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Infolge der Angst, welche die Mutter über mein nächtliches Wegbleiben empfunden hatte, war mir das abendliche Umhertreiben und der Besuch des Theaters strengstens untersagt worden; auch am Tage wurde ich sorgfältiger beaufsichtigt und in meinem Umgange mit den Kindern der armen Leute beschränkt, welchen man fälschlicherweise eine verderbliche und ansteckende Ungebundenheit zuschrieb. So hatten die fremden Schauspieler die Stadt verlassen, ohne daß ich jene Frau, die mein Herz nun ganz gehörte, wiedergesehen, ausgenommen einmal von ferne, wo sie mich zu sich winkte, ich aber scheu vor ihr floh, um mich in den stillen Räumen unserer Wohnung umso leidenschaftlicher mit ihrem Bilde zu beschäftigen. Als ich hörte, daß die Gesellschaft fortgereist sei, bemächtigte sich meiner eine tiefe Traurigkeit, welche längere Zeit anhielt. Je unbekannter mir die Gegend war, wo sie hingezogen sein mochte, desto mehr war mir alles Land, welches jenseits der Berge lag, ein Land unbestimmter Wünsche und dunklen Verlangens, und diesen Zug empfinde ich seither immer, wenn jemand, den ich gern habe, die Gegend verläßt, wo ich lebe.
Um diese Zeit schloß ich mich enger an einen Knaben, dessen erwachsene, lesebegierige Schwestern eine Unzahl schlechter Romane zusammengetragen hatten. Verloren gegangene Bände aus Leihbibliotheken, niedriger Abfall aus vornehmen Häusern oder von Trödlern um wenige Pfennige erstanden, lagen in der Wohnung dieser Leute auf Gesimsen, Bänken und Tischen umher, und an Sonntagen konnte man nicht nur die Geschwister und ihre Liebhaber, sondern Vater und Mutter, und wer sonst noch da war, in die Lektüre dieser schmutzig aussehenden Bücher vertieft finden. Die Alten waren törichte Leute, welche in dieser Unterhaltung Stoff zu törichten Gesprächen suchten; die Jungen hingegen erhitzten ihre gemeine Phantasie an den gemeinen unpoetischen Machwerken, oder vielmehr sie suchten hier die bessere Welt, welche die Wirklichkeit ihnen nicht zeigte. Die Romane zerfielen hauptsächlich in zwei Arten. Die eine enthielt den Ausdruck der üblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jämmerlichen Briefwechseln und Verführungsgeschichten, die andere bestand aus derben Ritterromanen. Die Mädchen hielten sich mit großem Interesse an die erste Art und ließen sich dazu von ihren teilnehmenden Liebhabern sattsam küssen und liebkosen; uns Knaben waren aber diese prosaischen und unsinnlichen Schilderungen einer verwerflichen Sinnlichkeit glücklicherweise noch ungenießbar und wir begnügten uns damit, irgend eine Rittergeschichte zu ergreifen und uns mit derselben zurückzuziehen. Die unzweideutige Genugtuung, welche in diesen groben Dichtungen waltete, war meinen angeregten Gefühlen wohltätig und gab ihnen Gestalt und Namen. Wir wußten die schönsten Geschichten bald auswendig und spielten sie, wo wir gingen und standen, mit immer neuer Lust ab, auf Estrichen und Höfen, in Wald und Berg, und ergänzten das Personal vorweg aus willfährigen Jungen, die in der Eile abgerichtet wurden. Aus diesen Spielen gingen nach und nach selbsterfundene, fortlaufende Geschichten und Abenteuer hervor, welche zuletzt dahin ausarteten, daß jeder seine große Herzens- und Rittergeschichte besaß, deren Verlauf er den andern mit allem Ernste berichtete, so daß wir uns in ein ungeheures Lügennetz verwoben und verstrickt sahen; denn wir trugen unsere erfundenen Erlebnisse gegenseitig einander so vor, als ob wir unbedingten Glauben forderten, und gewährten uns denselben auch, in eigennütziger Absicht, scheinbar. Mir ward diese trügliche Wahrhaftigkeit leicht, weil der Hauptgegenstand unserer Geschichten beiderseits immer eine glänzende und ausgezeichnete Dame unserer Stadt war und ich diejenige, welche ich für meine Lügen auserwählt, bald mit meiner wirklichen Neigung und Verehrung bekleidete. Daneben hatten wir mächtige Feinde und Nebenbuhler, als welche wir angesehene, ritterliche Offiziere bezeichneten, die wir oft zu Pferde sitzen sahen. Verborgene Reichtümer waren in unserer Gewalt, und wir bauten aus denselben wunderbare Schlösser an entlegenen Punkten, welche wir mit wichtiger Geschäftsmiene zu beaufsichtigen vorgaben. Jedoch beschäftigte sich die Einbildungskraft meines Genossen überdies mit allerhand Kniffen und Ränken und war eher auf Besitz und leibliches Wohlsein gerichtet, in welcher Beziehung er die sonderbarsten Dinge erfand, während ich alle Erfindungsgabe auf meine erwählte Geliebte verwandte und seine kleinlichen und mühsamen Geldverhältnisse, welche er unablässig zusammenträumte, mit einer kolossalen Lüge von einem gehobenen unermeßlichen Schatze überbot und kurz abfertigte. Dieses mochte ihn ärgern, und während ich, zufrieden in meiner ersonnenen Welt, mich wenig um die Wahrheit seiner Prahlereien bekümmerte, fing er an, mich mit Zweifeln an der Wahrheit der meinigen zu quälen und auf Beweise zu dringen. Als ich einst flüchtig von einer mit Gold und Silber gefüllten Kiste erzählte, welche ich in unserm Kellergewölbe stehen hätte, drang er auf das heftigste darauf, dieselbe zu sehen. Ich gab ihm eine Stunde an, zu welcher dies möglich wäre, und er fand sich pünktlich ein und versetzte mich in eine Verlegenheit, an welche ich im mindesten bisher noch nie gedacht hatte. Aber schnell hieß ich ihn eine Weile warten vor dem Hause und eilte in die Stube zurück, wo in dem Sekretär meiner Mutter ein altertümliches hölzernes Kästchen stand, welches einen kleinen Schatz an alten und neuen Silbermünzen und einige Dukaten enthielt. Dieser Schatz umfaßte einesteils die Patengeschenke aus der Kinderzeit meiner Mutter, andersteils meine eigenen und war sämtlich mein erklärtes Eigentum. Die Hauptzierde aber war eine mächtige goldene Schaumünze von der Größe eines Talers und bedeutendem Werte, welche Frau Margret in einer guten Stunde mir geschenkt und der Mutter zum sichern Verwahrsam eingehändigt hatte zum treuen Angedenken, wenn ich einst erwachsen, sie hingegen nicht mehr sein werde. Ich durfte das Kästchen hervornehmen und den glänzenden Schatz beschauen, sooft ich wollte, auch hatte ich denselben schon in allen Gegenden des Hauses herumgetragen. Ich nahm ihn also jetzt und trug ihn in das Gewölbe hinunter und legte das Kästchen in eine Kiste, welche mit Stroh gefüllt war. Dann hieß ich den Zweifler mit geheimnisvoller Gebärde hereinkommen, lüftete den Deckel der Kiste ein wenig und zog das Kästchen hervor. Als ich es öffnete, blinkten ihm die blanken Silberstücke gar hell entgegen, als ich aber die Dukaten und zuletzt die große Münze hervornahm, daß sie im Zwielichte seltsam funkelte und der alte Schweizer mit dem Banner, der darauf geprägt war, sowie der Kranz von Wappenschilden zu Tage traten, da machte er große Augen und wollte mit allen fünf Fingern in das Kästchen fahren. Ich schlug es aber zu, legte es wieder in die Kiste und sagte: »Siehst du, solcher Dinge ist die Kiste voll!« Damit schob ich ihn aus dem Keller und zog den Schlüssel ab. Er war nun für einmal geschlagen, denn obgleich er von der Unwirklichkeit unserer Märchen überzeugt war, so gestattete ihm doch der bisher festgehaltene Ton unseres Verkehrs nicht, weiter zu dringen, da es auch hier die rücksichtsvolle Höflichkeit des Lebens erforderte, den mit guter Manier vorgetragenen blauen Dunst bestehen zu lassen. Vielmehr gab meinem Freunde diese vorläufige Toleranz Gelegenheit, mich zu weiteren Lügen zu reizen und auf immer bedenklichere Proben zu stellen.
Wir trafen bald darauf, als es gerade Meßzeit war, am Seeufer zusammen, vor den Krambuden flanierend, welche dort in langen Reihen aufgeschlagen waren, und begrüßten uns wie Macbeths Hexen mit: »was hast du geschafft?« Wir standen vor dem Magazine eines Italieners, welcher neben südlichen Eßwaren auch glänzende Bijouterien und Spielereien feilbot. Feigen, Mandeln und Datteln, Kisten voll reinlich weißer Makaroni, besonders aber Berge ungeheurer Salamiwürste reizten den Sinn meines Gesellen zu kühnen Phantasien, indessen ich zierliche Frauenkämme, Ölfläschchen und Schalen voll schwarzer Räucherkerzchen betrachtete und ungefähr dachte, wo diese Dinge gebraucht würden, da wäre es gut sein. »Ich habe soeben«, begann mein Lügengefährte, »solch eine Salamiwurst gekauft, zur Probe, ob ich für mein nächstes Bankett eine Kiste voll anschaffen soll. Ich habe sie angebissen, fand sie aber abscheulich und schleuderte sie in den See hinaus; die Wurst muß noch dort schwimmen, ich sah sie den Augenblick noch.« Wir blickten auf den schimmernden Wellenspiegel hinaus, wo zwischen den Marktschiffen wohl etwa ein Apfel oder ein Salatblatt umhertrieb, aber keine Salami zu sehen war. »Ei, es wird wohl ein Hecht danach geschnappt haben!« sagte ich gutmütig, und er gab diese Möglichkeit zu und fragte mich, ob ich nicht auch Einkäufe machen wolle? »Freilich«, erwiderte ich, »ich möchte wohl diese Kette haben für meine Geliebte!« und wies auf eine unechte, aber schön vergoldete Halskette. Jetzt ließ er mich nicht mehr los, sondern umwickelte mich mit einem moralischen Zwangsnetze, indem ihm die Neugierde, ob ich wirklich über meinen geheimnisvollen Schatz zu verfügen hätte, die Worte dazu lieh. So hatte ich keinen andern Ausweg, als nach Hause zu laufen und mir mit meinem Sparkästchen zu schaffen zu machen. Einige Augenblicke nachher ging ich wieder davon, einige glänzende Silberstücke in der festverschlossenen Hand, mit klopfender Brust dem Markte zu, wo mein lauernder Dämon mich empfing. Wir handelten um die Kette, oder gaben vielmehr, was der Italiener forderte, ich wählte noch ein Armband von Achatschildern und einen Ring mit einer roten Glaspaste; der Kaufmann besah mich und die schönen Gulden mit wunderlichen Blicken, steckte sie aber nichtsdestoweniger ein; ich aber wurde schon auf dem Wege nach dem Hause fortgedrängt, wo meine Dame wohnte. Auf einem abgelegenen Platze standen etwa sechs Patrizierhäuser, deren Besitzer sich durch den Seidenhandel auf der Höhe früherer Vornehmheit erhielten. Weder eine Schenke noch ein sonstiges niederes Gewerbe zeigte sich in dieser Gegend, welche still und einsam in ihrer Reinlichkeit ruhte; das Pflaster war weißer und besser als in anderen Stadtteilen, und kostbare eiserne Gartengeländer begrenzten dasselbe. In dem größten und vornehmsten dieser Paläste wohnte der Gegenstand meiner Lügen, eine jener jungen, anmutigen Damen, welche, schön und elegant gewachsen, mit rosiger Gesichtsfarbe, großen, lachenden Augen und freundlichen Lippen, mit reichen Locken, wehenden Schleiern und seidenen Gewändern die Unerfahrenheit berücken und selbst gefurchte Stirnen aufheitern, solange sie durch Unschuld liebenswürdig sind. Wir standen schon vor dem prächtigen Portale und mein Begleiter schloß seine Überredungen, daß ich jetzt oder nie meiner Gebieterin die Geschenke überbringen müßte, endlich dadurch, daß er frech den goldenen Griff der Hausglocke packte und anzog. Aber trotz seiner Frechheit, würde ein Aristokrat sagen, reichte doch die Energie seines Plebejertumes nicht aus, ein kräftiges Geklingel hervorzubringen; es gab nur einen einzigen zaghaften Ton, welcher im Innern des großen Hauses verhallte. Nach einigen Sekunden ruckte der eine Torflügel um ein Unmerkliches, und mein Begleiter schob mich hinein, was ich, aus Furcht vor allem Geräusche, willenlos geschehen ließ. Da stand ich in unsäglicher Beklemmung neben einer breiten steinernen Treppe, welche sich oben zwischen geräumigen Galerien verlor. Ich hielt Armband und Ring in die Hand gepreßt, und die Kette quoll teilweise zwischen den Fingern hervor; in der Höhe ertönten Tritte, welche von allen Seiten widerhallten, und jemand rief herunter, wer da sei? Doch hielt ich mich still, man konnte mich nicht sehen und ging wieder, Türen hinter sich zuschlagend. Nun stieg ich langsam die Treppe hinan, mich vorsichtig umsehend; an allen Wänden hingen große Ölgemälde, entweder wunderliche Landschaften oder Ahnenbilder enthaltend; die Decken waren in weißer, reicher Stukkatur gearbeitet mit kleinen Fresken dazwischen, und in abgemessenen Entfernungen standen hohe dunkelbraune Türen von Nußbaumholz, eingefaßt von Säulen und Giebeln von der gleichen Art, alles glänzend poliert. Jeder meiner Schritte erweckte Geräusch in den Wölbungen, ich wagte kaum zu gehen und dachte doch nicht daran, was ich sagen wollte, wenn ich überrascht würde. Vor jeder Tür lag eine Strohmatte, aber vor einer allein lag eine besonders reich und zierlich geflochtene von farbigem Stroh; daneben stand ein altes, vergoldetes Tischchen und auf diesem ein Arbeitskörbchen mit Strickzeug, einigen Äpfeln und einem hübschen, silbernen Messerchen zu äußerst am Rande, als ob es soeben hingestellt wäre. Ich vermutete, daß hier der Aufenthalt der Dame sei, und im Augenblicke nur an sie denkend, legte ich meine Kleinodien mitten auf die Matte, nur den Ring zu unterst in das Körbchen auf einen feinen Handschuh. Dann eilte ich trepphinunter aus dem Hause, wo ich meinen Quälgeist ungeduldig meiner wartend fand. »Hast du es getan?« rief er mir entgegen. »Ja freilich«, erwiderte ich mit leichterem Herzen. »Das ist nicht wahr«, sagte er wieder, »sie sitzt ja die ganze Zeit an jenem Fenster dort und hat sich nicht gerührt.« Wirklich war die schöne Frau hinter dem glänzenden Fenster sichtbar und gerade in der Gegend des Hauses, wo jene Zimmertür sein mochte. Ich erschrak heftig, sagte aber: »Ich schwöre dir, ich habe die Kette und das Armband zu ihren Füßen gelegt und den Ring an ihren Finger gesteckt!« »Bei Gott?« »Ja, bei Gott!« rief ich. »Nun mußt du ihr aber noch eine Kußhand zuwerfen, und wenn du es nicht tust, so hast du falsch geschworen; sieh, sie schaut gerade herunter!« Wirklich ruhten ihre glänzenden frohen Augen auf uns; aber der Einfall meines Freundes war ein teuflischer; denn lieber hätte ich dem Teufel selbst ins Gesicht gespien als diese Zumutung erfüllt. Durch meinen jesuitischen Schwur war ich aber erst recht in die Klemme geraten, es war kein Ausweg. Rasch küßte ich meine Hand und bewegte sie gegen das Fenster hinauf. Das Mädchen hatte uns aufmerksam angesehen und lachte nun ganz unbändig, indem es freundlich herunter nickte; doch ich lief, so schnell ich konnte, davon. Das Maß war gefüllt, und als mein Gefährte mich in der nächsten Straße wieder erreichte, trat ich bleich vor ihn hin und sagte: »Wie ists eigentlich mit deiner Salamiwurst? meinst du, dieselbe sei hinreichend, dergleichen Sachen, wie ich bestehe, das Gegengewicht zu halten?« Damit warf ich ihn unversehens nieder und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht, bis mich ein Mann weghob und rief; »Die Teufelsjungen müssen sich doch immer raufen!«
Das war das allererste Mal in meinem Leben, daß ich einen Schul- und Jugendgenossen schlug; ich konnte denselben nicht mehr ansehen und zugleich war ich vom Lügen für einmal gründlich geheilt.
In dem lesebeflissenen Hause wurden indessen der Vorrat an schlechten Büchern und die Torheit immer größer. Die Alten sahen mit seltsamer Freude zu, wie die armen Töchter immer tiefer in ein einfältig verbuhltes Wesen hineingerieten, Liebhaber auf Liebhaber wechselten und doch von keinem heimgeführt wurden, so daß sie mitten in der übelriechenden Bibliothek sitzen blieben mit einer Herde kleiner Kinder, welche mit den zerlesenen Büchern spielten und dieselben zerrissen. Die Lesewut wuchs nichtsdestominder fortwährend, weil sie nun Zank, Not und Sorge vergessen ließ, so daß man in der Behausung nichts sah als Bücher, aufgehängte Windeln und die vielfältigen Erinnerungen an die Galanterie der ungetreuen Ritter, als gemalte Blumenkränze mit Sprüchen, Stammbücher voll verliebter Verse und Freundschaftstempel, künstliche Ostereier, in welchen ein kleiner Amor verborgen lag und dergleichen. Alles in allem genommen will es mir scheinen, daß auch dieses Elend sowohl wie das entgegengesetzte Extrem, die religiöse Sektiererei und das fanatische Bibelauslegen armer Leute, wie ich es im Hause der Frau Margret fand, nur die verwischte Spur eines edleren Herzensbedürfnisses und das heiße Suchen nach einer schöneren Wirklichkeit sei.
Bei dem Sohne dieses Hauses machte sich, als er größer wurde, die vielgeübte Phantasie auf andere, nicht minder bedenkliche Weise geltend. Er wurde sehr genußsüchtig, lag schon als Handelslehrling in den Wirtshäusern als ein eifriger Spieler und war bei allen öffentlichen Vergnügen zu sehen. Dazu brauchte er viel Geld, und um sich dieses zu verschaffen, verfiel er auf die sonderbarsten Erfindungen, Lügen und Ränke, welche ihm nur eine Art Fortsetzung der früheren Romantik waren. Jedoch hielt dies nur halbverdächtige Treiben nicht lange vor, vielmehr sah er sich bald darauf verwiesen zuzugreifen, wo er konnte. Denn er gehörte zu jenen Menschen, welche nicht gesonnen sind, sich in ihren Begierden im mindesten zu beschränken, und in der Gemeinheit ihrer Gesinnung dem Nächsten mit List oder Gewalt das entreißen, was er gutwillig nicht lassen will. Diese niedere Gesinnung ist gleichmäßig der Ursprung scheinbar ganz verschiedener Erscheinungen. Sie beseelt den ungeliebten Herrscher, welcher, in seinem Dasein jedem Kinde im Lande ein Überdruß, doch nicht von seiner Stelle weicht und nicht zu stolz ist, sich vom Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes zu nähren; sie ist der Kern der Leidenschaftlichkeit eines Verliebten, welcher, nachdem er einmal die bestimmte Erklärung der Nichterwiderung erhalten hat, sich nicht sogleich bescheidet und in den edlen Schmerz der Entsagung hüllt, sondern mit gewaltsamer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben verbittert; wie in allen diesen Zügen lebt sie endlich auch in der Selbstsucht des Betrügers und Diebes jeglicher Art, groß und klein, überall ist sie ein unverschämtes Zugreifen, zu welchem mein ehemaliger Gefährte nun auch seine Zuflucht nahm. Ich hatte ihn im Verlaufe der Zeit ganz aus den Augen verloren, während er schon mehrere Male im Gefängnisse gesessen hatte, und dachte vor ungefähr einem Jahre an nichts weniger als an ihn, da ich einen verkommenen Menschen durch die Häscher dem Zuchthause zuführen sah. In demselben ist er seither gestorben.
Ich war nun zwölf Jahre alt, so daß meine Mutter auf weitere Schulbildung denken mußte. Der Plan des Vaters, daß ich der Reihe nach die von freisinnigen Vereinen begründeten Privatanstalten besuchen sollte, war nun zerschnitten, indem dieselben inzwischen durch wohleingerichtete öffentliche Schulen überflüssig geworden; denn die abermalige Regeneration der Schweiz hatte zuerst auf diesen Punkt ihr Augenmerk gerichtet. Der alte Gelehrten- und Lehrerstand der Städte wurde durch einberufene deutsche Schulmänner reichlich erweitert und in den meisten Kantonen an eine große Zwillingsschule verteilt, welche aus einem Gymnasium und einer Gewerbsschule bestand. Bei der letzteren brachte mich die Mutter nach mehreren Beratungen und feierlichen Gängen unter, und die Leistungen meiner bescheidenen Armenschule, aus welcher ich halb wehmütig und halb fröhlich schied, erwiesen sich bei der Aufnahmeprüfung so vorzüglich, daß ich neben den Zöglingen der guten alten Stadtschulen vollkommen bestand. Denn diese wohlhabenden Bürgerkinder waren nun ebenfalls auf die neuen Einrichtungen angewiesen. So fand ich mich plötzlich in eine ganz neue Umgebung versetzt. Statt wie früher der bestgekleidete und vornehmste meiner Mitschüler zu sein, war ich in meinen grünen Jäckchen, welche ich aufs äußerste ausnutzen mußte, nun einer der unansehnlichsten und bescheidensten, und das nicht nur in Ansehung der Kleidung, sondern auch des Benehmens. Die Mehrzahl der Knaben gehörte dem altherkömmlichen bewußtvollen Bürgerstande an, einige waren vornehme feine Herrenkinder und einige hinwieder stammten von reichen Dorfmagnaten, alle aber hatten ein sicheres Auftreten und Gebahren, entschiedene Manieren und einen fixen Jargon im Sprechen und Spielen, vor welchem ich blöde und unsicher dastand. Wenn sie sich stritten, so schlugen sie sich gleich mit raschen Bewegungen ins Gesicht, daß es klatschte, und mehr Mühe als das neue Lernen machte mir das Zurechtfinden in diese neue Umgangswelt, wenn ich nicht zu viel Unbilden erleiden wollte. Ich erkannte nun erst, wie wild und gutmütig die Gesellschaft der armen Kinder gewesen war, und schlüpfte noch oft zu ihnen, die mich mit wehmütigem Neide von meinen jetzigen Verhältnissen erzählen hörten.
In der Tat brachte jeder Tag neue Veränderungen in meiner bisherigen Lebensweise. Seit alter Zeit war die Jugend der Städte in den Waffen geübt worden, vom zehnten Jahre an bis beinahe zum wirklichen Militärdienste des Jünglingsalters, nur war es mehr eine Sache der Lust und des freien Willens gewesen, und wer seine Kinder nicht wollte teilnehmen lassen, war nicht gezwungen. Nun aber wurden die Waffenübungen für die sämtliche schulpflichtige Jugend gesetzlich geboten, daß jede Kantonsschule zugleich ein soldatisches Korps bildete. Wir wurden in grüne Uniform gesteckt, ich glaubte schon mit meiner besonderen Grünheit in der allgemeinen aufgehen zu können und von meinem Spitznamen erlöst zu sein; aber weit gefehlt, meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, die grünen Röcke meines Vaters, welche kein Ende nehmen zu wollen schienen, dem Schneider unterzuschieben und so ermangelte meine Uniform niemals um einen Grad dunkler oder heller zu sein als alle übrigen und mich fortwährend auszuzeichnen. Mit den kriegerischen Übungen war das Turnen verwandt, zu welchem wir ebenfalls angehalten wurden, so daß einen Abend exerziert und den andern gesprungen, geklettert und geschwommen wurde. Ich war bisher aufgewachsen wie ein Gras, mich biegend und schmiegend, wie jedes Lüftchen der Lebensregungen und der Laune es wollte; niemand hatte mir gesagt, mich grad zu halten, kein Mann mich an See und Fluß geführt und da hineingeworfen, wo es am tiefsten war, nur in der Aufregung hatte ich ein und andern Sprung getan, den ich mit Vorsatz nicht zu wiederholen vermochte. Mein Temperament aber hatte mich nicht dazu getrieben, wie etwa die Söhne anderer Witwen, da ich keinen Wert darauf legte und viel zu beschaulich war. Meine jetzigen Schulgenossen hingegen bis auf den kleinsten herab schwammen alle wie die Fische im See herum, sprangen und kletterten wie Katzen, und es war hauptsächlich ihr Spott, welcher mich zwang, mir einige Haltung und Gewandtheit zu erwerben, da sonst wohl mein Eifer bald erkaltet wäre. Denn es ist nicht zu leugnen, daß das allzu pedantische Betreiben solcher Dinge nicht nur gedankenreichen Erwachsenen, sondern auch einem Kinde, dessen Phantasie öfters spazieren geht, unbequem werden kann.
Aber noch viel tiefer sollten die Veränderungen in mein Leben einschneiden. Ich war nun in eine Umgebung geraten, welche sämtlich mit einem mehr oder minder genugsamen Taschengelde versehen war, teils infolge häuslicher Wohlhabenheit, teils auch nur infolge herkömmlichen städtischen Wohllebens und sorgloser Prahlerei der Eltern. An reichlicher Gelegenheit, Ausgaben zu machen, fehlte es noch weniger, da nicht nur bei den gewöhnlichen Übungen und Spielen auf den entlegenen Plätzen Obst und Backwerk zu kaufen üblich war, sondern auch bei größeren Turnfahrten und militärischen Ausflügen mit klingendem Spiel es für männlich galt, sich in den entfernten Dörfern hinter Wurst und Wein zu setzen. Dazu kamen noch die Ausgaben für allerhand Spielereien, welche in der Schule abwechselnd Mode wurden unter dem Vorwande nützlicher Beschäftigung, ferner der lehrreiche Besuch aller fremden Sehenswürdigkeiten, von welchem allem sich regelmäßig entfernt halten zu müssen einen unerträglichen Anstrich von Dürftigkeit und Verlassenheit verlieh. Meine Mutter bestritt mit gewissenhaftem Eifer alle die ungewohnten Ausgaben für Lehrmittel, Instrumente und Material und gab mir hierin sogar für eine gewisse Verschwendung Raum. Mit den feinen Zirkeln des Vaters durchstach ich das schönste Papier in der Klasse; jede Gelegenheit nahm ich wahr, ein neues Heft zu errichten, und meine Bücher waren immer am elegantesten gebunden. Allein für alles andere, was im geringsten des Überflusses verdächtig schien, beharrte sie unerbittlich auf dem Grundsatze, daß kein Pfennig unnütz dürfe ausgegeben werden und daß ich dies frühzeitig lernen müsse. Nur für die allgemeinsten Ausflüge und Unternehmungen, von denen zurückzubleiben ein zu großer Schmerz für mich gewesen wäre, gab sie mir ein kärgliches Geld, welches jedes Mal schon in der Mitte des frohen Tages aufgezehrt war. Dabei hielt sie mich in weiblicher Unkenntnis der Welt nicht etwa in der Abgeschiedenheit zurück, wie es sich zu ihrer strengen Sparsamkeit geschickt hätte, sondern ließ mich meine ganze Zeit in der Gemeinschaft der anderen zubringen, mich nur unter lauter wohlgezogenen Knaben und unter der Aufsicht des großen, angesehenen Lehrerpersonales wähnend, während gerade dadurch das Mitmachen und Vergleichen unvermeidlich wurde und ich in tausend Verlegenheiten und schiefe Stellungen geriet. In der Einfachheit und Unschuld ihres Gemütes und ihres Lebenslaufes hatte sie keine Ahnung von dem unheilvollen Giftkraute, welches falsche Scham genannt wird und in den frühesten Tagen des männlichen Lebens umso mehr zu wuchern beginnt, als es von der Insolenz der alten Menschen eher gehätschelt und gepflegt als unterschieden und ausgereutet wird. Unter tausend Jugendfreunden und Mitgliedern von Pestalozzi-Stiftungen gibt es vielleicht keine zwölf, welche aus ihren eigenen Erinnerungen sich noch auf das ABC des kindlichen Gemütes besinnen und wissen, wie sich daraus die verhängnisvollen Worte bilden, und man darf sie eigentlich nicht einmal darauf aufmerksam machen, sonst werfen sie sich sogleich auf dieses Gebiet und errichten darüber ein Statut.
Auf Pfingsten ward einst ein großer jugendlicher Feldzug verabredet; sämtliche kleine Mannschaft, einige Hundert an der Zahl, sollte mit klingendem Spiel ausrücken und, über Berg und Tal marschierend, die bewaffnete Jugend einer benachbarten Stadt besuchen, um mit derselben gemeinschaftliche Paraden und Übungen abzuhalten. Es herrschte eine allgemeine Aufregung, gemischt aus der Freude der Erwartung und aus der Lust der Vorbereitung. Kleine Tornister wurden vorschriftsmäßig bepackt, Patronen wurden so viele als möglich über die bestimmte Zahl angefertigt, unsere Zweipfünderkanonen sowie die Fahnen bekränzt, und überdies ging unter der Hand das Gerede, wie unsere Nachbaren nicht nur propere und gedrillte Soldaten, sondern auch aufgeweckte und lustige Zecher und Kameraden wären, daß es also nicht nur gelte, sich möglichst blank und strack zu halten, sondern jeder sich gut mit Taschengeld zu versehen hätte, um den berühmten Nachbaren auf jede Weise die Stange zu halten. Dazu wußten wir, daß dort die weibliche Jugend ebenfalls teilnehmen, festlich gekleidet und bekränzt uns beim Einmarsche begrüßen und daß nach dem gemeinschaftlichen Mahle getanzt würde. Auch in dieser Hinsicht waren wir nicht gesonnen, uns etwas zu vergeben; es hieß, jeder solle sich weiße Handschuhe verschaffen, um beim Balle ebenso galant als militärisch zu erscheinen, und alle diese Dinge wurden hinter dem Rücken der Aufseher mit solcher Wichtigkeit verhandelt, daß es mir angst und bange ward, allem zu genügen. Zwar war ich einer der ersten, welcher Handschuhe aufzuweisen hatte, indem meine Mutter auf meine Klage aus den begrabenen Vorräten ihrer Jugend ein Paar lange Handschuhe von feinem weißen Leder hervorzog und unbedenklich die Hände vorn abschnitt, welche mir vortrefflich paßten. Hingegen in betreff des Geldes lebte ich der betrübten Aussicht, jedenfalls eine gedrückte und enthaltsame Rolle spielen zu müssen. In solchen Betrachtungen saß ich am Vorabend der Freudentage in einem Winkel, als mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf fuhr, ich das Hinausgehen der Mutter abwartete und dann zu dem Schranke eilte, in welchem mein Schatzkästchen lag. Ich öffnete es zur Hälfte und nahm unbesehen ein großes Geldstück heraus, das zu oberst lag; die anderen rückten alle ein klein wenig von der Stelle und machten ein leises Silbergeräusch, in dessen klangvoller Reinheit jedoch eine gewisse Gewalt lag, die mich schauern machte. Schnell brachte ich meine Beute zur Seite, befand mich aber nun in einer sonderbaren Stimmung, die mich scheu und wortkarg gegen meine Mutter machte. Denn wenn der frühere Eingriff mehr die Folge eines vereinzelten äußeren Zwanges gewesen und mir kein böses Gewissen hinterlassen hatte, so war das jetzige Unterfangen freiwillig und vorsätzlich; ich tat etwas, wovon ich wußte, daß es die Mutter nimmer zugeben würde, auch die Schönheit und der Glanz der Münze schienen von der profanen Verausgabung abzumahnen. Jedoch verhinderte der Umstand, daß ich mich selbst bestahl zum Zwecke der Nothilfe in einem kritischen Falle, ein eigentliches Diebsgefühl; es war mehr etwas von dem Bewußtsein, welches im verlornen Sohne dämmern mochte, als er eines schönen Morgens mit seinem väterlichen Erbteil auszog, es zu verschwenden.
Am Pfingsttage war ich schon früh auf den Füßen; unsere Trommler, als die allerkleinsten auch die muntersten Bursche, durchzogen in ansehnlichem Haufen die Stadt, umschwärmt von marschbereiten Schülern, und ich beeilte mich, zu ihnen zu stoßen. Meine Mutter hatte aber noch gar viel zu besorgen; sie füllte meinen Tornister mit Eßwaren, hing mir ein artiges Reisefläschchen um, mit süßem Wein gefüllt, steckte mir noch hie und da etwas in die Taschen und gab mir gute Verhaltungsregeln. Ich hatte längst mein Gewehr auf der Schulter und die Patronentasche umgehängt, worin unter den Patronen mein großer Taler steckte, und wollte mich endlich ihren Händen entreißen, als sie ganz verwundert sagte, ich werde doch etwas Geld mitnehmen wollen? Hierauf nahm sie das bereits Abgezählte hervor und unterwies mich, wie ich es einzuteilen hätte. Es war zwar nicht überreichlich, doch höchst anständig und vollkommen hinreichend und selbst für unvorhergesehene Fälle berechnet. In einem Papiere war noch ein besonderes Stück eingewickelt, welches ich in dem gastfreundlichen Hause, wo ich einquartiert würde, den Dienstboten zu geben hätte. Wenn ich die Sache recht betrachtete, so war dies auch die erste Gelegenheit, wo eine gute Ausstattung eigentlich notwendig schien, und die Mutter ließ es also nicht an dem Ihrigen fehlen. Aber nichtsdestominder war ich überrascht, ich geriet in die größte Verlegenheit und Aufregung, und indem ich die Treppen hinunterstieg, drangen mir seltenerweise Tränen aus den Augen, daß ich sie hinter der Haustür abtrocknen mußte, ehe ich auf die Straße trat und zu dem fröhlichen Haufen stieß. Der allgemeine Jubel hätte in meinem Gemüte, welches durch die liebevolle Sorge der Mutter bewegt war, einen umso empfänglicheren Grund gefunden, wenn nicht der Taler in meiner Giberne wie ein Stein auf meinem Herzen gelegen hätte. Jedoch als sich die ganze Schar zusammenfand, das Kommando erklang und wir uns ordneten und abzogen, wurden meine düstern Gedanken gewaltsam unterdrückt, und als ich, zur Vorhut eingeteilt, schon auf den freien Höhen ging unter dem morgenfrischen Himmel und der lange Zug, schimmernd und singend, mit wehenden Fahnen, sich zu unsern Füßen heranbewegte, da vergaß ich alles und lebte nur dem Augenblicke, welcher, Perle für Perle, von der glänzenden Schnur der nächsten Erwartung fiel. Wir führten ein lustiges Vorhutleben, ein alter Kriegsmann, in fremden Diensten ergraut und nun dazu verwendet, uns kleinen Nesthüpfern das Handwerk beizubringen, leitete uns an zu allerlei Schabernack und ließ sich unablässig bestürmen, aus unsern Feldflaschen zu trinken, was er mit scharfer Kritik des Inhalts tat. Wir waren stolz, keinen der Schulmänner bei uns zu haben, welche die große Kolonne begleiteten, und hörten andächtig die Kriegsabenteuer, so uns der alte Soldat erzählte.
Zur Mittagszeit machte der Zug in einem sonnigen unbewohnten Talkessel halt; die wilde Boden war mit vielen einzelnen Eichen besetzt, um welche sich das junge Kriegsvolk lagerte. Wir Leute der Vorhut aber standen auf einem Berge und schauten zufrieden auf das ferne fröhliche Gewühl hinunter. Wir waren still geworden und schlürften den stillen glanzvollen Tag ein; der alte Feldwebel lag froh an der Erde und blinzte in den ruhevollen Horizont hinaus, über blaue Ströme und Seen hin. Obgleich wir noch nichts von landschaftlicher Schönheit zu sagen wußten und einige vielleicht in ihrem Leben nie dazu kamen, fühlten wir alle doch ganz die Natur, und das umsomehr, weil wir mit unserm Freudenzuge eine würdige Staffage in der Landschaft bildeten, weil wir handelnd darin auftraten und daher der peinlichen Sehnsucht der untätigen bedeutungslosen Naturbewunderer enthoben waren. Denn ich habe erst später erfahren und eingesehen, daß das untätige und einsame Genießen der gewaltigen Natur das Gemüt verweichlicht und verzehrt, ohne dasselbe zu sättigen, während ihre Kraft und Schönheit es stärkt und nährt, wenn wir selbst auch in unserm äußern Erscheinen etwas sind und bedeuten, ihr gegenüber. Und selbst dann ist sie in ihrer Stille uns manchmal noch zu gewaltig; wo kein rauschendes Wasser ist und gar keine Wolken ziehen, macht man gern ein Feuer, um sie zur Bewegung zu reizen und sie nur ein bißchen atmen zu sehen. So trugen wir einiges Reisig zusammen und fachten es an, die roten Kohlen knisterten so leis und angenehm, daß auch unser graue und rauhe Führer vergnügt hineinsah, während der blaue Rauch dem Heerhaufen im Tale ein Zeichen unseres Aufenthaltes war; trotz der mittäglichen Sonnenhitze schien uns die erhöhte Glut des Feuers lieblich, wir verlöschten es ungern, als wir abzogen. Gar zu gern hätten wir einige Schüsse in die stille Luft gesandt, wenn es nicht streng untersagt gewesen wäre; ein Knabe hatte schon geladen und mußte den Schuß kunstgerecht wieder aus dem Gewehre ziehen, was ihm so peinlich war als einem Schwätzer das Unterdrücken eines Geheimnisses.
Im Scheine des Abendgoldes sahen wir endlich die befreundete Stadt vor uns, aus deren mit Blumen und grünen Zweigen bekleidetem altertümlichem Tor die so wie wir gerüstete Jugend uns entgegentrat, umgeben von den schaulustigen und freundlichen Eltern und Geschwistern. Ihre Artillerie löste uns zu Ehren eine Anzahl von Schüssen, wir betrachteten mit kritischem Auge, wie die kleinen Kanoniere neben der Mündung mit ebenso zierlicher Verrenkung sich zurückbogen, wenn die Lunte sich dem Brander näherte, um mit einer ebenso verächtlichen Schwenkung wieder zur Erde gewandt zu werden, wie das alles bei uns üblich war. Noch mehr Ursache zur Eifersucht gaben uns die hübschen Perkussionsgewehre, womit unsere Kameraden versehen waren, da wir selbst nur alte Steinschlosse hatten, welche sich dann und wann erlaubten zu versagen. Die Regierung dieses Standes war ein wenig im Geruche, in ihrem aufgeweckten Sinne für alles Gute und Schöne manchmal mehr Aufwand zu machen, als sich mit haushälterischer Bedächtigkeit vertrüge, und hatte demgemäß für ihre Schuljugend solche neue Waffen beschafft zu einer Zeit, wo dergleichen erst bei größeren Militärstaaten in der Einführung begriffen waren. So hörten wir denn, während unsere Freunde uns wohlgefällig erklärten, wie bei ihnen während der Ladung die Bewegung des Patronbeißens nun wegfiele, unsere erwachsenen Begleiter heimlich einen bedächtigen Tadel über solchen Aufwand aussprechen. Doch waren wir endlich ermüdet und gaben uns willig den Einladungen der Familien hin, welche sich so eifrig um unsere Beherbergung stritten, daß unsere ganze Schar in ihren offenen Armen so schnell verschwand, wie ein flüchtiger Regenschauer im heißen durstigen Erdreiche versiegt. Wir sahen uns nun vereinzelt in die Mitte häuslicher Wirtlichkeit versetzt als Gegenstand des festlichsten Wohlwollens und belohnten diese Gastfreundschaft dadurch, daß wir, als ob wir in Feindesland wären, beim Schlafengehen unsere Flintchen mitnahmen und neben die großen Gastbetten stellten, welche zu ersteigen wir alle unsere Turnerkünste aufbieten mußten.
Das Fest des andern Tages erfüllte alle Erwartungen. Der Wetteifer ließ beide Parteien bei den Übungen gleich wohl bestehen; gegen die Perkussionsgewehre unserer Nebenbuhler aber hatten wir einen andern Trumpf auszuspielen. Indem ihre Artillerie nämlich nur blind zu schießen gewohnt war und keine Kugeln kannte, schoß die unserige so geschickt nach dem Ziele, daß das bei solcher Gelegenheit stehende Sprichwort: »die Kleinen machten es wahrlich besser denn die Großen!« diesmal nicht ganz unrichtig war und die Nachbaren dem ernsthaften Richten der Geschütze verwundert zuschauten.
Ein großes Festmahl, welches einige Tausend junge und alte Menschen vereinigte, wurde auf einer blühenden Wiese eingenommen. Beliebte Jugendfreunde hielten Tischreden und trafen in denselben das Rechte, indem sie, anstatt uns in hohlem, frühreifem Ernste zu halten, in reinem Humor den Ton unschuldiger Fröhlichkeit anstimmten, ihr Alter vergaßen, ohne kindisch zu tun, und uns dadurch desto leichter lehrten, die Freude nicht ohne Witz zu genießen. Darauf zog eine lange Reihe feiner Mädchen aus dem Tore an uns vorbei auf einen geebneten Rasenplatz und lud uns mit Gesang zu Spiel und Tänzen ein. Sie waren alle weiß und rot gekleidet und entfalteten sich in der lieblichsten Blüte vom kindlichen Lockenkopfe bis zur angehenden Jungfrau, hinter dem weiten Kranze ragte manch weibliches Haupt in reifer Schönheit, um die zarten Pflänzlinge zu überwachen und bei guter Gelegenheit selbst noch ein bißchen jugendlicher über den Rasen zu schlüpfen als in sonstigen Tagen erlaubt war. Hatten doch die Männer ihrerseits die Gelegenheit auch ersehen und die Lust der Kinder bereits zu ihrer eigenen Sache erklärt und schon mit mancher Flasche besiegelt! Unsere tapfere Schar näherte sich in dichtem Haufen dem flüsternden Kreise der Schönen, keiner wollte recht der Vorderste sein, unsere Sprödigkeit ließ uns fast feindlich und düster aussehen, während das Anziehen der weißen Handschuhe ein weitgedehntes Flimmern und Schimmern verursachte. Doch es zeigte sich nun, daß die Hälfte der Handschuhe überflüssig war, indem wir in zwei verschiedene Teile zerfielen, in solche Knaben nämlich, welche größere Schwestern zu Hause hatten, und in solche, welche dieses angenehme Glück nicht kannten. Die ersteren zeigten sich alle als zierliche Tänzer und Kavaliere, welche bald gesucht und ausgezeichnet wurden, indessen die letzteren wie ungeleckte Bären über den Rasen stolperten und nach einigen mißlungenen Abenteuern sich aus den Reihen stahlen und bei den Trinktischen zusammenfanden, wo wir mit energischem Gesang ein wildes Soldatenleben führten, als rauhe Krieger und Weiberfeinde, und uns gegenseitig einzubilden suchten, daß die Mädchen doch häufig nach unserm tüchtigen Treiben herüber schielten. Unser Zechen bestand zwar mehr in einer bescheidenen Nachahmung der Alten und überwand den natürlichen Widerwillen gegen Unmäßigkeit nicht, der noch in jenem Lebensalter liegt; doch bot es hinlänglichen Spielraum für unsere kleinen Leidenschaften. Der Weinbau dieser Landschaft war bedeutender und edler als bei uns, daher hatten unsere jungen Nachbaren schon eine entschiedenere Färbung in ihrer Fröhlichkeit und vertrugen ein stärkeres Glas Wein als wir, so daß sie ihren Ruf vollkommen rechtfertigten. Da galt es nun, sich hervorzutun; ich gab mich diesem Bestreben ohne Rückhalt hin, meine wohlversehene Kasse verlieh mir die nötige Sicherheit und Freiheit, und dieser folgte alsobald eine gewisse Achtung meiner Umgebung. Wir durchzogen Arm in Arm die Stadt und die Lustplätze vor derselben, das schöne Wetter, die Freude, der Wein regten mich auf und machten mich beredsam und ausgelassen, keck und gewandt; aus einem stillen und blöden Fernesteher war ich urplötzlich ein lauter Tonangeber geworden, der sich in übermütigen Bemerkungen, Witzworten und Erfindungen von Schwänken erging und welchen die übrigen Wortführer, die sich bisher wenig aus mir gemacht, sogleich anerkannten und hätschelten. Die Eigenschaft als Fremder, der neue Schauplatz erhöhte noch die Stimmung, es ist schwer zu entscheiden, was größer war, ob meine Redseligkeit, mein Freudenrausch oder meine erwachte Eitelkeit, kurz, ich schwamm in einem ganz neuen Glücke, welches am dritten Tage womöglich noch zunahm, als wir heimwärts zogen und die allseitige Zufriedenheit sowie die freiere Ordnung und Haltung eine neue Reihe fröhlicher Auftritte veranlaßten.
Als ich mit Sonnenuntergang das Haus meiner Mutter betrat, bestaubt und sonnverbrannt, die Mütze mit einem Tannenreise geschmückt, die Mündung des Gewehrchens und der eigene Mund prahlerisch von Pulver geschwärzt, da war ich nicht mehr der gleiche wie ich ausgezogen, sondern einer, der sich mit den kecksten Führern der Knabenwelt in verschiedene Verabredungen und Versprechungen eingelassen hatte zur Fortsetzung des begonnenen Tones, mittelst welcher wir auch in unserer Stadt eine Rolle zu spielen gedachten. Hauptsächlich sollten die tanzkundigen Feintuer oder Weichlinge, wie wir sie nannten, verhindert werden, uns bei der einheimischen Schönheit etwa in den Schatten zu stellen; wir wollten daher ihren zierlichen Künsten ein derbes militärisches Wesen, kühne Taten und allerlei Streifereien und Unternehmungen entgegensetzen zur Begründung eines bedenklichen Ruhmes. Voll von diesen Ideen und noch voll der durchlebten Freude, die ich so wenig erschöpft hatte, als sie mich, fühlte ich mich in der besten Laune und erging mich in unserm Hause in lauten Erzählungen und prahlerischem, barschem Wesen, bis ich durch einige magische Witzkörner, die meine Mutter in die unbescheidene Brandung warf, für einmal zu Ruhe und Schlaf gebracht wurde.
Meine neuen Freunde ließen mir nicht Zeit, aus meiner Verirrung zu kommen; schon der nächste Tag, an dem ich, selbst eine Art von Größe, in der renommiertesten Gesellschaft unserer Stadt zu sehen war, weckte alle neuen Erinnerungen wieder, die Nachklänge des Festes gaben Gelegenheit, den Rest meiner Barschaft anzubringen und dagegen erneute Lorbeeren einzutauschen. Für einen der nächsten Sonntage wurde ein großer Spaziergang verabredet, welches wieder eine Demonstration gegen die Feinspinner werden sollte. In meinem Leichtsinn hatte ich nicht bedacht, woher ich die nötigen Mittel nehmen solle, also auch keinen Vorsatz gefaßt, als aber der Augenblick da war, griff ich wieder in den Schrein, ohne etwas anderes zu fühlen als das zwingende Bedürfnis und eine Art dunklen Entschlusses, daß es das letzte Mal sein solle.
So ging es den ganzen kurzen Sommer hindurch. Die veranlassende Laune war längst verflogen, die Teilnehmer hatten sich dem ordentlichen Lauf der Dinge wieder gefügt, auch über mich hätten Maß und Bescheidenheit ihre Herrschaft wieder gewonnen, wenn nicht eine andere Leidenschaft aus der Sache erwachsen wäre, nämlich die des unbeschränkten Geldausgebens, der Verschwendung an sich. Es reizte mich, jeden Augenblick die kleinen Herrlichkeiten, wonach jenes Alter gelüstet, kaufen zu können; immer hatte ich die Hand in der Tasche, um mit Münzen hervorzufahren; Gegenstände, welche Knaben sonst vertauschen, kaufte ich nur mit barem Gelde, gab solches an Kinder, Bettler und beschenkte einige Gesellen, die meinen Schweif bildeten und meine Verblendung benutzten, so lange es ging. Denn es war eine wirkliche Verblendung. Ich bedachte im mindesten nicht, daß die Sache doch ein Ende nehmen müsse, nie mehr öffnete ich das Kästchen ganz und übersah das Geld, sondern schob nur die Hand unter den Deckel, um ein Stück herauszunehmen, und überdachte auch nie, wie viel ich schon verschleudert haben müsse. Ich empfand auch keine Angst vor der Entdeckung, in der Schule und bei meinen Arbeiten hielt ich mich nicht schlimmer als früher, eher besser, weil keine unbefriedigten Wünsche mich zu träumerischem Müßiggange verleiteten und die vollkommene Freiheit des Handelns, welche ich beim Geldausgeben empfand, sich auch im Arbeiten durch eine gewisse Raschheit und Entschlossenheit äußerte. Zudem fühlte ich das dunkle Bedürfnis, das unsichtbare Unheil, welches über mir sich sammelte, durch sonstige Pflichterfüllung einigermaßen aufzuwiegen.
Jedoch trotz allem befand ich mich jenen ganzen Sommer hindurch in einem unheimlichen und peinvollen Zustande, dessen Erinnerung, verbunden mit derjenigen an den blauen Himmel und Sonnenschein, an die stillen grünen Waldschenken, in welche wir uns zu heimlichen Gelagen verkrochen, eine seltsame Empfindung wachruft. Meine Genossen mußten längst gemerkt haben, daß es mit meinem Gelde nicht mit rechten Dingen zugehe, aber sie hüteten sich sorgfältig, einen Verdacht zu äußern oder die leiseste Frage an mich zu tun; vielmehr stellten sie sich, als ob sich alles von selbst verstünde, waren mir stillschweigend behilflich, die auffälligen blanken Silberstücke umzuwechseln, ohne in Erörterungen einzugehen, und als die Herrlichkeit ein Ende nahm, wandten sie sich ganz trocken und unbeteiligt von mir, ganz wie erwachsene brave Geschäftsleute, welche in aller Seelenruhe auch den Gewinn der Unredlichen an sich bringen, ohne über den Ursprung desselben Forschungen anzustellen. Dies vorausgeahnte Benehmen drückte mich umsomehr, als ich bald bemerkte, daß sie sich sonderbar gemessen gegen mich betrugen und nur wärmer wurden, wenn ich wieder ein Geldstück auf die Straße brachte, daneben aber sich anderweitig über mich zu besprechen schienen. Während jedoch die kleinliche und gewöhnliche Art der Mehrzahl keine heftige und leidenschaftliche Trennung bedingte, sollte mir die energische Selbstsucht eines einzigen und der daraus entspringende Haß Kummer und Leiden bereiten, wie sie wohl selten in diesem Alter sich zeigen. Derselbe war ein kleiner Bursche mit kleinen regelmäßigen Gesichtszügen, welche von Sommersprossen bedeckt waren. Er besaß einen frühreifen Verstand, lernte fleißig und genau, bestrebte sich gegen ältere Leute, besonders gegen Frauen, in wohlgesetzten, altklugen Worten auszudrücken und galt daher für einen ordentlichen ersprießlichen Jungen. Er war fast in allen Übungen geschickt, durch Aufmerksamkeit und Ausdauer, und brachte alles, was er unternahm, auf eine zierliche Weise zustande. Meierlein, so hieß er, besaß aber kein tieferes Talent; in seinen verschiedensten Unternehmungen war nie etwas Neues oder Eigenes sichtbar, sondern er brachte nur das gut zuwege, was er sich vorgemacht sah, und ihn beseelte nur ein unablässiges Bedürfnis, sich alles Erdenkliche anzueignen. Deshalb konnte er ebensowohl eine vollkommene und reinliche Papparbeit hervorbringen als über einen breiten Graben setzen oder Ball schlagen oder mit einem Steinchen eine bezeichnete Stelle an einer Mauer treffen, alles durch langsame und anhaltende Übung; seine Schulhefte waren korrekt und in bester Ordnung, seine Schrift klein und zierlich, besonders seine Zahlen wußte er ausnehmend angenehm und rundlich in Reihen zu setzen. Seine vorzüglichste Gabe aber war eine gewisse Fähigkeit, mit verständiger Besprechung alles zu überspinnen, Verhältnisse auszuklügeln und mit vielsagender Miene Aufschlüsse und Vermutungen aufzustellen, welche über unser Alter hinausgingen. Dabei war er ein zuverlässiger und kurzweiliger Gesell, gesucht und nützlich, fing wenig Streit an, aber focht einen solchen höchst hartnäckig aus und war daher umso respektierter, als er immer wohlbedächtig auf der Seite stand, wo das wirkliche oder scheinbare Recht ersichtlich war.
Er war anderthalb Jahre älter als ich, hatte sich indessen enger an mich geschlossen als alle übrigen, so daß wir eine besondere Freundschaft bildeten und jeden freien Augenblick beisammen waren. Er ergänzte mich vortrefflich und sagte mir daher sehr zu. Meine Unternehmungen gingen immer auf das Phantastische, Bunte und Wirksame aus, während er durch Genauigkeit und Dauerhaftigkeit der mechanischen Arbeit meinen flüchtigen und rohen Entwürfen Nutzen und Ordnung verlieh. Meierlein ließ mein Geheimnis ebenso vorsichtig bestehen wie die anderen, obwohl es für seine verständige Aufmerksamkeit noch weniger eines sein konnte; doch ließ er nicht ebenso zwischendurch seine Einsicht ahnen, sondern bestrebte sich vielmehr, mich von den zu leichtsinnigen Ausgaben abzuhalten und meine Wünsche auf scheinbar nützliche und gute Dinge zu richten mit gesetzten Worten, was dem Verkehr mit ihm einen soliden Anstrich verlieh. Nur für sich selbst war er mit noch größerem Eifer bedacht als die übrigen, und sich nicht begnügend mit meiner unmittelbaren Freigebigkeit, errichtete er mit großer Einsicht ein Schuldverhältnis zwischen mir und ihm, indem er sich haushälterisch aus meinem Gelde eine kleine Kasse ansammelte, aus welcher er mir, wenn ich augenblicklich nicht über mein Kästchen konnte, mäßige Vorschüsse machte, die wir gemeinsam verbrauchten und die er in ein zierlich angefertigtes Büchelchen eintrug, dessen Seiten mit Soll und Haben ansehnlich überschrieben waren. Überdies wußte er mir eine Menge kindischer Gegenstände zu verkaufen, deren Betrag er durchaus nicht in bar annehmen wollte, sondern in sein Buch setzte. Seine Gewandtheit in den verschiedensten Übungen verwertete er ebenfalls, er war mein dienstbarer Dämon, der alles konnte und alles in Angriff nahm, was wir wünschten, aber jede Dienstleistung durch kleine Münzsorten in meinem Schuldregister bezeichnete. Auf Spaziergängen reizte er mich stets, seine Geschicklichkeit auf die Probe zu stellen. »Soll ich mit diesem Steinchen jenes dürre Blatt treffen?« sagte er, und ich erwiderte: »Das kannst du nicht!« »Willst du mir einen Kreuzer schuldig sein, wenn ich es tue?« »Ja« und er traf es und erschwerte unter den gleichen Bedingungen die Aufgabe manchmal zwölfmal hintereinander, ohne sie je zu verfehlen. Dann schrieb er den Betrag genau in sein Buch mit allerliebsten wohlgestalteten Zahlen, was mir solches Vergnügen gewährte, daß ich laut auflachte. Er aber sagte ernsthaft, da sei gar nichts zu lachen, ich sollte bedenken, daß ich alles einmal berichtigen müßte und daß sein Büchlein eine ordentliche Bedeutung und Gültigkeit hätte vor jedem Geschäftsmann! Dann veranlaßte er mich wieder zu zahlreichen Wetten, ob z. B. ein Vogel sich auf diesen oder jenen Pfahl setzen, ob ein vom Winde bewegter Baum sich das nächste Mal so oder so tief niederbeugen, ob am Gestade des Sees mit dem fünften oder sechsten Wellenschlage eine große Welle ankommen würde. Wenn bei diesem Spiele der Zufall mich manchmal gewinnen ließ, so setzte er in seinem Buche auf die Seite des Soll mit wichtiger Miene ein knappes Zählchen, welches sich in seiner Einsamkeit höchst wunderlich ausnahm und mir neuen Stoff zum Lachen, ihm hingegen zu ernsthaften Redensarten gab. Er suchte mich eifrigst zu überzeugen, daß Schulden eine wichtige Ehrensache seien, und eines Tages, als der Sommer sich seinem Ende nahte, überraschte mich Meierlein mit der Nachricht, daß er nun »abgerechnet« habe, und zeigte mir eine runde Zahl von mehreren Gulden nebst einigen Kreuzern und Pfennigen und bemerkte dabei, daß es nun tunlich wäre, wenn ich darauf dächte, ihm den Betrag einzuhändigen, indem er wünsche, aus seinen Ersparnissen sich ein schönes Buch zu kaufen. Doch erwähnte er hierüber die nächsten zwei Wochen nichts mehr und legte inzwischen eine neue Rechnung an, welches er mit vermehrtem Ernste tat und wobei er ein seltsames Betragen äußerte. Er wurde nicht unfreundlich, aber die alte Fröhlichkeit und Unbefangenheit unseres Verkehres war verschwunden. Eine große Traurigkeit beschlich mich, welche Meierlein durchaus nicht zu stören schien; vielmehr nahm er selber einen elegischen Ton an, ungefähr wie er Abraham überkommen haben mochte, als er mit seinem Sohne Isaak den vermeintlich letzten Gang tat. Nach einiger Zeit wiederholte er seine Mahnung, diesmal mit Entschiedenheit, doch nicht unfreundlich, sondern mit einer gewissen Wehmut und väterlichem Ernste. Nun erschrak ich und fühlte eine heftige Beklemmung, indessen ich versprach, die Sache abzumachen. Jedoch konnte ich mich nicht ermannen, die Summe zu entnehmen, und verlor selbst den Mut, meine gewöhnlichen Eingriffe fortzusetzen. Das Gefühl meiner Lage hatte sich jetzt ganz ausgebildet, ich schlich trübselig umher und wagte nicht zu denken, was nun kommen sollte. Ich fühlte eine beängstigende Abhängigkeit gegen meinen Freund, seine Gegenwart war mir drückend, seine Abwesenheit aber peinlich, da es mich immer zu ihm hintrieb, um nicht allein zu sein und vielleicht eine Gelegenheit zu finden, ihm alles zu gestehen und bei seiner Vernunft und Einsicht Rat und Trost zu finden. Aber er hütete sich wohl, mir diese Gelegenheit zu bieten, wurde immer gemessener im Umgange und zog sich zuletzt ganz zurück, mich nur aufsuchend, um seine Forderung nun mit kurzen, fast feindlichen Worten zu wiederholen. Er mochte ahnen, daß eine Krisis für mich nahe bevorstehe; daher war er besorgt, noch vor dem Ausbruche derselben sein so lang und sorglich gepflegtes Schäfchen ins Trockene zu bringen. Und so war es auch. Um diese Zeit war meine Mutter durch die verspätete Mitteilung eines Bekannten aufmerksam gemacht worden, sie erfuhr endlich mein bisheriges Treiben außer dem Hause, woran hauptsächlich die übrigen Kumpane schuld sein mochten, die sich schon früher von mir gewendet hatten, als meine Niedergeschlagenheit begonnen.
Eines Tages, als ich am Fenster stand und für meine Blicke auf den besonnten Dächern, im Gebirge und am Himmel stille Ruhepunkte und die vorwurfsvolle Stube hinter mir zu vergessen suchte, rief mich die Mutter mit ungewohnter Stimme beim Namen; ich wandte mich um, da stand sie neben dem Tische und auf demselben das geöffnete Kästchen, auf dessen Boden zwei oder drei Silberstücke lagen.
Sie richtete einen strengen und bekümmerten Blick auf mich und sagte dann: »Schau einmal in dies Kästchen!« Ich tat es mit einem halben Blicke, der mich seit langer Zeit zum ersten Male wieder den wohlbekannten inneren Raum der geplünderten Lade sehen ließ. Er gähnte mir vorwurfsvoll entgegen. »Es ist also wahr«, fuhr die Mutter fort, »was ich habe hören müssen, und was sich nun bestätigt, daß sich mein guter und sorgloser Glaube, ein braves und gutartiges Kind zu besitzen, so grausam getäuscht sieht?« Ich stand sprachlos da und sah in eine Ecke, das Gefühl des Unglückes und der Vernichtung kreiste in meinem Innern so stark und gewaltig als es nur immer im langen und vielfältigen Menschenleben vorkommen kann; aber durch die dunkle Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Versöhnung und Befreiung. Der offene Blick meiner Mutter auf meine unverhüllte Lage fing an, den Alp zu bannen, der mich bisher gedrückt hatte, ihr strenges Auge war mir wohltätig und löste meine Qual, und ich fühlte in diesem Augenblicke eine unsägliche Liebe zu ihr, welche meine Zerknirschung durchstrahlte und fast in einen glückseligen Sieg verwandelte, während meine Mutter tief in ihrem Kummer und in ihrer Strenge beharrte. Denn die Art meines Vergehens hatte ihre empfindlichste Seite, sozusagen ihren Lebensnerv getroffen: einesteils das kindliche blinde Vertrauen ihrer religiösen Rechtlichkeit, andernteils ihre ebenso religiöse Sparsamkeit und unwandelbare Lebensfrage. Sie hatte keine Freude beim Anblick des Geldes, nie übersah sie unnötigerweise ihre Barschaft, aber jedes Guldenstück war ihr beinahe ein heiliges Symbolum des Schicksals, wenn sie es in die Hand nahm, um es gegen Lebensbedürfnisse auszutauschen. Desnahen war sie nun weit schwerer mit Sorge erfüllt, als wenn ich irgend etwas anderes begangen hätte. Wie um sich gewaltsam vom Gegenteile zu überzeugen, hielt sie mir alles deutlich und gemessen vor und fragte dann wiederholt: »Ist es denn wirklich wahr? Gestehe!« Worauf ich ein kurzes Ja hervorbrachte und mich meinen Tränen überließ, ohne indessen viel Geräusch zu machen; denn ich war nun völlig befreit und fast vergnügt. Sie ging tief bewegt auf und nieder und sprach: »So weiß ich nun nicht, was werden soll, wenn du dich nicht fest und für immer bessern willst!« Damit legte sie das Kästchen wieder in ihren Schreibtisch und ließ den Schlüssel desselben an dem gewohnten Ort. »Sieh«, sagte sie, »ich weiß nicht, ob du, wenn du deine paar Geldstücke noch verbraucht hättest, alsdann auch nach meinem Gelde, welches ich so sparen muß, gegriffen haben würdest; es wäre nicht unmöglich gewesen; aber mir ist es unmöglich, dasselbe vor dir zu verschließen. Ich lasse daher den Schlüssel stecken, wie bisher, und muß es darauf ankommen lassen, ob du freiwillig dich zum Bessern wendest; denn sonst würde doch alles nichts helfen und es wäre gleichgültig, ob wir beide ein bißchen früher oder später unglücklich würden!«
Es waren gerade etwa acht Tage Ferien, ich blieb von selbst im Hause und suchte alle Winkel auf, in denen ich den Frieden und die Ruhe der früheren Tage wiederfand. Ich war gründlich still und traurig, zumal die Mutter ihren Ernst beibehielt, ab- und zuging, ohne vertraulich mit mir zu sprechen. Am traurigsten war das Essen, wenn wir an unserm kleinen Eßtischchen saßen und ich nichts zu sagen wagte oder wünschte, weil ich das Bedürfnis dieser Trauer selbst fühlte und mir sogar darin gefiel, während meine Mutter in tiefen Gedanken saß und manchmal einen Seufzer unterdrückte.
So verharrte ich im Hause und gelüstete nicht im mindesten ins Freie und zu meinen Genossen zurück. Höchstens betrachtete ich einmal aus dem Fenster, was auf der Straße vorfiel, und zog mich sogleich wieder zurück, als ob die unheimliche Vergangenheit zu mir heranstiege. Unter den Trümmern und Erinnerungen meines verflogenen Wohlstandes befand sich ein großer Farbenkasten, welcher gute Farbentafeln enthielt, statt der harten Steinchen, die man sonst den Knaben für Farben gibt, die aber auch den heißesten Bemühungen nicht eine wohlwollende Tinte preisgeben. Ich hatte schon durch Meierlein erfahren, daß man nicht unmittelbar mit dem Pinsel diese Täfelchen aushöhlen, sondern dieselben in Schalen mit Wasser anreiben müsse. Sie gaben reichliche, gesättigte Tinten, ich fing an, mit selben Versuche anzustellen und lernte sie mischen. Besonders entdeckte ich, daß Gelb und Blau das verschiedenste Grün herstellten, was mich sehr freute, daneben fand ich die violetten und braunen Töne. Ich hatte schon längst mit Verwunderung eine alte in Öl gemalte Landschaft betrachtet, welche an unserer Wand hing; es war ein Abend, der Himmel, besonders der unbegreifliche Übergang des Roten ins Blaue, die Gleichmäßigkeit und Sanftheit desselben reizte mich ungemein, ebenso sehr der Baumschlag, welcher mich unvergleichlich dünkte. Obgleich das Bild unter dem Mittelmäßigen steht, schien es mir ein bewundernswertes Werk zu sein, denn ich sah die mir bekannte Natur um ihrer selbst willen mit einer gewissen Technik nachgeahmt. Stundenlang stand ich auf einem Stuhle davor und versenkte den Blick in die anhaltlose Fläche des Himmels und in das unendliche Blattgewirre der Bäume, und es zeugte eben nicht von größter Bescheidenheit, daß ich plötzlich unternahm, das Bild mit meinen Wasserfarben zu kopieren. Ich stellte es auf den Tisch, spannte einen Bogen Papier auf ein Brett und umgab mich mit alten Untertassen und Tellern; denn Scherben waren bei uns nicht zu finden. So rang ich mehrere Tage lang auf das mühseligste mit meiner Aufgabe; aber ich fühlte mich glücklich, eine so wichtige und andauernde Arbeit vor mir zu haben, vom frühen Morgen bis zur Dämmerung saß ich daran und nahm mir kaum Zeit zum Essen. Der Frieden, welcher in dem gutgemeinten Bilde atmete, stieg auch in meine Seele und mochte von meinem Gesichte auf die Mutter hinüberscheinen, welche am Fenster saß und nähte. Noch weniger als ich den Abstand des Originales von der Natur fühlte, störte mich die unendliche Kluft zwischen meinem Werke und seinem Vorbilde. Es war ein formloses, wolliges Geflecksel, in welchem der gänzliche Mangel jeder Zeichnung sich innig mit dem unbeherrschten Materiale vermählte; wenn man jedoch das Ganze aus einer tüchtigen Entfernung mit dem Ölbilde vergleicht, so kann man noch heute darin einen nicht ganz zu verkennenden Gesamteindruck finden. Kurz, ich wurde zufrieden über meinem Tun, vergaß mich und fing manchmal an zu singen, wie früher, erschrak jedoch darüber und verstummte wieder. Doch vergaß ich mich immer mehr und summte anhaltender vor mich hin, wie Schneeglöckchen im Frühjahr tauchte ein und das andere freundliche Wort meiner Mutter hervor, und als die Landschaft fertig war, fand ich mich wieder zu Ehren gezogen und das Vertrauen der Mutter hergestellt. Als ich eben den Bogen vom Brette löste, klopfte es an die Tür, und Meierlein trat feierlich herein, legte seine Mütze auf einen Stuhl, zog sein Büchlein hervor, räusperte sich und hielt einen förmlichen Vortrag an meine Mutter, indem er in höflichen Worten Klage gegen mich einlegte und die Frau Lee wollte gebeten haben, meine Verbindlichkeiten zu erfüllen; denn es würde ihm leid tun, wenn es zu Unannehmlichkeiten kommen sollte! Damit überreichte der kleine Knirps sein unvermeidliches Buch und bat, gefällige Einsicht zu nehmen. Meine Mutter sah ihn mit großen Augen an, dann auf mich, dann in das Büchelchen und sagte: »Was ist das nun wieder?« Sie durchging die reinlichen Rechnungen und sagte: »Also auch noch Schulden? Immer besser, ihr habt das Ding wenigstens großartig betrieben?« während Meierlein immer rief: »Es ist alles in bester Ordnung, Frau Lee! Diesen letzten Posten nach der Hauptrechnung bin ich jedoch erbötig nachzulassen, wenn Sie mir jene berichtigen wollten.« Sie lachte ärgerlich und rief: »Ei, ei! So so? Wir wollen die Sache einmal mit deinen Eltern besprechen, Herr Schuldenvogt! Wie sind denn diese artigen Schulden eigentlich entstanden?« Da reckte sich der Bursche empor und sagte: »Ich muß mir ausbitten, ganz in der Ordnung!« Die Mutter aber fragte mich streng, da ich ganz verblüfft und in neuer Beklemmung dagestanden: »Bist du dem Jungen dieses schuldig und auf welche Weise? Sprich!« Ich stotterte verlegen Ja und einige Tatsachen über die Natur der Schulden. Da hatte sie schon genug und jagte den Meierlein mit seinem Buche aus der Stube, daß er sich mit frechen Gebärden davonmachte, nachdem er noch einen drohenden Blick auf mich geworfen. Nachher befragte sie mich weitläufig über den ganzen Hergang und geriet in großen Zorn; denn es war vorzüglich das ehrbare Ansehen dieses Knaben gewesen, welches sie über meine Vergehungen keine Ahnung empfinden ließ. Sodann nahm sie Gelegenheit, gründlicher auf alles Geschehene einzugehen und mir eindringliche Vorstellungen zu machen, aber nicht mehr im Tone der strengen und strafenden Richterin, sondern der mütterlichen Freundin, die bereits verziehen hat. Und nun war alles gut.
Allein doch nicht alles. Denn als ich nun wieder in die Schule trat, bemerkte ich, daß mehrere Schüler, um Meierlein versammelt, die Köpfe zusammensteckten und mich höhnisch ansahen. Ich ahnte nichts Gutes, und als die erste Stunde zu Ende war, welche der Rektor der Schule selbst gegeben, trat mein Gläubiger respektvoll vor ihn hin, sein Büchlein in der Hand, und erhob in geläufiger Rede seine Anklage wider mich. Alles war gespannt und horchte auf, ich saß wie auf Kohlen. Der Rektor stutzte, durchsah das Heft und begann das Verhör, welches Meierlein zu beherrschen suchte. Aber der Vorsteher gebot ihm Stille und forderte mich zum Sprechen auf. Ich gab einige kümmerliche Nachricht und hätte gern alles verschwiegen; doch der Mann rief plötzlich; »Genug, ihr seid beide Taugenichtse und werdet bestraft!« Damit trat er zu den aufliegenden Tabellen und bedachte jeden von uns mit einer scharfen Note. Meierlein sagte betreten: »Aber, Herr Professor-« »Still«, rief dieser und nahm das verhängnisvolle Buch, welches er in tausend Stücke zerriß, »wenn noch ein Wort darüber verlautet oder sich dergleichen wiederholt, so werdet ihr eingesperrt und als ein Paar recht bedenkliche Gesellen abgestraft! Pack dich!«
Während der übrigen Unterrichtsstunden schrieb ich ein Briefchen meinem Widersacher, worin ich ihm versicherte, daß ich nach und nach meine Schuld abtragen und ihm jeden Kreuzer zustellen wolle, den ich von nun an ersparen könnte. Ich rollte das Papier zusammen, ließ es unter den Tischen zu ihm hin befördern und erhielt die Antwort zurück: Sogleich alles oder nichts! Nach Beendigung der Schule, als der Lehrer fort war, stellte sich der Dämon an der Tür auf, umgeben von einer schaulustigen Menge, und wie ich hinausgehen wollte, vertrat er mir den Weg und rief: »Seht den Schelm! Er hat den ganzen Sommer hindurch Geld gestohlen und mich um fünf Gulden dreißig Kreuzer betrogen! Wißt es alle und seht ihn an!« »Ein artiger Schelm, der grüne Heinrich!« ertönte es nun von mehreren Seiten, ich rief ganz glühend: »Du bist selbst ein Schelm und Lügner!« Allein ich wurde überschrien, fünf oder sechs boshafte Burschen, welche stets einen Gegenstand der Mißhandlung suchten, scharten sich um Meierlein, folgten mir nach und ließen Schimpfworte ertönen, bis ich in meinem Hause war. Von jetzt an wiederholten sich solche Vorgänge beinahe täglich; Meierlein warb sich eine förmliche Verbindung zusammen, und wo ich ging, hörte ich irgend einen Ruf hinter mir. Ich hatte mein renommistisches Benehmen schon verloren und war wieder ungeschickt und blöde geworden; das reizte den Mutwillen und die Spottsucht meiner Verfolger, bis sie endlich müde wurden. Es waren alles solche Kumpane, welche selbst schon irgend einen Streich verübt oder nur auf Gelegenheit warteten, Werg an die Kunkel zu bekommen. Es war auffallend, daß Meierlein trotz seines altklugen und fleißigen Wesens sich nicht zu ähnlich beschaffenen Naturen hielt, sondern immer in Gesellschaft der Leichtsinnigen, der Mutwilligen und Törichten zu sehen war, wie mit mir und den übrigen. Dagegen nahmen nun die Ruhigen und Unbescholtenen unseres Alters Teil gegen das verfolgungssüchtige Wesen jener, beschützten mich zu wiederholten Malen vor ihren Anfällen und ließen mich überhaupt weder Verachtung noch Unfreundlichkeit fühlen, so daß ich mehr als einem herzlich zugetan wurde, den ich vorher kaum beachtet hatte. Zuletzt blieb Meierlein ziemlich allein mit seinem Grolle, der aber dadurch nur heftiger und wilder wurde, so wie auch in mir jedes Vorgefühl einer Versöhnung erstarb. Wenn wir uns begegneten, so suchte ich wegzublicken und ging stumm vorüber; er aber rief mir laut ein giftiges und tödliches Wort zu, wenn wir allein in der Gegend oder nur fremde Menschen zugegen, waren wir aber nicht allein, so murmelte er dasselbe leise vor sich hin, daß nur ich es hören konnte. Ich haßte ihn nun wohl so bitter als er mich hassen konnte; aber ich wich ihm aus und fürchtete den Augenblick, wo es einmal zur Abrechnung käme. So ging es ein volles Jahr lang und der Herbst war wieder gekommen, wo eine große militärische Schlußübung stattfinden sollte. Wir freuten uns immer auf diesen Tag, weil wir da nach Herzenslust schießen durften. Aber für mich waren alle gemeinsamen Freuden trüb und kalt geworden, da mein Feind zugleich teilnahm und öfter in meine Nähe geriet. Diesmal wurde unsere Schar in zwei Hälften geteilt, von denen die eine den waldigen und steilen Gipfel einer Anhöhe besetzen, die andere aber den Fluß überschreiten, den Hügel umgehen und einnehmen sollte. Ich gehörte zu dieser, mein Feind zu jener Abteilung. Wir hatten schon die ganze Woche vorher mit köstlicher Freude einen leichten, spielzeugartigen Brückenkopf gebaut und kleine Palisaden zugespitzt und eingerammelt während einige Zimmerleute eine Brücke über das seichte Wasser geschlagen. Nun erzwangen wir mit unserm Geschütze höherer Verabredung gemäß den Übergang und trieben rüstig den Feind berghinan. Die Hauptmasse zog auf einem schneckenförmigen Fahrweg aufwärts, indessen eine weitgedehnte Plänklerkette das Gebüsch säuberte und über Stock und Stein vorwärts drang. Bei dieser war das größte Vergnügen und auch die stärkste Aufregung; die einzelnen Leute rückten sich auf den Leib, die zum Rückzuge bestimmten wollten durchaus nicht weichen, man brannte sich die Schüsse fast ins Gesicht, einige wurden ertappt, wie sie Steinchen in den Lauf steckten, und mehr als ein Ladstock schwirrte, im Eifer vergessen, durch die Bäume, und nur das Glück der Jugend verhütete ernstliche Unfälle; auch war der alte Feldwebel, welcher die Plänkler beaufsichtigte, genötigt, mit seinem Stocke dazwischenzuschlagen und reichlich zu fluchen, um die Disziplin einigermaßen zu wahren. Ich befand mich auf einem äußersten Flügel dieser Kette, teilte aber die Aufregung meiner Kameraden nicht, sondern ging gedankenlos vorwärts, ruhig und melancholisch meine Schüsse abgebend und mein Gewehr wieder ladend. Bald hatte ich mich von den übrigen verloren und befand mich mitten am Abhange einer wilden, mir unbekannten Schlucht, in deren Tiefe ein Bächlein rieselte und die mit altem Tannenwalde erfüllt war. Der Himmel hatte sich bedeckt, es ruhte eine düstere und doch weiche Stimmung auf der Landschaft, das Schießen und Trommeln aus der Ferne hob noch die tiefe Stille der unmittelbaren Nähe, ich stand still und lehnte mich ausruhend auf das Gewehr, indem ich einer halb weinerlichen, halb trotzigen Laune anheimfiel, welche mich öfter beschlichen hat gegenüber der großen Natur und welche der Bedrängten Frage nach Glück ist. Da hörte ich Schritte in der Nähe, und auf dem schmalen Felspfade, in der tiefen Einsamkeit, kam mein Feind daher, das Herz klopfte mir heftig, er sah mich stechend an und sandte mir gleich darauf einen Schuß entgegen, so nah, daß mir einige Pulverkörner ins Gesicht fuhren. Ich stand unbeweglich und starrte ihn an; hastig lud er sein Gewehr wieder, ich sah ihm immer zu, dies verwirrte ihn und machte ihn wütend, und in unsäglicher Verblendung der Gescheitheit, der vermeintlichen Dummheit und Gutmütigkeit mitten ins Gesicht zu schießen, wollte er in dichter Nähe eben wieder anlegen, als ich, meine Waffe wegwerfend, auf ihn losfuhr und ihm die seinige entwand. Sogleich waren wir ineinander verschlungen und nun rangen wir eine volle halbe Stunde miteinander, stumm und erbittert, mit abwechselndem Glücke. Er war behend wie eine Katze, wandte hundert Mittel an, um mich zu Falle zu bringen, stellte mir das Bein, drückte mich mit dem Daum hinter den Ohren, schlug mir an die Schläfe und biß mich in die Hand, und ich wäre zehnmal unterlegen, wenn mich nicht eine stille Wut beseelt hätte, daß ich aushielt. Mit tödlicher Ruhe klammerte ich mich an ihn, schlug ihm gelegentlich die Faust ins Gesicht, Tränen in den Augen, und empfand dabei ein wildes Weh, welches ich sicher bin, niemals tiefer zu empfinden, ich mag noch so alt werden und das Schlimmste erleben. Endlich glitten wir aus auf den glatten Nadeln, welche den Boden bedeckten, er fiel unter mich und schlug das Hinterhaupt dermaßen wider eine Fichtenwurzel, daß er für einen Augenblick gelähmt wurde und seine Hände sich öffneten. Sogleich sprang ich unwillkürlich auf, er tat das gleiche; ohne uns anzusehen, ergriff jeder sein Gewehr und verließ den unheimlichen Ort. Ich fühlte mich an allen Gliedern erschöpft, erniedrigt und meinen Leib entweiht durch dieses feindliche Ringen mit einem ehemaligen Freunde. Die künstliche Verlängerung des menschlichen Armes durch eiserne Waffen ist gewiß die Hauptursache der unaustilgbaren Streitsucht; denn wenn die Männer sich von Hand zu Hand angreifen müßten, so würden sie ohne Zweifel die wilde Bestialität, nicht maskiert durch den kalten Stahl, eher inne werden und das öftere Zusammentreffen scheuen.
Von dieser Zeit an trafen wir nie wieder zusammen; er mochte aus meiner verzweifelten Entschlossenheit herausgefühlt haben, daß er im ganzen doch an den Unrechten gerate und vermied jetzt jede Reibung. Aber der Streit war unentschieden geblieben und unsere Feindschaft dauerte fort, ja sie nahm zu an innerer Kraft, während wir uns in den Jahren, die vergingen, nur selten sahen. Jedes Mal aber reichte hin, den begrabenen Haß aufs neue zu wecken. Wenn ich ihn sah, so war mir seine Erscheinung, abgesehen von der Ursache unserer Entzweiung, an sich selbst unerträglich, vertilgungswürdig; ich empfand keine Spur von der milden Wehmut, welche sich sonst beim Anblicke eines verfeindeten Freundes mit dem Unwillen vermischt; ich fühlte den reinen Haß und daß, wie sonst Jugendfreunde für das ganze Leben, auch bei getrennten Verhältnissen, eine Zuneigung bewahren, dieser im gleichen Sinne der Dauer mein Jugendfeind sein würde. Ganz die gleichen Empfindungen mochte er bei meinem Anblicke erfahren, wozu noch der Umstand kam, daß die engere Veranlassung unserer Feindschaft, die Geschichte des Schuldbuches, für ihn an sich selbst unvergeßlich sein mußte. Er war unterdessen in ein Komtoir getreten, hatte seine eigentümlichen Fähigkeiten fort und fort ausgebildet, bewies sich als sehr brauchbar, klug und vielversprechend und erwarb sich die Neigung seines Vorgesetzten, eines schlauen und gewandten Geschäftsmannes; kurz, er fühlte sich glücklich und sah voll Hoffnung auf sein zukünftiges Selbstwirken. So kann ich mir gar wohl denken, daß die arge Enttäuschung, welche sein erster jugendlicher Versuch, ein Geschäft zu machen, erfuhr, für ihn ebenso nachhaltig schmerzlich sein mußte als einer kindlichen Dichter- oder Künstlernatur der erste verneinende Hohn, welcher ihren naiven und harmlosen Versuchen zuteil wird.
Wir waren schon konfirmiert, er etwa achtzehn, ich siebzehn Jahre alt, wir begannen uns selbständiger zu bewegen und lernten nun Verhältnisse und Menschen kennen. Wenn wir an öffentlichen Orten zusammentrafen, so vermieden wir, uns anzusehen, aber jeder weihte seine Freunde in seinen Haß ein, welcher manchmal umso gefährlicher zu wirken und auszubrechen drohte, als nun ein jeder mit solchen jungen Leuten umging, die seiner Beschäftigung und seinem Wesen entsprachen und also einen empfänglichen Boden für eine weiterzündende Feindschaft bildeten. Deswegen dachte ich mit Sorge an die Zukunft und wie das denn nun das ganze Leben hindurch in der kleinen beschränkten Stadt gehen sollte? Allein diese Sorge war unnütz, indem ein trauriger Fall ein frühes Ende herbeiführte. Der Vater meines Widersachers hatte ein altes wunderliches Gebäude gekauft, welches früher eine städtische Ritterwohnung gewesen und mit einem starken Turme versehen war. Dies Gebäude wurde nun wohnlich eingerichtet und in allen Winkeln mit Veränderungen heimgesucht. Für den Sohn war dies eine goldene Zeit, da nicht nur das Unternehmen überhaupt eine Spekulation war, sondern es auch eine Menge Geschicklichkeiten und Selbsthilfe an den Tag zu legen gab. Jede Minute, die er frei hatte, steckte er unter den Bauleuten, ging ihnen an die Hand und übernahm viele Arbeiten ganz, um sie zu ersetzen und zu sparen. Mein Weg zur Arbeit führte mich jeden Tag an diesem Hause vorüber und immer sah ich ihn zwischen zwölf und ein Uhr, wenn alle Arbeiter ruhten, und am Abend wieder, mit einem Farbentopfe oder mit einem Hammer unter Fenstern oder auf Gerüsten stehen. Er war seit der Kinderzeit fast gar nicht mehr gewachsen und sah in seiner Emsigkeit, an den ungeheuerlichen Mauern hängend, höchst seltsam aus; ich mußte unwillkürlich lachen und hätte fast einem freundlicheren Gefühle Raum gegeben, da er in diesem Wesen doch liebenswürdig und tüchtig erschien, wenn er nicht einst die Gelegenheit wahrgenommen hätte, einen ansehnlichen Pinsel voll Kalkwasser auf mich herunterzuspritzen.
Eines Tages, als ich des Hauses bereits ansichtig war, führte mich mein milder Stern durch eine Seitenstraße einen andern Weg; als ich einige Minuten später wieder in die Hauptstraße einbog, sah ich viele erschreckte Leute aus der Gegend jenes Hauses herkommen, welche eifrig sprachen und lamentierten. Um die Wegnahme einer alten Windfahne auf dem Turme zu bewerkstelligen, hatten die Bauleute erklärt, ein erhebliches Gerüste anbringen zu müssen. Der Unglückliche, der sich alles zutraute, wollte die Kosten sparen und während der Mittagsstunde die Fahne in aller Stille abnehmen, hatte sich auf das steile hohe Dach hinausbegeben, stürzte herab und lag in diesem Augenblicke zerschmettert und tot auf dem Pflaster.
Es durchfuhr mich, als ich die Kunde vernommen und schnell meines Weges weiter ging, wohl ein Grauen, verursacht durch den Fall, wie er war; aber ich mag mich durchwühlen, wie ich will, ich kann mich auf keine Spur von Erbarmen oder Reue entsinnen, die mich durchzuckt hätte. Meine Gedanken waren und blieben ernst und dunkel, aber das innerste Herz, das sich nicht gebieten läßt, lachte auf und war froh. Wenn ich ihn leiden gesehen oder seinen Leichnam geschaut, so glaube ich zuversichtlich, daß mich Mitleid und Reue ergriffen hätten; doch das unsichtbare Wort, mein Feind sei mit einem Schlage nicht mehr, gab mir nur Versöhnung, aber die Versöhnung der Befriedigung und nicht des Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich konstruierte zwar, als ich mich besonnen, rasch ein künstliches und verworrenes Gebet, worin ich Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergessenheit bat; mein Inneres lächelte dazu, und noch heute, nachdem wieder Jahre vorübergegangen, fürchte ich, daß meine nachträgliche Teilnahme an jenem Unglücke mehr eine Blüte des Verstandes als des Herzens sei, so tief hatte der Haß gewurzelt!
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