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Der nächste junge Tag ließ mich von allen Seiten mit dem Rufe: Maler! begrüßen. Guten Morgen, Maler! Haben der Herr Maler wohl geruht? Maler, zum Frühstück! hieß es, und das Völklein handhabte diesen Titel mit derjenigen gutmütig spottenden Freude, welche es immer empfindet, wenn es für einen neuen Ankömmling, den es nicht recht anzugreifen wußte, endlich eine geläufige Bezeichnung gefunden hat. Ich ließ mir jedoch den angewiesenen Rang trefflich munden und nahm mir im stillen vor, denselben nie mehr aufzugeben. Ich brachte aus Pflichtgefühl die erste Morgenstunde noch über meinen Schulbüchern zu, mich selbst unterrichtend; aber mit dem grauen Löschpapier dieser melancholischen Werke kam die öde und die Beklemmung der Vergangenheit wieder heran; jenseits des Tales lag der Wald in silbergrauem Duft, die Terrassen hoben sich merklich voneinander los, ihre laubigen Umrisse, von der Morgensonne bestreift, waren hellgrün, jede bedeutende Baumgruppe zeichnete sich groß und schön in dem zusammenhaltenden Dufte und schien ein Spielwerk für die nachahmende Hand zu sein; meine Schulstunde wollte aber nicht vorübergehen, obschon ich längst nicht mehr aufmerkte.
Ungeduldig ging ich, ein Lehrbuch der Physik in der Hand, hin und her und durch mehrere Zimmer, bis ich in einem derselben die weltliche Bibliothek des Hauses entdeckte; ein breiter alter Strohhut, wie ihn die Mädchen zur Feldarbeit brauchen, hing darüber und verbarg sie beinahe ganz. Wie ich denselben aber wegnahm, sah ich eine kleine Schar guter Franzbände mit goldenem Rücken, ich zog einen Quartband hervor, blies den dichten Staub davon und schlug die Geßnerschen Werke auf, in dickem Schreibpapier, mit einer Menge Vignetten und Bildern geschmückt. Überall wo ich blätterte, war von Natur, Landschaft, Wald und Flur die Rede, die Radierungen, von Geßners Hand mit Liebe und Begeisterung gemacht, entsprachen diesem Inhalte, ich sah meine Neigung hier den Hauptinhalt eines großen, schönen und ehrwürdigen Buches bilden. Als ich aber auf den Brief über die Landschaftsmalerei geriet, worin der Verfasser einem jungen Manne guten Rat erteilt, las ich denselben überrascht vom Anfang bis zum Ende durch. Die unschuldige Naivität dieser Abhandlung war mir ganz faßlich; die Stelle, wo geraten wird, mannigfaltig gebrochene Feld- und Bachsteine auf das Zimmer zu tragen und darnach Felsenstudien zu machen, entsprach meinem noch halbkindischen Wesen und leuchtete mir ungemein in den Kopf. Ich liebte sogleich diesen Mann und machte ihn zu meinem Propheten. Nach mehr Büchern von ihm suchend, fand ich ein kleines Bändchen, nicht von ihm, aber seine Biographie enthaltend. Auch dieses las ich auf der Stelle ganz durch. Er war ebenfalls ein hoffnungsloser Schüler gewesen, indessen er auf eigene Faust schrieb und künstlerischen Beschäftigungen nachhing. Es war in dem Werklein viel von Genie und eigener Bahn und solchen Dingen die Rede, von Leichtsinn, Drangsal und endlicher Verklärung, Ruhm und Glück. Ich schlug es still und gedankenvoll zu, dachte zwar nicht sehr tief, war jedoch, wenn auch nicht klar bewußt, für die Bande geworben.
Es ist bei der besten Erziehung nicht zu verhüten, daß dieser folgenreiche und gefährliche Augenblick nicht über empfängliche junge Häupter komme, unbemerkt von aller Umgebung, und wohl nur wenigen ist es vergönnt, daß sie erst das leidige Wort Genie kennen lernen, nachdem sie unbefangen und arglos bereits ein gesundes Stück Leben, Lernen, Schaffen und Gelingen hinter sich haben. Ja, es ist überhaupt die Frage, ob nicht zu dem bescheidensten Gelingen eine dichte Unterlage von bewußten Vorsätzen und allem Apparate genialer Grübelei gehöre, und der Unterschied möchte oft nur darin bestehen, daß das wirkliche Genie diesen Apparat nicht sehen läßt, sondern vorweg verbrennt, während das bloß vermeintliche ihn mit großem Aufwande hervorkehrt und um seine mageren Gestaltungen wirft wie einen Theatermantel.
Den berückenden Trank schöpfte ich jedoch nicht aus einem anspruchsvollen und blendenden Zauberbecher, sondern aus einer bescheidenen lieblichen Hirtenschale; denn bei allen Redensarten war dies Geßnersche Wesen durchaus einfacher und unschuldiger Natur und führte mich für einmal nur mit etwas mehr Bewußtsein unter grünen Baumschatten und an stille Waldquellen.
In der Biographie machte ich auch die Bekanntschaft mit dem alten Sulzer, welcher in Berlin des jungen Geßner Gönner gewesen; wie ich nun unter den Büchern einige stattliche Bände der »Theorie der schönen Künste« wahrnahm, nahm ich sie als in mein neuentdecktes Gebiet gehörig in Beschlag. Dies Buch muß seinerzeit eine gewaltige Verbreitung gefunden haben, da man es fast in allen alten Bücherschränken findet und es auf allen Auktionen spukt und für wenig Geld erstanden werden kann. Wie ich die enzyklopädische Einrichtung desselben bemerkte, schlug ich flugs den Artikel Landschaftsmalerei nach und, als ich ihn gelesen, alle möglichen übrigen Begriffe, die ich teils schon gehört, teils aus eben diesem Artikel abgezogen hatte, über Schulen, Meister, Farbe, Licht, Perspektive und dergleichen; las dazwischen schnell einen Artikel über ein anderes Gebiet, der gerade neben einem Malerartikel stand und mir auffiel, und als der Mittag herannahte, war mein Kopf von Gelehrsamkeit vollgepfropft, ich fühlte beinahe selbst den gravitätischen Hochmut in meinen festgeschlossenen Lippen und aufgespannten Augen und schleppte sämtliche Kunstliteratur in mein Zimmer hinüber zu der Mappe des Junker Felix.
Kaum nahm ich mir nach Tische noch Zeit, bei der Großmutter einen kurzen Besuch abzustatten, ein Glas Wein zu trinken, welchen sie schon seit Vormittag für mich bereit gehalten, und ein kleines Testamentchen mit Goldschnitt und silbernem Schlößchen, welches nach ihrer Angabe ein verspätetes Patengeschenk für meinen schon fortgezogenen Vater gewesen, vergessen worden und lange Jahre in ihrem Schranke liegen geblieben und welches sie treulich für mich aufgehoben hatte: kaum nahm ich mir Zeit, dies rührende und zierliche Geschenk einzustecken, und eilte wieder davon. Die Großmutter sah mir, so weit ihre schwachen Augen reichten, etwas wehmütig nach; denn sie hatte mir die heilige Gabe mit besonderer Liebe und Feierlichkeit einhändigen wollen. Aber ich schwand ihr eilig aus dem Gesichte, allein begierig, meine angefachte Kunsteinsicht an den Mann oder vielmehr an die Bäume zu bringen.
Mit einer Mappe und Zubehör versehen, schritt ich bereits unter den grünen Hallen des Bergwaldes hin, jeden Baum betrachtend, aber nirgends eigentlich einen Gegenstand sehend, weil der stolze Wald eng verschlungen, Arm in Arm stand und mir keinen seiner Söhne einzeln preisgab; die Sträucher und Steine, die Kräuter und Blumen, die Formen des Bodens schmiegten und duckten sich unter den Schutz der Bäume und verbanden sich überall mit dem großen Ganzen, welches mir lächelnd nachsah und meiner Ratlosigkeit zu spotten schien. Endlich trat ein gewaltiger Buchbaum mit reichem Stamme und prächtigem Mantel und Krone herausfordernd vor die verschränkten Reihen, wie ein König aus alter Zeit, der den Feind zum Einzelkampfe aufruft. Dieser Recke war in jedem Aste und jeder Laubmasse so fest und klar, so lebens- und gottesfreudig, daß seine Sicherheit mich blendete und ich mit leichter Mühe seine Gestalt bezwingen zu können wähnte. Schon saß ich vor ihm und meine Hand lag mit dem Stifte auf dem weißen Papiere, indessen eine geraume Weile verging, ehe ich mich zu dem ersten Strich entschließen konnte; denn je mehr ich den Riesen an einer bestimmten Stelle genauer ansah, desto unnahbarer schien mir dieselbe und mit jeder Minute verlor ich mehr meine Unbefangenheit. Endlich wagte ich, von unten anfangend, einige Striche und suchte den schön gegliederten Fuß des mächtigen Stammes festzuhalten; aber was ich machte, war leben- und bedeutungslos, die Sonnenstrahlen spielten durch das Laub auf dem Stamme, beleuchteten die markigen Züge und ließen sie wieder verschwinden, bald lächelte ein grauer Silberfleck, bald eine saftige Moosstelle aus dem Helldunkel, bald schwankte ein aus den Wurzeln sprossendes Zweiglein im Lichte, ein Reflex ließ auf der dunkelsten Schattenseite eine neue mit Flechten bezogene Linie entdecken, bis alles wieder verschwand und neuen Erscheinungen Raum gab, während der Baum in seiner Größe immer gleich ruhig dastand und in seinem Innern ein geisterhaftes Flüstern vernehmen ließ. Aber hastig und blindlings zeichnete ich weiter, mich selbst betrügend, baute Lage auf Lage, mich ängstlich nur an die Partie haltend, welche ich gerade zeichnete, und gänzlich unfähig, sie in ein Verhältnis zum Ganzen zu bringen, abgesehen von der Formlosigkeit der einzelnen Striche. Die Gestalt auf meinem Papiere wuchs ins Ungeheuerliche, besonders in die Breite, und als ich an die Krone kam, fand ich keinen Raum mehr für sie und mußte sie, breit gezogen und niedrig, wie die Stirne eines Lumpen, auf den unförmlichen Klumpen zwingen, daß der Rand des Bogens dicht am letzten Blatte stand, während der Fuß unten im Leeren taumelte. Wie ich aufsah und endlich das Ganze überflog, grinste ein lächerliches Zerrbild mich an, wie ein Zwerg aus einem Hohlspiegel, die lebendige Buche aber strahlte noch einen Augenblick in noch größerer Majestät als vorher, wie um meine Ohnmacht zu verspotten; dann trat die Abendsonne hinter den Berg und mit ihr verschwand der Baum im Schatten seiner Brüder. Ich sah nichts mehr als eine grüne Wirrnis und das Spottbild auf meinen Knien. Ich zerriß dasselbe, und so hochmütig und anspruchsvoll ich in den Wald gekommen, so kleinlaut und gedemütigt war ich nun. Ich fühlte mich abgewiesen und hinausgeworfen aus dem Tempel meiner jugendlichen Hoffnung, der tröstende Inhalt des Lebens, den ich gefunden zu haben wähnte, entschwand meinem innern Blicke, und ich kam mir nun vor wie ein wirklicher Taugenichts, mit welchem wenig anzufangen sei. Ich brach verzagt und weinerlich auf, mit gebrochenem Mute nach einem andern Gegenstande suchend, welcher sich barmherziger gegen mich erwiese. Allein die Natur, mehr und mehr sich verdunkelnd und verschmelzend, ließ mir kein Almosen ab; in meiner Bedrängnis tat sich mir das Wort kund »Aller Anfang ist schwer« und mit demselben die Einsicht, daß ich ja erst jetzt anfange und diese Mühsal eben den Unterschied von dem früheren Spielwerke begründe. Aber diese Einsicht stimmte mich nur trauriger, da mir Mühseligkeit und saurer Fleiß bisher spanische Dörfer gewesen und keineswegs sehr verlockend, vielmehr der Arbeit die Seele und die freudige Lust zu nehmen schienen. Ich nahm meine Zuflucht endlich wieder einmal zu Gott, der mir im Rauschen des Waldes und in meinem eingebildeten Elende wieder nahe getreten, und bat ihn flehentlich, mir zu helfen um meiner Mutter willen, deren sorgenvoller Einsamkeit ich nun auch gedachte.
Da traf ich auf eine junge Esche, welche mitten in einer Waldlücke auf einem niedrigen Erdwalle emporwuchs, von einer sickernden Quelle getränkt. Das Bäumchen hatte einen schwanken Stamm von nur zwei Zoll Dicke und trug oben eine zierliche Laubkrone, deren regelmäßig gereihte Blätter zu zählen waren und sich, sowie der Stamm, einfach, deutlich und anmutig auf das klare Gold des Abendhimmels zeichneten. Weil das Licht hinter der Pflanze war, sah man nur den scharfen Umriß des Schattenbildes, es schien wie absichtlich zur Übung eines Schülers hingestellt.
Ich setzte mich noch einmal hin und wollte flugs das kindliche Stämmchen mit zwei parallelen Linien auf mein Papier stehlen; aber noch einmal wurde ich gehöhnt, indem der einfache, grünende Stab im selben Augenblicke, wo ich ihn zu zeichnen und genauer anzusehen begann, eine unendliche Feinheit und Mannigfaltigkeit der Bewegung annahm. Die beiden aufstrebenden Linien schmiegten sich in allen kaum merklichen Biegungen so streng aneinander, sie verjüngten sich nach oben so fein und die jungen Äste gingen endlich in so gemessenen Winkeln daraus hervor, daß um kein Haar abgewichen werden durfte, wenn das Bäumchen seine schöne Gestalt behalten sollte. Doch nahm ich mich zusammen und klammerte mich ängstlich und aufmerksam an jede Bewegung meines Vorbildes, woraus endlich nicht eine sichere und elegante Skizze, sondern ein zaghaftes, aber ziemlich treues Gebilde hervorging. Ich fügte, einmal im Zuge, mit Andacht die nächsten Gräser und Würzelchen des Bodens hinzu und sah nun auf meinem Blatte eines jener frommen nazarenischen Stengelbäumchen, welche auf den Bildern der alten Kirchenmaler und ihrer heutigen Epigonen den Horizont so anmutig und naiv durchschneiden. Ich war zufrieden mit meiner bescheidenen Arbeit und betrachtete sie noch lange abwechselnd mit der schlanken Esche, die sich im leisen Abendhauche wiegte und mir wie ein freundlicher Himmelsbote erschien. Als ob ich Wunder was verrichtet hätte, zog ich hoch vergnügt dem Dorfe zu, wo meine Verwandten begierig waren, die Früchte meiner mit so viel Anspruch unternommenen Waldfahrt zu sehen. Nachdem ich aber mein Bäumlein mit seinen höchstens vier Dutzend Blättern hervorgezogen, löste sich die Erwartung in ein allgemeines Lächeln auf, welches bei den Unbefangensten zum Gelächter wurde; nur dem Oheim gefiel es, daß man doch gleich ein junges Eschchen erkannte, und er munterte mich auf, unverdrossen fortzufahren und die Waldbäume recht zu studieren, wozu er mir als Forstmann behilflich sein wolle. Er besaß noch so viel städtische Erinnerung, daß ihm dergleichen nicht lächerlich vorkam; auch mochten leidenschaftliche Jäger von jeher die Malerei wohl leiden, insofern sie den Schauplatz ihrer Freuden und ihre Taten selbst verherrlicht. Daher begann er nach dem Abendessen noch sogleich einen Kursus mit mir und sprach von den Eigentümlichkeiten der Bäume und von den Stellen, wo ich die lehrreichsten Exemplare finden würde. Zuvörderst aber empfahl er mir, die Studien des Junkers Felix zu kopieren, was ich an den folgenden Tagen mit großem Eifer tat, indessen wir an den schönen Abenden unsere Rekognoszierungen für die nächste Jagdzeit fortsetzten und dabei die reizendsten Gründe und Höhen durchstreiften, umgeben und begleitet von der reichsten Baumwelt.
So ging die erste Woche meines ländlichen Aufenthaltes angenehm zu Ende, und um diese Zeit wußte ich schon die meisten Bäume voneinander zu unterscheiden, und freute mich, die grünen Gesellen mit ihren Namen begrüßen zu können; nur hinsichtlich der reichen Kräuterwelt des feuchten oder trockenen Bodens bedauerte ich erst jetzt wieder lebhaft die Unterbrechung jener botanischen Anfänge in der Schule, da ich wohl fühlte, daß für die Kenntnis dieser kleinen, aber weit mannigfaltigeren Welt einige grobe Umrisse nicht genügten, und doch hätte ich so gern die Namen und Eigenschaften aller der blühenden Dinge gekannt, welche den Boden bedeckten.
Auf den ersten Sonntag meiner Anwesenheit war schon ein Besuch verabredet worden, welchen wir jungen Leute hinter dem Walde abstatten wollten. Dort wohnte auf einem einsamen und abgelegenen Hofe ein Bruder meiner Muhme mit einer jungen Tochter, welche mit meinen Basen eine eifrige Mädchenfreundschaft pflag. Ihr Vater war früher Dorfschulmeister gewesen, hatte aber nach dem Tode seiner Frau sich in jenen beschaulichen Waldhof zurückgezogen, da er ein hinlängliches Vermögen besaß und das gerade Gegenteil meines Oheims darstellte. Während dieser, von städtischer Abkunft und in einigen geistlichen Studien aufgewachsen, dieses alles hinter sich geworfen und vergessen hatte, um sich ganz der braunen Ackererde und dem wilden Forste hinzugeben, strebte jener, von bäuerischem Herkommen und dürftiger Bildung, allein nach milden und feinen Sitten, nach dem Leben und Ruhme eines Weisen und Gerechten und vertiefte sich in beschauliche geistliche und philosophische Spekulationen, betrachtete die Natur nach Anleitung allerlei seltsamer Bücher und freute sich, vernünftige Gespräche anzuknüpfen, sooft sich hierzu die Gelegenheit bot, wobei er eine große Artigkeit zu entfalten bestrebt war. Sein Töchterchen, ungefähr von vierzehn Jahren, lebte still und fein in dem milden Lichte solcher Gesinnungsweise und stellte nach den Wünschen ihres Vaters eher ein zartes Pfarrerskind vor denn eine Landmannstochter, indessen die weibliche Nachkommenschaft meines Oheims, zur derben Arbeit gehalten, einen starken Anhauch von Regen und Sonnenschein zeigte, welcher sie aber viel eher zierte als entstellte und dem Glanze ihrer frischen Augen entsprach.
Meine drei Basen, von zwanzig, sechzehn und vierzehn Jahren, mit städtisch verwälschten Namen: Margot, Lisette und Caton, hielten am Sonntag nachmittag lange Konferenz in ihren Kämmerchen, einander wechselseitig besuchend und die Türen hinter sich abschließend. Wir Burschen, deren Toilette längst beendigt war, harrten ungeduldig und konnten nur durch Schlüssellöcher und Türspalten bemerken, daß die Kleiderschränke weit geöffnet und die Mädchen mit wichtigen Gebärden ratschlagend davor standen. Ein starker Geruch verschiedener Spezereien verbreitete sich und bildete mit den neuen Stoffen und Siebensächelchen, welche in den Schränken lagen, jenen behaglichen Duft, der sich aus geöffneten Frauenschränken oder sonstigen Mobilien entwickelt. Um uns die Zeit zu vertreiben, begannen wir die andächtigen Töchter zu necken und drangen endlich mit hellem Haufen in ihre Mitte, über einen mächtigen Schrank herfallend, um die Nasen in die hundert Schächtelchen, Büchschen und Heimlichkeiten zu stecken. Aber mit dem Mute wilder Löwinnen, denen man die Jungen rauben will, wurden wir hinausgeworfen und führten vor den Türen einen vergeblichen Kampf, dieselben wieder aufzubrechen. Da gingen sie mit einem Male nach einer kurzen Stille von selber auf und heraus traten, verschämt und unwillig und doch siegbewußt, die drei armen Kinder, bunt und prächtig, nach der vorjährigen Mode gekleidet, mit vorweltlichen Parasols und wunderbar geformten Ridiküls, der eine einem Sterne gleich, der andere einem Halbmonde, der dritte ein Mittelding zwischen Säbeltasche und Lyra.
Dies alles mußte umso größeren Eindruck machen, wenn man bedachte, daß die guten Mädchen Autodidaktinnen waren und in Sachen des Putzes ganz allein und ratlos in der Welt dastanden; denn ihre Mutter hatte einen Abscheu vor aller Stadtkleidung und riß jedesmal, wenn sie aus der Kirche kam, die furchtbare Horiahaube, welche sie als Pfarrfrau trug, sogleich herunter. Die Damen des neuen Pfarrers, außerdem die einzigen im Dorfe, waren stolz, unzugänglich und bezogen ihren Putz fertig aus der Stadt. So waren meine Basen ganz auf sich selbst, auf eine intelligente Dorfnähterin und auf einige Traditionen des Hauses gewiesen, welche sie als eifrige Forscherinnen der dunklen Vergangenheit entlockten. Deswegen waren ihre Erfolge doppelt achtungswert, und wenn wir sie mit einem spöttischen Ah! empfingen bei ihrer heutigen Erscheinung, so war dieser Spott nur ein verstellter und die Maske einer aufrichtigen Bewunderung.
Indessen entsprach unsere Tracht an kühner und eleganter Mischung vollkommen derjenigen der Jungfrauen. Die Vettern trugen Jacken von ziemlich grobem Tuche, welchen aber der Dorfschneider in betracht ihres Ranges einen kecken, ja höchst gewagten Zuschnitt gegeben hatte, indem er in die tiefsten Abgründe seiner Phantasie und Erfahrung hinuntergestiegen. Diese Jacken waren mit einer Unzahl blanker Knöpfe besetzt, auf welchen die Tiere des Waldes gepreßt in jagdgerechten Sprüngen erschienen und welche der Oheim einst bei guter Gelegenheit en gros eingehandelt und sich so für Kind und Kindeskind versehen hatte. Die abgefallenen Stücke dieser Zierat gingen unter der Dorfjugend als gangbare Münze und wogen beim Spiele sechs Horn- oder Bleiknöpfe auf. Daher mochte es kommen, daß die Jacken des jüngsten Sohnes, welcher noch in lebhaftem Verkehre mit den Knopfkapitalisten stand, äußerlich immer dieser Zierde beraubt waren und sie dagegen im Innern ihrer Taschen verbargen, daß sogar den Kleidungsstücken der älteren Brüder mehr Knöpfe abgingen als nach der Haltbarkeit des derben Zwirnes jenes Jackendichters zu berechnen war. Ich selber trug zu meinem grünen Soldatenrock mit roten Schnürchen weiße Beinkleider, keine Weste über dem burschikosen Hemde, hingegen das rote Seidentuch der Großmutter malerisch umgeschlungen, und überdies hing die goldene Uhr meines Vaters, die ich ererbt, aber nie recht in Ordnung zu halten verstand, an einem tüchtigen blauen Bande mit gestickten Blumen, das ich den Schachteln meiner Mutter entnommen hatte. Von der Mütze hatte ich längst den philisteriösen Schirm abgetrennt, daß sie die Stirn frei ließ, und ich hätte wie ein vollendeter Jahrmarktsbursche ausgesehen, wenn nicht die Unschuld und Schüchternheit des Alters den unbescheidenen Aufzug gemildert hätten. Menschen, welche etwas Besseres und Tieferes ahnen und wünschen, werden sich, wie ich glaube, mehr und mehr aller lächerlichen Äußerlichkeiten enthalten, je mehr sie dem geahnten Inhalte durch Erfahrung und Tat nahe treten; je mehr sie aber noch davon entfernt sind, desto ängstlicher klammern sie sich an solche Schnörkeleien. Allein gerade diese Äußerlichkeit verhindert oft das Innere, sich rasch zu entwickeln, wenn nicht ein Mann und Vater vorhanden ist, welcher sie mit gesundem Spotte beschneidet und unterdrückt, indessen er dem aufstrebenden Sohne das Wahre mit fester Hand vorzeichnet.
Man konnte auf zwei Wegen zu der Wohnung des alten Schulmeisters gelangen: entweder mußten wir einen lang gedehnten Berg hinter dem Dorfe ersteigen und, längs auf demselben fortgehend, endlich jenseits niedersteigen, wo wieder ein Tal lag, ähnlich dem unserigen, nur kleiner und runder und beinahe ganz mit einem tiefen dunklen See erfüllt; oder wir konnten längs des Flusses unser Tal durchwandern und mit dem in Gehölzen sich verlierenden Wasser um den Berg herum an den See gelangen, in welchen jenes sich ergoß und an welchem das befreundete Haus lag.
Wir zogen es vor, mit dem kurzweiligen Flüßchen den Hinweg zurückzulegen und erst in der Abendkühle über den Berg heimzukehren, und unsere bunte, weithin glänzende Gesellschaft bewegte sich bald durch das grüne Tal hin, bis wir in eine reizende Wildnis gelangten, wo der Wald von beiden Seiten an das Gewässer niederstieg und dasselbe kühl und dunkel überschattete. Bald faßte er es mit undurchdringlichen Laubwänden ein, daß wir die überhangenden Zweige zurückbiegen mußten, bald weitete er sich auf und ließ eine Schar lichter, hoher Tannen auf sonnigem Boden vorrücken, dann lagen herabgestürzte Felsblöcke am Rande und im Wasser und verursachten Wasserfälle, indessen zurückgebliebene Trümmer aus dem Gebüsche der Abhänge hervorragten; kleine Seitenwege lockten ins Dunkel und überall enthüllten sich die lieblichsten Geheimnisse. Die roten, blauen und weißen Gewänder der Mädchen leuchteten herrlich in dem dunklen Grün, die Vettern sprangen von Stein zu Stein, daß ihre Goldknöpfe aufblitzten und mit den Silberkringeln der Wellen wetteiferten. Allerhand Getier machte sich sichtbar, hier sahen wir die Federn einer Taube, die unzweifelhaft von einem Raubvogel zerrissen worden, dort schoß eine Schlange durch die Uferwellen über die glatten Kiesel hin, und in einer abgetrennten Untiefe hatte sich eine schimmernde Forelle gefangen, welche mit ihrer Schnauze ängstlich an den abschließenden Steinen herumtastete, bei unserer Annäherung aber einen Salto mortale machte und im strömenden Elemente verschwand.
So waren wir unbemerkt um den Berg herumgekommen, die holde Wildnis erweiterte sich und ließ mit einem Male den stillen dunkelblauen, mit Silber besprengten See sehen, der mit seiner friedevollen Umgebung im lautlosen Glanze eines Sonntagnachmittages ruhte. Ein schmaler Streifen bebauter Erde zog sich um den See herum, hinter demselben setzte sich überall der ansteigende Wald fort, welcher aber da und dort wieder ein stilles Ackerfeld bergen mußte, da hier und da ein rotes Dach oder eine blaue Rauchsäule aus dem Dickicht emporstieg. Nur auf der Sonnenseite lag ein ansehnlicher Weinberg und zu Füßen desselben das Haus des Schulmeisters, dicht am See, unmittelbar über den höchsten Weinreihen aber hing der reine tiefe Himmel, und dieser spiegelte sich in dem glatten Wasser, bis wo er durch den gelben Kornstreifen, die smaragdenen Kleefelder und den dahinter liegenden Wald, welche alle sich gänzlich unverändert in der Flut auf den Kopf stellten, begrenzt wurde. Das Haus war weiß getüncht, das Fachwerk rot angestrichen und die Fensterladen mit großen Muscheln und Blumen bemalt, aus den Fenstern wehten weiße Gardinen und aus der Haustür trat, ein zierliches Treppchen herunter, das junge Bäschen, schlank und zart wie eine Narzisse, in einem weißen Röckchen und mit einem himmelblauen Bande gegürtet, mit goldbraunen Haaren, blauen Äuglein, einer etwas eigensinnigen Stirne und einem kleinen lächelnden Mündchen. Auf den schmalen Wangen wallte ein Erröten über das andere hin, das feine Glockenstimmchen klang kaum vernehmbar und verhallte alle Augenblicke wieder. Durch ein duftendes Rosen- und Nelkengärtchen führte uns Anna, nachdem sie sich mit meinen Basen so zärtlich und feierlich begrüßt hatte, als ob sie einander ein Jahrzehnt nicht gesehen, in das vor Reinlichkeit und Aufgeräumtheit widerhallende Haus, wo uns ihr Vater, in einem saubern grauen Fracke und weißer Halsbinde, in gestickten Pantoffeln einhergehend, herzlich und zufrieden willkommen hieß. Er hatte den beschaulichen Sonntag über Büchern zugebracht, welche noch auf dem Tische lagen, und mochte nun froh sein, unverhofft eine so hübsche Anzahl Zuhörer für seine Beredsamkeit vor sich zu sehen. Als ich ihm vorgestellt wurde, schien er sich besonders zu freuen, seine Manieren und gelehrte Reden mit Anerkennung an den Mann bringen zu können, da er mich mitten aus dem blühendsten höheren Schulwesen herkommend vermutete. Er hatte auch alle Ursache, sich an mich zu halten; denn schon hatten meine Vettern sich aus dem Staube gemacht, noch ehe der Schulmeister einen Stoff ergriffen, und ich sah, wie sie draußen am Ufer alle drei ihre Köpfe tief in die Öffnung eines Fischkastens steckten, daß man nichts von ihnen sehen konnte als ihre sechs Beine. Sie untersuchten aufmerksam den Fischbestand ihres Oheims, indessen die Schwestern seinem Töchterchen und einer alten Magd in Küche, Keller und Garten gefolgt waren.
Der Schulmeister merkte bald, daß ich ein andächtiger und bescheidener Zuhörer und auf seine Fragen nicht ohne Geschick einzugehen imstande sei. Freilich nahm er das stille Dasitzen, welches nicht immer auf die summenden Worte achtet und sie, etwas heuchlerisch, als angenehmes Wiegenlied zu einem anderweitigen Träumen benutzt, für bare Münze, umso mehr, als ich in solcher Lage doch immer wach genug war, auf die Übergänge zu merken. Nachdem er mich über die neuen Schuleinrichtungen angelegentlich befragt, fuhr er fort: »Aber etwas bunt muß es doch noch zugehen! Da habe ich eben in der Zeitung gelesen, daß in einer Abteilung unserer Kantonsschule die bekannten Störungen endlich dadurch gehoben worden, daß man den unpraktischen Lehrer und den unnützesten Schüler, einen wahren kleinen Revolutionär, zugleich entfernt und dadurch die Ruhe gründlich hergestellt habe. Daß man nun den Lehrer entlassen hat, scheint mir ganz vernünftig, wenn man ihn nur anderweitig versorgt; hingegen mit dem Schüler will es mir nicht recht einleuchten, es will mich bedünken, als ob man demselben damit verdeutet habe: Du bist nun außer unsere Gemeinschaft gestellt und magst zusehen, was du aus dir machst! Dies ist nicht christlich gehandelt, und unser Herr und Meister würde das verirrte Schaf gewiß zunächst unter die Falten seines Mantels genommen haben. Kennt Ihr, liebes Vettermännchen, den verstoßenen Knaben?«
Der Mann weckte durch diese Frage die peinvollen Erinnerungen und durch ihre Fassung zugleich eine tiefe Wehmut in mir auf, und ich antwortete kleinlaut und eine Träne im Auge, ich wäre es selbst.
Ganz erstaunt trat er einen Schritt zurück und betrachtete mich mit großen Augen; er war verlegen, einen angehenden Teufel in so harmloser Gestalt vor sich zu sehen. Doch hatte ich ihn schon zu sehr für mich eingenommen, als daß diese Verlegenheit zu lange andauern konnte, und mein eigenes Benehmen mochte ihn belehren, daß er mit seiner vorher ausgesprochenen milden Ansicht nicht das Unrechte getroffen.
»Ich habe mir es doch gleich gedacht«, versetzte er, »daß die Sache ein Häklein habe; denn ich sehe und will es gern glauben, daß der Vettermann ein junger Mensch ist, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden läßt! Doch erzählt mir nun den Verlauf dieser schlimmen Geschichte recht getreulich, es nimmt mich sehr wunder, wie sich dann die Schuld und das Unrecht verteilen!«
Nachdem ich dem freundlichen Schulmeister den ganzen Hergang aufrichtig und weitläufig, zuletzt etwas leidenschaftlich berichtet, da ich zum ersten Mal seither mein Herz leeren konnte, besann er sich eine Weile, indem er verschiedene Hm! und So so! hervorstieß, und fuhr dann fort:
»Das ist ein ganz eigenes Geschick! Zuerst müsset Ihr nun Euch nicht überheben und etwa einen hochmütigen Groll auf das Erlittene begründen, welcher Euch für das ganze Leben schädlich sein könnte! Ihr müsset bedenken, daß Ihr doch das Unrecht und den Mutwillen der übrigen geteilt habt und Euch hiernach glücklich preisen, daß Ihr in so frühem Alter schon von Gott selbst eine ernste Strafe und Belehrung empfangen; denn das, was Euch widerfahren, ist nicht die Gerechtigkeit der Menschen, sondern ein unmittelbares Eingreifen des Herrn der Welt, womit er Euch frühzeitig gewürdigt und gezeigt hat, daß er mit Euch nicht zu spaßen gedenkt, sondern Euch seine eigenen strengen Wege führen will. Nachdem Ihr also dieses scheinbare Unglück dankbar und reuevoll angenommen und das vermeintliche Unrecht vergeben und vergessen, müßt Ihr allein darauf bedacht sein, dem Ernste dieses Erlebnisses entsprechend fortzuleben, und gewärtig, daß jede Abweichung von der Bahn des Rechten und Guten sich an Euch empfindlicher rächen werde als an anderen, auf daß Ihr dadurch in der Übung des Guten gerade fleißiger und stärker werdet als viele, denen nicht solches geschieht. Nur auf diese Weise vermag das Ereignis etwas Heilbringendes und der Trost über sich selbst zu sein, ohne dies aber würde es nur eine fatale und ärgerliche Geschichte bleiben, mit welcher ein so junges Leben zu beladen nicht die Absicht und das Vergnügen Gottes sein kann. Freilich ist nun die Wahl eines Berufes das Nächste und Wichtigste, und wer weiß, ob nicht Euere Bestimmung ist, gerade durch diese plötzliche Bedrängnis Euch früher zu entscheiden als sonst geschehen wäre! Gewiß habt Ihr schon die Lust zu irgend einem besonderen Berufe in Euch verspürt?«
Diese Reden gefielen mir ausnehmend wohl; obgleich ich den ernsten moralischen Sinn derselben nicht sonderlich faßte, so ergriff ich doch den Gedanken an eine höhere Bestimmung und Leitung Gottes höchst lebendig und dünkte mich glücklich, mich unter dem besonderen Schutze Gottes in meinen Neigungen zu wissen; es ging mir ein heller Stern auf und ich sagte unumwunden: »Ja, ich möchte ein Maler werden!«
Bei dieser Antwort stutzte mein neuer Freund fast noch mehr als bei dem früheren Geständnisse, weil er in seiner Abgeschiedenheit von allem Verkehre der Kultur am wenigsten an dies Wort gedacht hatte. Doch besann er sich ebenfalls schnell und sprach:
»Ein Maler? Ei sieh, das ist seltsam! Doch lasset sehen! Es hat allerdings eine Zeit gegeben, wo es Maler gegeben hat, welche von göttlichem Geiste erfüllt waren, welche den dürstenden Völkern einen Trunk himmlischen Lebens reichten in Ermangelung des lebendigen Wortes, das wir jetzt haben. Allein so wie schon dazumal diese Kunst nur zu bald ein eitler Flitterkram der hochmütigen Kirche geworden, so scheint sie mir heutzutage vollends ohne inneren Kern und ein bloßes Gebaren der menschlichen Eitelkeit und Fratzenhaftigkeit zu sein. Ich habe zwar durchaus keine Kenntnis von den Künsten, wie sie jetzo in der Welt hantiert werden, kann mir aber desto weniger vorstellen, wie sich ein ernsthaftiges und geistiges Leben dabei führen läßt! Habt Ihr denn so große Lust und Geschick, allerlei unnützes Bildwerk zu verfertigen oder wohl gar Menschengesichter für Bezahlung abzubilden?«
»Zuvörderst will ich ein Landschaftsmaler werden«, erwiderte ich, »und habe dazu allerdings große Lust und hoffe, der liebe Gott werde mir auch das Geschick geben!«
»Ein Landschaftsmaler? das heißt, merkwürdige Städte, Gebirge und Weltgegenden abbilden? Hm! Dieses scheint mir nicht so übel zu sein, da lernt man wenigstens die Welt kennen und kommt weit umher; Länder, Meere und allenfalls auch die Menschen dazu; aber dazu gehört besonderer Mut und eigenes Glück, wie mich dünkt, und vor allem soll, meines Erachtens, ein junger Mensch darauf denken, wie er im Lande bleiben und sich redlich nähren, auch seinen Mitbürgern sich nützlich und seinen Eltern dienstbar erweisen kann!«
»Die Landschaftsmalerei, die ich im Sinne habe, ist nicht sowohl, was Ihr hiermit darunter versteht, Herr Vetter! als etwas ganz anderes!«
»Nun, und das wäre?«
»Sie besteht nicht darin, daß man merkwürdige und berühmte Orte aufsucht und nachmacht, sondern darin, daß man die stille Herrlichkeit und Schönheit der Natur betrachtet und abzubilden sucht, manchmal eine ganze Aussicht, wie diesen See mit den Wäldern und Bergen, manchmal einen einzigen Baum, ja nur ein Stücklein Wasser und Himmel.«
Da der Vetter hierauf nichts entgegnete, sondern auf eine Fortsetzung zu warten schien, fuhr ich auch fort und geriet nun meinerseits in eine Begeisterung und Beredsamkeit, die ich früher nicht gekannt hatte. Der zwischen Sonnenglanz und Waldesschatten schwebende See ruhte majestätisch vor den klaren Fenstern, von fernem Bergrücken schienen einige schlanke Eichen, die in die himmelhohe Sonntagsluft stiegen, mir zuzuwinken, fern, leise, aber eindringlich; ich blickte unverwandt nach ihnen, wie auf eine höhere Erscheinung, indem ich sprach:
»Warum sollte dies nicht ein edler und schöner Beruf sein, immer und allein vor den Werken Gottes zu sitzen, die sich noch am heutigen Tag in ihrer Unschuld und ganzen Schönheit erhalten haben, sie zu erkennen und zu verehren und ihn dadurch anzubeten, daß man sie in ihrem Frieden wiederzugeben versucht? Wenn man nur ein einfältiges Sträuchlein abzeichnet, so empfindet man eine Ehrfurcht vor jedem Zweige, weil derselbe so gewachsen ist und nicht anders nach den Gesetzen des Schöpfers; wenn man aber erst fähig ist, einen ganzen Wald oder ein weites Feld mit seinem Himmel wahr und treu zu malen, und wenn man endlich dergleichen aus seinem Inneren selbst hervorbringen kann, ohne Vorbild, Wälder, Täler und Gebirgszüge, oder nur kleine Erdwinkel, frei und neu, und doch nicht anders als ob sie irgendwo gewachsen und sichtbar sein müßten, so dünkt mir diese Kunst eine Art wahren Nachgenusses der Schöpfung zu sein. Da lässet man die Bäume in den Himmel wachsen und darüber die schönsten Wolken ziehen und beides sich in klaren Gewässern spiegeln! Man spricht: es werde Licht! und streut den Sonnenschein beliebig über Kräuter und Steine und läßt ihn unter schattigen Bäumen erlöschen. Man reckt die Hand aus, und es steht ein Unwetter da, welches die braune Erde beängstigt, und läßt nachher die Sonne in Purpur untergehen! Und dies alles, ohne sich mit schlechten Menschen vertragen zu müssen; es ist kein Mißton im ganzen Tun!«
»Gibt es denn eine solche Art der Kunst und wird sie anerkannt?« fragte der gute Schulmeister ganz verblüfft.
»Ja wohl«, erwiderte ich, »in den Städten, in den Häusern der Vornehmen, da hängen schöne glänzende Gemälde, welche meistens stille grüne Wildnisse vorstellen, so reizend und trefflich gemalt, als sähe man in Gottes freie Natur, und die eingeschlossenen, gefangenen Menschen erfrischen ihre Augen an den unschuldigen Bildern und nähren diejenigen reichlich, welche sie zustande bringen!«
Der Schulmeister trat an das Fenster und schaute etwas überrascht hinaus.
»Also dieser kleine See zum Beispiel, diese meine holdselige Einsamkeit würde ein genugsamer Gegenstand sein für die Kunst, obgleich niemand den Namen kennte, bloß wegen der Milde und Macht Gottes, die sich auch hier offenbart?«
»Ja gewiß! ich hoffe noch, Euch diesen See mit seinem dunklen Ufer, mit dieser Abendsonne so zu malen, daß Ihr mit Vergnügen diesen Nachmittag darin erkennen sollt und selbst sagen müßt, es sei weiter hierzu nichts nötig, um bedeutend zu sein, das heißt, wenn ich ein Maler werden kann und etwas Rechtes lerne!« setzte ich hinzu.
»Jetzt habe ich alter Mensch wieder etwas Neues gelernt«, sagte mein Vetter gerührt, »es ist doch höchst merkwürdig, in wie vielen Weisen der menschliche Geist sich äußern kann. Mir scheint. Ihr seid auf einem guten und frommen Wege, und wenn Ihr ein solches Stück zustande bringen könnt, so möchte es leichtlich so verdienstvoll sein als ein gutes geistliches Frühlings- oder Erntelied. He, ihr Knaben!« rief er den jungen Fischkennern zu, welche immer noch an ihrem Geschäfte waren, »holt ein Gefäß und sucht ein tüchtiges Gericht Fische aus, Aale, Forellen oder Hechte, daß die Weiber sie backen können!«
Indessen waren die Mädchen wieder in die Stube gekommen und hatten teilweise unser Gespräch angehört, so daß der redselige Mann nicht verlegen war, auf einen neuen Stoff überzugehen und alle für denselben pflichtig zu machen. Ich selbst wurde wieder still und ziemlich befangen, da die zierliche Anna ungehört wieder da war und leise mit einer Base flüsterte. Der Alte sprach nun von der Ernte, von den Weinhoffnungen, von den Baumfrüchten mit den Mädchen, aber alles in einer feinen und salbungsvollen Weise, mir nebenbei manche Aufklärung gebend, wenn er meine Unbekanntschaft mit diesen Dingen voraussetzte. Ich aber sagte fürder nichts, sondern befand mich glücklich und wohlgemut in der Nähe des lieblichen Mädchens, ohne sie jedoch anzusehen, und nur angenehm berührt, wenn sie einmal ihr Stimmchen erhob.
Ein mächtiger Küchenduft verbreitete sich durch das Haus, zog die Knaben herbei und veranlaßte den Schulmeister, auf ein Zeichen der alten Köchin, zum Aufbruch in das obere Stockwerk aufzufordern. Dort war ein kleiner, heller und kühler Saal, welcher zwischen seinen ganz geweißten Wänden nichts enthielt als einen länglichen Tisch, Stühle und eine alte Hausorgel. Der Tisch war gedeckt, wir setzten uns zu einem fröhlichen Abendessen, welches aus den Fischen bestand, so die Vettern mit wenig Bescheidenheit ausgewählt hatten. Ländliches Backwerk und Früchte und ein milder unschuldiger Wein, an der Höhe hinter dem Hause gewachsen, schmückten das einfache und in seiner Art doch gewählte und anständige Mahl, der Alte würzte es mit sinnigen Reden, die Jungen scherzten und gaben sich naive Rätsel und Wortspiele auf, und dies alles übergoldete ein gehobener sonntäglicher Ton, anders als ob man zu Hause, und anders als ob man in einer gewöhnlichen Bauernfamilie wäre. Als wir uns genugsam erfrischt, schritt der Schulmeister zu der Orgel hin und öffnete dieselbe, daß die glänzende Pfeifenreihe zutage trat und das Innere der beiden Flügeltürchen das gemalte Paradies zeigte mit Adam und Eva, Blumen und Tieren. Er setzte sich davor, wir mußten uns in einen Kreis um ihn herumstellen, Anna teilte einige alte Musikbücher aus, und nachdem ihr Vater gar anmutig präludiert, sangen wir zu seinem Spiele und Vorsang einige schöne kirchliche Sommerlieder und hernach einen künstlichen Kanon. Wir sangen in heiterer Freude und aus voller Brust und doch mit Maß und Haltung, die Dankbarkeit gegen den Augenblick brachte bessere Musik hervor als die strengste Schulprobe, und ich selbst ließ mein inneres Glück unbefangen und frei in den Gesang strömen; denn dieser Tag war für mich wieder neuer und schöner als alle früheren. Wenn wir einen Vers geendigt hatten, erklang über den See her, von einer Wand im Walde, ein harmonisch verhallendes Echo, die Orgeltöne und Menschenstimmen verschmelzend zu einem neuen wunderbaren Tone, und zitterte eben aus, indem wir selbst den Gesang wieder anhoben. An verschiedenen Stellen, in der Höhe und Tiefe, wurden freudige Menschenstimmen wach, welche ihre Lust in die still webenden Lüfte sangen und jauchzten, so daß unser Kanon, mit welchem wir schlossen, sozusagen sich über das ganze Tal verbreitete.
Doch nun mußten wir aufbrechen, da die Sonne sich schon den Bergen näherte; der Schulmeister entließ uns mit Zufriedenheit und verabschiedete mich mit entschiedenen Zeichen seines Wohlwollens. Ich mußte ihm versprechen, auf meinen Streifzügen so oft als möglich in sein Tal zu kommen und in seinem Hause meinen Sitz aufzuschlagen, als ob er ebenfalls mein Oheim wäre. Anna wollte uns noch bis auf die Berghöhe begleiten, und so machten wir uns viel aufgeregter und lauter auf den Weg als wir gekommen waren. Die Mädchen, so schon durch ein Nichts, durch die bloße freie Gelegenheit, in die höchste Stimmung reiner mutwilliger Lust versetzt, sangen fort und fort mit glänzenden Augen und verlockten uns mitzusingen, indem sie Welt- und Vaterlandslieder anstimmten. Dazwischen machte sich eine gegenseitige Neckerei mit Herzensangelegenheiten unter den Geschwistern geltend, das ganze süße Geplauder jenes hoffnungsreichen Alters befreite sich aus den offenen Gemütern und umspann alle mit gern gehörten Anspielungen, verstelltem Widerstande und schelmischer Rückantwort. Nur Anna schien vor den Angriffen sicher zu sein, während sie hie und da einen schüchternen Scherz hinwarf, und ich sagte gar nichts dazu, weil mein Herz voll war von den Begebnissen des Tages. Wir standen nun auf der Höhe, welche von der Glut der untergehenden Sonne übergossen war, vor mir schwebte die federleichte, verklärte Gestalt des jungen Mädchens, und neben ihr glaubte ich den lieben Gott lächeln zu sehen, den Freund und Schutzpatron der Landschaftsmaler, als welchen ich ihn heute in dem Gespräche mit dem Schulmeister entdeckt hatte; das scheidende Mädchen errötete noch stärker in die Abendröte hinein, als sie zuletzt auch mir die Hand bot. Wir berührten uns kaum mit den Fingerspitzen und nannten uns höflich Sie; aber die Vettern lachten uns aus und die Basen verlangten ernsthaft, daß wir uns mit Du anreden sollten, da hier zu Lande nichts anderes geduldet würde unter jungen Leuten.
So wechselten wir unsere Taufnamen, verzagt und spröde; aber der meinige schlüpfte wie ein Flötenton in mein Ohr, und als Anna schnell und ängstlich im Schatten ihrer Bergseite verschwand und wir auf der unserigen niederstiegen, hatte ich zwei Dinge erworben: einen großen und mächtigen Kunstgönner, der unsichtbar über die dämmernde Welt hinschritt, und ein allerliebstes Schätzchen von meinem Alter im Herzen.
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