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Fünftes Kapitel

Er verschwieg dies sorgsam vor seiner Mutter, schrieb ihr aber auch nicht, daß er etwas erwerbe, da es ihm nicht einfiel, sie anzulügen, und da es ihm in der Tat bei seiner Sorglosigkeit und seinem sicheren Gefühl, daß er schon etwas werden müsse und würde, ganz gut erging, so berichtete er der Mutter in jedem Briefe, es ginge ihm gut, und erzählte ihr weitläufig allerlei lustige Dinge, die ihm begegneten oder welche er in dem fremden Lande beobachtete. Die Mutter hingegen glaubte echt frauenhaft, wenn man von einem Übel nicht spreche, so bleibe es ungeschehen, und hütete sich, ihn nach etwaigen Schulden zu befragen, in der Meinung, daß wenn solche noch nicht vorhanden wären, so würden sie durch diese Erkundigung hervorgerufen werden; auch hatte sie keine Ahnung davon, daß ihr Söhnchen, welches sie so knapp gehalten hatte, in seiner Freiheit etwa so lange Kredit finden würde. Sie hielt ihre Ersparnisse fortwährend bereit, um sie auf die erste Klage teilweise oder ganz abzusenden, während Heinrich seine Lage verschwieg und sich an das Schuldenwesen so gewöhnte, und es war rührend komisch, wie beide Teile über diesen Punkt ein feierliches Schweigen beobachteten und sich stellten, als ob man von der Luft leben könnte; der eine Teil aus Selbstvertrauen, der andere aus weiblicher Klugheit.

Gerade mit einem Jahreslaufe ging aber Heinrichs Kredit zu Ende oder vielmehr bedurften die Leute ihr Geld, und in dem Maße, als sie ihn zu drängen anfingen und er höchst verlegen und kleinlaut war, wurden auch seine Briefe seltener und einsilbiger, so daß die Mutter Angst bekam, die Ursache erriet und ihn endlich zur Rede stellte und ihm ihre Hilfe anbot. Diese ergriff er nun ohne besondere dankbare Redensarten, die Mutter sandte sogleich ihren Schatz ab, froh, zur rechten Zeit dafür gesorgt zu haben, und zweifelte nicht, daß damit nun etwas Gründliches und Rechtes getan sei. Der Sohn aber hatte nun Gelegenheit, die andere Seite des Schuldenmachens kennen zu lernen, welche ist die nachträgliche Bezahlung eines schon genossenen und vergangenen Stück Lebens, eine unerbittliche und kühle Ausgleichung, gleichviel ob die gelebten Tage, deren Morgen- und Abendbrot angeschrieben steht, etwas getaugt haben oder nicht. Ehe zwei Stunden verflossen, hatte Heinrich in einem Gange die zweijährige Ersparnis der Mutter nach allen Winden hin ausgetragen und behielt gerade so viel übrig als zu dem Mitmachen jenes Künstlerfestes erforderlich war.

Ein recht vorsichtiger und gewissenhafter Mensch würde nun ohne Zweifel in Rücksicht auf diese Umstände und auf die Herkunft des kostbaren Geldes sich vom Feste zurückgezogen und doppelt sparsam gelebt haben; aber derselbe hätte sich auch recht bescheiden und ärmlich angestellt, die Größe der erhaltenen mütterlichen Gelder verschwiegen und seine Gläubiger demütig und vorsichtig hingehalten, alles aus der gleichen Rücksicht, und hätte seine Vorsicht mit dem lebendigen Gefühl der Kindespflicht gerechtfertigt. Heinrich aber, da er dies nicht tat, befand sich nach dem Feste wieder wie vorher, und wenn er sich darüber nicht verwunderte oder grämte, so geschah dies nur, weil seine Gedanken und Sorgen durch jene anderweitigen Folgen der übel abgelaufenen Lustbarkeit abgelenkt wurden.

Er lebte also von neuem auf Borg, und da er diese Lebensart nun schon eingeübt hatte, auch dieselbe nach der stattgehabten Abrechnung trefflich vonstatten ging, Heinrich zugleich aber nicht mehr an der zusammenhaltenden Handarbeit saß und auch nicht mehr mit solchen Freunden umging, die den Tag über an zurückgezogener werktätiger Arbeit saßen, sondern mit allerlei studierendem, oft halbmüßigem Volke, so gewann dies neue Schuldenwesen wieder einen anderen Anstrich als das frühere; je weniger er bei seinem neuen Treiben ein nahes Ziel und eine Auskunft vor sich sah, desto mehr verlor und vergaß er sein armes Muttergut und den Mutterwitz der ökonomischen Bescheidenheit und Sparsamkeit, die Kunst, sich nach der Decke zu strecken, und den Maßstab des Möglichen auch mitten in der Verwirrung. Er verlor dies Muttergut zwar nicht von Grund aus und für immer wie einen Anker, den ein Verzweifelter sinken läßt, sondern wie ein Gerät, welches für einen gewagten Auszug nicht recht paßt und welches man unwillkürlich liegen läßt, um es bei der Rückkehr wieder aufzunehmen, wie eine feine kostbare Uhr, welche man vor einer zu erwartenden Balgerei von sich legt, oder wie das ehrbare Bürgerkleid, welches man in den Schrank hängt beim Einbruch der Elemente, der Regenflut und des Schmutzwetters.

Die vermehrten Vorstellungen und Kenntnisse, das täglich neu genährte Denkvermögen, welches so lange geschlummert, erweckten von selbst eine rührige Bewegung, so daß Heinrich sich vielfach umtrieb und mit einer Menge von Leuten umging, welche den verschiedensten Studien, Richtungen und Stimmungen angehörten. Es wiederholte sich jener Vorgang aus seiner Kinderzeit, als er, indem er seine Sparbüchse verschwendete, plötzlich ein lauter und beredter Tonangeber geworden war. Auch jetzt entwickelte er unversehens eine große Beredsamkeit, ward, was er sich früher auch einmal sehnlich gewünscht hatte, ein meisterlicher Zecher, welcher die deutsche Zechweise mit so viel Phantasie und Geschicklichkeit betrieb, daß die so verbrachten Stunden und Nächte eher ein lehrreicher Gewinn, eine Art peripatetischer Weisheit schienen als ein Verlust. Das, was man lernte und sich mitteilend kehrte und wendete, geriet durch das aufgeregte Blut erst recht in Bewegung und durch die gesellschaftlichen Gegensätze, durch die hundert bald komischen, bald ernsten Konflikte in lebendigen Fluß, und das scheinbar rein Wissenschaftliche und Farblose bekam durch das gesellschaftliche und moralische Verhalten der Leute bestimmte Färbung und Anwendung oder diente diesem zu sofortiger Erklärung. Erst war die gewohnte Art herrschend gewesen, bei hervortretendem Widerspruche sich unwiderruflich auf seiner Seite zu halten, die Ehre in der Hartnäckigkeit zu suchen, mit welcher man um jeden Preis eine Meinung behaupten zu müssen glaubt, und im allgemeinen bei allen Andersdenkenden einen bösen Willen oder Unfähigkeit und Unwissenheit vorauszusetzen. Heinrich aber, welchen nun die Dinge von Grund aus zu berühren anfingen und welcher sich mit warmer Liebe um das Geheimnis ehrlicher Weltwahrheit bekümmerte, wie sie im Menschen sich birgt, ihn bewegt oder verläßt, brachte mit unbefangener und durchdringender Kraft zur anfänglichen Verwunderung der anderen die Lebensart auf, Recht- oder Unrechthaben als ganz gleichgültige Dinge zu betrachten und erst ihre Quellen als einen beachtenswerten Gegenstand aufzunehmen, in der höflichen und artigen Voraussetzung, daß es alle gut meinen und alle fähig wären, das Gute einzusehen. Dabei war er, wenn er sich ins Unrechthaben hineingeredet hatte, selbst der erste, welcher darüber nachdachte und bei kühlerem Blute sich selbst preisgab, die Sache wieder aufnahm und seinen Irrtum auch nach den eifrigsten und härtesten Äußerungen eingestand und von neuem untersuchen half, jene falsche Höflichkeit verdrängend, welche mit dem kalten Aufsichberuhenlassen einer Sache einen umso größeren heimlichen Hochmut und einen Dorn im Bewußtsein aller davonträgt. Diese Weise machte sich umso leichter geltend, als es sich bald bemerklich machte, daß nur diejenigen, welche einen wirklich bösen Willen oder eine gewisse Unfähigkeit besitzen mochten, mit jenem kalthöflichen Abbrechen sich zurückzuziehen beliebten und jeder also auch den Schein hiervon vermeiden wollte. In solchen Fällen stellte es sich dann auf das liebenswürdigste heraus, daß durch diesen bloßen Schein die innerlich Widerstrebenden und Murrenden doch eine goldene Brücke fanden und unvermerkt auf die bessere Seite gezogen wurden und so einen Gewinn davontrugen, den sie früher nie gekannt in ihrem verstockten Wesen. Zugleich kam die löbliche Manier auf, alles im gleichen Flusse und mit gleicher Schwere oder Leichtigkeit zu behandeln und die anmaßliche Art zu unterdrücken, einzelne vorübergehende Entdeckungen, Einfälle und Bemerkungen feierlich zu betonen und steifschreierisch vorzutragen, als ob jeden Augenblick eine Perle gefunden wäre zu ungeheuerster Erbauung, welche Art derjenigen schlechter Skribenten gleicht, die alle Augenblicke ein Wort unterstreichen, einen neuen Absatz machen und ihre magere Schrift mit allen aufgehäuften interpunktorischen Mitteln überstreuen. Denn die gute schriftliche Rede soll so beschaffen sein, daß, wenn sie durch Zeit und Schicksale aller äußeren Unterscheidungszeichen beraubt und nur eine zusammengelaufene Schriftmasse bilden würde, sie dennoch nicht ein Jota an ihrem Inhalt und an ihrer Klarheit verlöre.

Alle diese Lebensart gewann nun einen gewissermaßen veredelnden und rechtfertigenden Anstrich dadurch, daß von dem Verkehr mit Weibern keine Rede war, sondern zufällig eine Schar junger Leute zusammentraf, welche sich darin gefiel, in diesen Dingen unberührt zu heißen oder höchstens einer Neigung sich bewußt zu sein, welche heilig gehalten und unbesprochen sein wollte. Heinrich war sogleich seiner äußeren leiblichen Unschuld froh und vergaß gänzlich, daß er jemals nach schönen Gesichtern gesehen hatte und daß es solche überhaupt in der Welt gab, die Fähigkeit des Menschen erfahrend, zu jeder Zeit neu werden zu können, wenn er die letzten zarten Schranken der Dinge nirgends überwältigt und durchbrochen hat. Er fühlte diese ganze Seite des Lebens wohltuend in sich ruhen und schlummern, und je früher und stärker seine Phantasie und seine Neigungen sonst wach gewesen waren, umso kühler und unbekümmerter lebte er jetzt und glich einen langen Zeitraum hindurch an wirklicher Reinheit der Gedanken dem jüngsten und sprödesten der Gesellen. Höchstens spielten die Frauen als Gegenstand der Betrachtung und Untersuchung in den Gesprächen eine zierliche Rolle, wobei sie denn freilich, da die Erfahrung der rüstigen Meinungskraft nicht gleichkam, meistens nicht zu gerecht beurteilt wurden. So war denn auch sogar dieser Umstand schon in jener Knabenzeit vorgezeichnet, wo die jungen Zecher und Prahler zugleich die Mädchenfeinde spielten.

Sollte sich nun vollends jener Abschluß der Knabenzeit, die Ausstoßung aus der Schule, als eine solche Vorzeichnung erweisen und Heinrich in der Schule des Lebens unhaltbar werden, so waren seine Aussichten nicht die rosenfarbensten, und ein Gefühl dieser Art, abgesehen von dem neulich Erlebten, gab seinem Treiben eine dunkle Grundlage. Indessen war es ihm unmöglich, aus sich herauszugehen, und da er sich unterrichtete und zugleich deutsche Luft atmete, so war es erklärlich, daß er in seiner rhetorischen Welt ein Weiser und Gerechter, ein geachteter Tonangeber war, äußerst Weises und Gerechtes dachte und sprach, ohne im mindesten etwas Gerechtes wirklich zu tun, d. h. für Gegenwart und Zukunft tätlich einzustehen.

Das Ende davon war, daß er sich nach Verlauf einer guten Zeit mit noch weit bedeutenderen Schulden überhäuft sah als das erste Mal, und diesmal war er es, welcher zuerst das Schweigen brach und, da er sich durchaus zu leben und etwas zu werden getraute, seiner Mutter in einem überzeugenden und hoffnungsvollen Briefe die Notwendigkeit dartat, noch einmal eine gründliche und umfangreichere Aushilfe zu veranstalten. Es war dies weniger eine unedle und selbstsüchtige Zumutung als das ehrliche Bestreben, ehe man die fremden Menschen beeinträchtige, mit allem, was einem angehört und also auch mit dem Gute seiner Angehörigen einzustehen und von diesen zuerst zu verlangen, volles Vertrauen in das Dasein der Ihrigen zu setzen und mit denselben zu stehen oder zu fallen.

Die Mutter erschrak heftig über seinen Brief; statt desselben hatte sie den Sohn selber bald erwartet, und jetzt schien alles wieder in Frage gestellt. Jedoch da er ja mehrere Jahre älter war, in der Fremde lebte unter so viel gescheiten Leuten, und besonders da sie erfuhr, daß er manches lerne und studiere und so doch noch von der wenig empfohlenen Künstlerei abzukommen schien, hauptsächlich aber weil in ihm der gleiche Trieb, etwas zu werden, wie im verstorbenen Vater zu leben schien und sie selbst ja sich nur als eine Vermittlung zwischen diesen beiden Gliedern betrachtete, zuletzt aber auch einzig und allein, weil das Kind dessen bedürftig war und es forderte, so traf sie unverweilt Anstalten, dem Verlangen zu genügen. Die Ersparnisse wollten aber diesmal nicht viel sagen, und sie mußte, um die angegebenen Mittel aufzubringen, eine Summe auf ihr Haus aufnehmen und eintragen lassen. Dies war nun seit langen Jahren das erste Mal, daß an ihrem kleinen Besitztum eine eingreifende Veränderung vorgenommen wurde, und zwar nicht zu dessen Vermehrung; zudem herrschte gerade eine Geldklemme, so daß die gute Frau viele Mühe und viele saure Gänge bei Geschäftsleuten und Unterhändlern aller Art zu bestehen hatte, bis endlich das Geld in ihrem Schreibtische lag und sie dazu noch die Darleiher, welche für ihren Nutzen hinlänglich gesorgt hatten, als große Wohltäter betrachten mußte. Nur war sie aber auch so müde und eingeschüchtert, daß sie nicht vermochte, sich etwa nach einem bequemen Wechselbrief umzusehen, sondern sie wickelte das Geld in vieles starkes Papier ein, umwand es mit vielen dicken Schnüren und wandte es seufzend und unter Tränen um und um, überall das heiße Siegelwachs aufträufelnd und höchst ungeschickt siegelnd und petschierend. Dann legte sie das schwere unbeholfene Paket in ihren Strickbeutel, nahm diesen auf den Arm und schlich damit auf Seitenwegen zur Post; denn sie wünschte um alles in der Welt nicht, daß jemand sie sähe, und zwar aus dem Grunde, weil sie, befragt, wo sie mit dem Gelde hinwolle, durchaus um eine Antwort verlegen gewesen wäre. Sie reichte, den seidenen Ridikül verschämt und zitternd abstreifend, den Pack durch das Schiebfensterchen, der Postbeamte besah die Adresse und dann die Frau, gab ihr den Empfangschein, und sie machte sich davon, als ob sie so viel Geld jemandem genommen anstatt gegeben hätte. Der linke Arm, auf welchem sie das Geld getragen, war ganz steif und ermüdet, und so kehrte sie auch körperlich angegriffen in ihre Behausung zurück und war froh, als sie dort war. Nichtsdestominder fühlte sie einen gewissen mütterlichen Stolz, als sie durch so viele selbstzufriedene und prahlende Männer und Weiber hindurchging, welche unfehlbar ihren Gang scharf getadelt hätten und selbst eher dafür, daß sie den Knieriemen tüchtig handhabten, sich am liebsten von ihren Kindern gleich einen Erziehergehalt ausbezahlen ließen, anstatt irgend etwas Ungewöhnliches für sie zu opfern oder zu wagen.

Mit Heinrich, als er das Geld empfing, begab sich jetzt etwas sehr Natürliches und doch wieder sehr Sonderbares. Er hatte seiner Mutter gerade um so viel Geld geschrieben als seine Schulden betrugen, aus Gewissenhaftigkeit und Bescheidenheit mitten im Leichtsinn, und erst als die Summe unterwegs war, fiel ihm ein, daß er ja, wenn die Schulden bezahlt seien, abermals auf dem gleichen Punkte stehe wie vorher. Er nahm sich also vor, diesmal weltklug zu sein und, wie er es schon öfter bei anderen ganz ehrbaren Leuten gesehen, seinen Gläubigern einstweilen die Hälfte ihrer Forderungen zu tilgen, mit der anderen Hälfte aber dann gut Haus zu halten und ganz gewiß mit festem Willen den Anfang zu einem selbständigen Leben zu machen. Die Gläubiger waren alles solche, welche den entschieden und verständig angebrachten Antrag gern angenommen hätten, und auch der zweite Vorsatz war bei dem erweiterten Gesichtskreis und guten Willen keine Unmöglichkeit; vielmehr kam es nur auf frische Lust, gute Laune und einiges Glück an, das jeder Tag bringt, wenn der Mensch nur bereit ist, es zu haschen. Als aber die Gläubiger, die diesmal sich nicht aufsuchen ließen, erschienen und sich freuten, sich auch hier nicht getäuscht zu haben in der Ehrlichkeit der Jugend, da brachte es Heinrich nicht über sich, auch nur bei einem einzigen mit seinem Vorschlag herauszurücken; er befriedigte vielmehr einen jeden bei Heller und Pfennig, ohne zu zögern und zu seufzen, und dem letzten, welcher weniger eilig war und sich nicht sehen ließ, brachte er sein Guthaben ängstlich ins Haus beim ärgsten Regenwetter. Jetzt hatte er noch einige Taler in der Hand, welche er, ohne einen Groschen weniger auszugeben, aufbrauchte und zu Ende gehen sah. Dies geschah auch in kurzer Zeit, und eines Morgens, als er aufstand, erinnerte er sich, daß er nicht einen Pfennig mehr im Vermögen hatte. Obgleich er dies vorausgewußt, so war er doch ganz verblüfft darüber und noch mehr, als er nun klar fühlte, daß er unmöglich jetzt von neuem borgen könne; denn teils wußte er nun bestimmt, daß er neue Schulden nicht mehr bezahlen könne, teils widerstrebte es ihm, nach Verlauf einiger Tage abermals bei denen anzuklopfen, die er soeben befriedigt hatte, kurz auf einmal verließ ihn alle die Herrlichkeit, Weisheit und Gewandtheit, der Schleier fiel von der dürren Lage der Dinge, und er ergab sich ganz demütig und geduldig dem Gefühle der nackten Armut. Als der Mittag kam, ging er aus in alter Gewohnheit, verbarg sich aber vor allen Bekannten; er kehrte wieder in seine Wohnung, und als der Abend kam, war er doch höchlich verwundert, nichts gegessen zu haben an diesem Tage. Als aber der nächste Tag ebenso verlief und es ihn anfing tüchtig zu hungern, erinnerte er sich plötzlich der weisen Tischreden seiner Mutter, wenn er als kleiner Junge das Essen getadelt hatte und sie ihm dann vorhielt, wie er einst vielleicht froh sein würde, nur solches Essen zu haben. Das erste Gefühl, was er hierbei empfand, war ein Gefühl der Achtung vor der ordentlichen Regelmäßigkeit und Folgerichtigkeit der Dinge, wie alles so schön eintreffe; und in der Tat ist nichts so geeignet, den notwendigen und gründlichen Weltlauf recht einzuprägen, als wenn der Mensch hungert, weil er nichts gegessen hat, und nichts zu essen hat, weil er nichts besitzt, nichts besitzt, weil er sich nichts erworben hat. An diesen einfachen und unscheinbaren Gedankengang reihen sich dann von selbst alle weiteren Folgerungen und Untersuchungen, und Heinrich, indem er nun in seiner Einsamkeit vollständige Muße hatte und von keiner irdischen Nahrung beschwert war, überdachte sein Leben und seine Sünden, welche jedoch, da der Hunger ihn unmittelbar zum Mitleid mit sich selbst stimmte, mehr als die Sättigung, welche manche übermütige und geistreiche Aszese hervorbringt, noch ziemlich glimpflich ausfielen. Im ganzen befand er sich nicht sehr trübselig; die Einsamkeit tat ihm eher wohl und das Hungern verwunderte ihn immer aufs neue, während er in des Königs Gärten auf abgelegenen sonnigen Pfaden spazierte oder durch die belebte Stadt nach Hause ging; auch wunderte es ihn, daß ihm das niemand ansah und ihn niemand befragte, ob er gegessen habe? worauf er sich sogleich antwortete, daß dies sehr gesetzmäßig der Fall sei, da es niemanden was anginge und er sich auch nichts ansehen lasse, woran sich denn wieder weitere Gedanken knüpften. Am dritten Tage, als er begann sich wirklich schwächer zu fühlen und eine bedenkliche Mattigkeit in den Füßen sich kundgab, kam ihm dies erst lächerlich vor; dann aber begann er ängstlich zu werden, und als er sich zum dritten Mal ungegessen ins Bett legen mußte, ward es ihm höchst weinerlich und ärgerlich zu Mute und er gedachte, durch den in seiner Schwäche rumorenden Leib gemahnt, sehnlich und bitterlich seiner Mutter, nicht besser als ein sechsjähriges Mädchen, das sich verlaufen hat. Wie er aber an die Geberin seines Lebens dachte, fiel ihm auch der höchste Schutzpatron und Oberviktualienmeister seiner Mutter, der liebe Gott, ein, und da Not beten lehrt, so betete er ohne weiteres Zögern, und zwar zum ersten Mal sozusagen in seinem Leben um das tägliche Brot. Denn bisher hatte er nur um Aushilfe in moralischen Dingen oder um Gerechtigkeit und gute Weltordnung gebeten in allerhand Angelegenheiten für andere Leute; in den letzten Jahren zum Beispiel, daß der liebe Gott den Polen helfen und den Kaiser von Rußland unschädlich machen möge oder daß er den Amerikanern über die Kalamität der Sklavenfrage auf eine gute Weise hinweghelfen möchte, damit die Republik und Hoffnung der Welt nicht in Gefahr käme, und dergleichen Dinge mehr. Jetzt aber widersetzte er sich nicht mehr, um seine Lebensnahrung zu beten; doch benahm er sich noch höchst manierlich und anständig dabei, indem er trotz seines bedenklichen Zustandes erst bei der Bitte für die Mutter anfing, dann einige andere edlere Punkte vorbrachte und dann erst mit der Eßfrage hervorrückte; jedoch nicht sowohl, um den lieben Gott hinter das Licht zu führen, als um zwangsweise den allgemeinen Anstand zu wahren, auch vor sich selbst.

Jedoch betete er nicht etwa laut, sondern es war mehr ein stilles Zusammenfassen seiner Gedanken und er dachte das Gebet nur, und trotzdem war es ihm ganz seltsam zu Mute, sich wieder einmal persönlich an Gott zu wenden, welchen er zwar nicht vergessen oder aufgegeben, aber etwas auf sich beruhen gelassen und unter ihm einstweilen alle ewige Weltordnung und Vorsehung gedacht hatte.

Am Morgen stand er in aller Frühe auf und pfiff, so gut es mit seiner immer ängstlicher schnappenden Lunge gehen mochte, munter ein Liedchen; es war ihm, als ob jetzt eine gute Mahlzeit alsogleich vor der Tür sein müsse, denn weiter als an eine solche dachte er nicht mehr. Zugleich ergriff er unwillkürlich ein stattliches und höchst inhaltreiches Buch, das da zunächst bestaubt auf einer Tischecke lag, ging damit zu einem Büchertrödler, dem er schon manches Buch abgekauft hatte, und trug einige Augenblicke darauf mehrere nagelneue blanke Guldenstücke davon, welche der gute Jude freundlich aus seinem ledernen Beutelchen geklaubt. Heinrich hatte die lieblichen Münzen nur beim Übergang aus des Juden Tasche in die seinige flüchtig blinken gesehen; aber dies Blinken machte auf ihn in seiner Leibesschwäche vollkommen den Eindruck wie der Sonnenaufblitz eines unmittelbaren allernächsten Wunders. Er gewann auch unmittelbar durch diesen bloßen Eindruck einige Lebensgeister, so daß er, obgleich es nun schon der vierte Fasttag war, sich vornahm, doch nicht vor Mittag zu Tische zu gehen, sondern seinen wunderlichen Zustand noch recht erbaulich auszugenießen. Er begab sich also wieder in den Schatten eines lieblichen Wäldchens, setzte sich auf eine Bank und zog unverweilt die schönen Gulden hervor, sie nunmehr in aller Behaglichkeit betrachtend. Es war ihm, als ob er niemals Geld besessen hätte, als ob es eine Ewigkeit her wäre, seit er in der Gesellschaft von Menschen gewesen und sich gleich ihnen genährt, und so ein hinfälliges Ding ist der Mensch, daß Heinrich eine kindliche Freude über den Besitz dieser paar elenden Münzen empfand und sie mit gierigen Blicken verschlang. Es schien ihm das reinste und höchste Glück zu sein, was er da in der Hand hielt; denn es war die unzweifelhafteste Lebensfristung, Rettung und Erquickung, und darüber hinaus dachte der Frohe gar nicht. Er dankte dem lieben Gott sehr zufrieden für die Erhörung seines Gebetes, wie in den Tagen seiner Kindheit; sonst dachte er nicht viel, denn die Gedanken waren allbereits sehr kurz und dünn gesäet; er genoß nur mit stillem Wohlgefühl den durch das Grün flimmernden Sonnenschein und den Glanz der klingenden Silberstücke.

Hier wird sich nun der dogmatische Leser in zwei Heersäulen spalten: die eine wird behaupten, daß es allerdings die Kraft des Gebetes und die Hilfe der Vorsehung gewesen sei, welche die magischen Guldenstücke auf Heinrichs Hand legten, und sie wird diesen Moment, da wir bereits mitten im letzten Bande stehen, als den Wendepunkt betrachten und sich eines erbaulichen Endes versehen; die andere Partei wird sprechen: »Unsinn! Heinrich würde sich so wie so endlich dadurch haben helfen müssen, daß er das Buch oder irgend einen anderen Gegenstand verkaufte, und das Wunderbare an diesem Helden ist nur, daß er dies nicht schon am ersten Tage tat! Es sollte uns übrigens nicht wundern, wenn der dünne Feldweg dieser Geschichte doch noch in eine frömmliche Kapelle hineinführt!« Wir aber als die verfassenden Geister dieses Buches können hier nichts tun als das Geschehene berichten und enthalten uns diesmal aller Reflexion mit Ausnahme des Zurufes: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« Selbst wenn wir nun gleich erzählen, welches Verhalten Heinrich annahm, nachdem er sich durch einige gute Nahrung gestärkt, so werden wir durchaus nicht unsere Meinung hinzufügen, ob der nüchterne oder der gesättigte grüne Heinrich Recht habe.

Er begab sich also nun mit kurzen Schritten nach dem gewohnten Speisehaus, welches ihm als der allerseligste Aufenthalt vorkam, und der Geruch der Speisen dünkte ihn köstlicher denn der Duft von tausend Rosengärten. Die aufwartenden Mädchen, welche sonst schon hübsch und munter waren, erschienen ihm wie huldreiche Engel, in deren Obhut es gut wohnen sei, und gerührt darüber, daß es in der Welt doch so wohlmeinend zugehe, setzte sich der gänzlich Ausgehungerte und mürbe Gewordene zu Tisch, in der festen Absicht, sich für das Fasten gründlich zu entschädigen.

Hatte aber der bloße Anblick des vielvermögenden Geldes ihn aufgemuntert, so stärkte ihn jetzt das Essen zusehends, daß er ordentlich zu Gedanken kam, und schon während er die kräftige Fleischbrühe einschlürfte, besann er sich und nahm sich vor, nicht mehr zu essen als gewöhnlich und sich überhaupt anständig zu verhalten. Als er jedoch ein saftiges Stück Ochsenfleisch und einen guten Teller Blumenkohl verzehrt, dazu einen Krug schäumenden Bieres vor sich stehen hatte, strich und kräuselte er sich wieder ganz selbstbewußt den jungen Bart, und indem er das ganze Abenteuer gemächlich überdachte, schämte er sich jetzt plötzlich seines Wunderglaubens und daß er so ganz haltlos in die Falle gegangen, in seiner Schwäche den trivialsten Vorgang von der Welt als eine unmittelbare Einwirkung einer höheren Vorsehung zu nehmen. Er bat den lieben Gott sogar um Verzeihung für die Zumutung, sich mit seiner Ernährung unmittelbar zu behelligen, den natürlichen Lauf der Dinge unterbrechend, während er selbst die Hände in den Schoß gelegt.

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