reden sehr behagten, aber selbst in ihrem Hochmut verharrte, sagte nun in der alten halb teilnehmenden, halb gleichgültigen, ja sogar fast mokanten Weise zu ihm: »Sie scheinen aber auch von einer Art guter Herkunft zu sein, Herr Lee? wenigstens freuen Sie sich am Anfang Ihres hübschen Buches Ihrer wackeren bürgerlichen Eltern?«
»Allerdings«, sagte Heinrich, dem diese Frage in diesem Augenblick etwas überquer kam, errötend, »bin ich auch nicht auf der Straße gefunden!«
Da klatschte sie plötzlich jubelnd in die Hände, indem sie wieder ihre gestrige offene und natürliche Art annahm, und rief fröhlich: »Nun hab ich Sie doch gefangen! Aber ich bin auf der Straße gefunden, wie Sie mich da sehen!«
Heinrich sah sie verblüfft an und wußte nicht, was das heißen sollte, indessen sie fortfuhr sich zu freuen und rief: »Sehen Sie, nun könnt ich Sie doch noch verblüfft machen, der sich von diesen Herrlichkeiten so gar nicht verblüffen ließ! Ja ja, mein gestrenger Herr von braver Abkunft, ich bin das richtigste Findelkind und heiße mit Namen Dortchen Schönfund und nicht anders, so hat mich mein lieber Pflegepapa getauft!«
Heinrich sah den Grafen verwundert an und dieser lachte und sagte: »Ei, ist dies also nun das Ziel deines Witzes? Wir mußten nämlich gestern abend lachen, lieber Freund! als wir Ihre Worte lasen: wenn Sie sich selbst bei der Nase fassen, so seien Sie sattsam überzeugt, daß Sie zweiunddreißig Ahnen besäßen! Als wir aber dann die ganz gesunde Freude lasen, welche Sie doch äußern, so ehrliche Eltern zu besitzen, und wie Sie sich doch nicht enthalten können, über die Vorfahren einige Vermutungen aufzustellen, mußten wir wieder lachen; nur das liebe Kind hier schmollte und beklagte sich, daß alle, Adelige wie Bürgerliche und Bauern, sich ihrer Abkunft freuen und nur sie allein sich gänzlich schämen müsse und gar keine Herkunft habe; denn ich habe sie wirklich auf der Straße gefunden und sie ist meine brave und kluge Pflegetochter.« Er streichelte ihr wohlgefällig die Locken, Heinrich aber war ganz beschämt und sagte kleinlaut: »Ich glaube wenigstens zu sehen, daß ich Sie nicht ernstlich beleidigt habe, mein Fräulein! – Was jene Anzüglichkeiten betrifft in meinem Geschreibsel über die adelige und bürgerliche Herkunft, so glaube ich nicht, daß ich sie jetzt noch machen würde; denn ich habe seither gelernt, daß jeder seine Würde am füglichsten wahrt, wenn er andere vor allen Dingen als Menschen betrachtet und gelten läßt und dann sich gar nicht mit ihnen vergleicht und abwägt, haben sie auch welche Stellung und Meinungen sie wollen, sondern auf sich selbst ruht, sich nicht verblüffen läßt, aber auch nicht darauf ausgeht, andere zu verblüffen, denn dies ist immer unhöflich und von ordinärer Art. So gestehe ich, daß ich die jetzige Beschämung vollkommen verdient habe, indem ich mich doch verlocken ließ, die vermeintlich stolze Gräfin abtrumpfen zu wollen, anstatt sie in ihrer Art und Weise ungeschoren zu lassen! Übrigens ist Ihre Abkunft doch noch die vornehmste, denn Sie kommen so recht unmittelbar aus Gottes weiter Welt, und man kann sich ja die hochgestelltesten und wunderbarsten Dinge darunter denken!«
»Nein«, sagte der Graf, »wir wollen sie um Gottes willen nicht zu einer verwunschenen Prinzessin machen, die Sache ist sehr einfach und klar. Vor zwanzig Jahren, als meine Frau eben gestorben, trieb ich mich sehr ungebärdig und schmerzlich im Lande herum und kam an die Donau. Eines Abends, als eben die Sonne unterging, fand ich in ihrem Scheine ein zweijähriges Kind mutterseelenallein im Felde auf einem hölzernen Bänkchen sitzen, das unter einem Apfelbaume war. Die Schönheit des Kindes rührte mich und ich blieb stehen, da es zugleich verlangend die Ärmchen nach mir ausstreckte und durch reichliche Tränen lächelte, so froh schien es, einen Menschen zu sehen. Ich schaute lange aus, ob niemand Angehöriger in der Nähe sei, und da ich niemand entdeckte im weiten Felde, setzte ich mich auf das Bänkchen und nahm das Kind auf den Schoß, das auch alsogleich einschlief. Da nach Verlauf einer halben Stunde sich niemand zeigte, nahm ich es getrost auf den Arm und ging nach dem nächsten Dorfe, um Nachfrage zu halten. Das Kind gehörte nicht in das Dorf, noch in die Gegend überhaupt; hingegen erfuhr ich, daß im Laufe des Nachmittages eine Schar Auswanderer durchgezogen mit Weib und Kindern, die nach dem südlichen Rußland gingen und sich etwas weiter unten am Flusse den folgenden Morgen einschiffen wollten. Ich gab das Kind nicht aus den Händen, blieb in dem Dorfe über Nacht und begab mich mit dem Morgengrauen nach der bezeichneten Stelle, wo ich den Trupp schon im Begriffe fand zu Schiffe zu gehen. Es fand sich, daß die Mutter des Kindes, eine junge Witwe, unterwegs gestorben und begraben worden und daß die Gesellschaft dasselbe gemeinschaftlich mitgenommen. Aber noch war es nicht einmal vermißt worden, das arme Geschöpfchen, das sich während des Ausruhens verlaufen, und die guten Leute erschraken sehr, da ich mit dem lieben Tierchen unvermutet erschien. Es brauchte indes nicht viel Beredsamkeit, bis sie mir meinen Fund überließen, da er so viel wie nichts besaß und die arme tote Mutter auf ihre gute Person allein die Hoffnungen der Zukunft gegründet hatte. Aber so eilig ging es zu mit der Abfahrt, daß ich mich nicht einmal nach den genaueren Namen erkundigen konnte. Das wurde rein vergessen und ich erinnerte mich nachher nur, daß die Leute aus Schwaben gekommen. Von dem Kinde erfuhr ich, daß es Dortchen heiße, und so nannte ich es Dortchen Schönfund, als ich ihm später sein Heimatsrecht bei mir sicherte, und so wissen wir endlich nur, daß Dortchen Schönfund hier ein Schwäblein ist! Es nahm aber von Jahr zu Jahr so sehr und mit solcher Leichtigkeit zu an Anmut, Tugend und Sitte, daß wir die kleine Hexe ohne Wahl vollkommen als die Tochter des Hauses halten und noch froh sein mußten, wenn sie nicht uns über den Kopf wuchs in allen guten Dingen. Meine Schwester, die Adelige, wollte auch durchaus Mittel finden, das Wesen durch irgend einen armen Teufel von Grafen zur Aufrechthaltung dieses alten Kastells zu verwenden, aber, wie gesagt, hieran ist mir nichts gelegen und Schönfündchen ist mir dazu zu gut!«
Das Fräulein hatte bei Erwähnung ihres Fundes und besonders ihrer armen unbekannten Mutter einige heiße Tränen vergossen, das schöne Köpfchen vornübergebeugt und in das Taschentuch gedrückt. Doch lächelte sie schon wieder und sagte: »So, Herr Lee! nun kennen Sie meine glorreiche Geschichte und können mich bedauerlich ansehen! Nun, so sehen Sie mich doch ein bißchen bedauerlich an!«
»Ich werde mich wohl hüten«, sagte dieser, »ich empfinde erst recht den tiefsten Respekt, Fräulein! und sehe gar nichts an Ihnen, das zu bedauern wäre; vielmehr bedauert man sich sogleich selbst, wenn man so vor Ihnen dasitzt.« Er schämte sich aber dies gesagt zu haben und sah verlegen auf seinen Teller, während er in der Tat eine erhöhte Ehrerbietung gegen das Mädchen empfand, da alle ihre Feinheit und Würde einzig in ihrer Person beruhte und weder erworben noch anerzogen schien.
Als man aufstand, hatte der Graf einige Geschäfte mit den Landleuten abzutun und ließ Heinrich die Wahl, ob er ihn begleiten oder sich allein in Haus und Garten umtreiben oder in der Gesellschaft seiner Pflegetochter bleiben wolle. Heinrich zog vor, da es ihm schicklicher schien, sich in die Gärten zu begeben, und tat dies auch, nachdem der Graf sich entfernt. Die Sonne hatte wieder den ganzen Tag geschienen und es war ein heiteres warmes Herbstwetter geworden.
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