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Vierter Band

Erstes Kapitel

Da der wunderliche Zweikampf in Ferdinands Wohnung vorgefallen war und der schwer Verwundete ohne Aufsehen daselbst gepflegt wurde, so konnte der unglückliche Vorfall ohne Mühe gänzlich geheim gehalten werden. Es wurde ausgesagt, Lys habe eine Reise angetreten, und Heinrich hielt sich ebenfalls in seiner Werkstatt verschlossen, ohne sich sehen zu lassen.

Agnes saß in trostloser Traurigkeit in ihrem Häuschen; sie hatte die vorgebliche Abreise Ferdinands vernommen, daß er weit, weit fortgegangen sei, und wähnte der alleinige Grund dieser plötzlichen Entfernung zu sein. In der Stadt hatte sich das Gerücht gebildet, daß das seltsame Mädchen sich an dem Feste höchst leidenschaftlich und ungebärdig übernommen, sich berauscht und so den reichen Holländer, dessen Hand ihr schon sicher gewesen sei, von sich abgeschreckt und zu eiliger Flucht bewogen hätte. Diese Sage drang auch in ihr Haus, die zornige Mutter, welche eine geborgene glanzvolle Zukunft sich entschwinden sah, überhäufte die Arme mit ihren singenden monotonen Vorwürfen, und so saß Agnes, welche selbst einen Teil dieses Geredes für wahr hielt und sich schuldig glaubte, voll Scham und Furcht und in verlorener Sehnsucht da.

Da Heinrich in jener Nacht über dem Streite mit Ferdinand ganz seine Absicht vergessen hatte, Agnesens Mutter von dem Unfalle zu benachrichtigen, und also weder diese, noch Ferdinand, noch Heinrich wieder in dem Landhause erschienen, so hatte sich das verlassene Mädchen aufgerafft und entschieden begehrt, in die Stadt gebracht zu werden. Sie war daher in einen Wagen gesetzt und durch die Gärtnersfrau begleitet worden. Überdies hatte sich der rheinische Gottesmacher auf den Bock gesetzt und war treulich besorgt gewesen, die kranke Schöne in ihrer Behausung unterzubringen.

Als einige Tage verflossen waren und die Blume jenes Gerüchtes völlig aufgegangen, versammelte der Gottesmacher einige Musikgenossen, mit welchen er gewöhnlich Quartett spielte, und übte mit ihnen einen ganzen Tag lang. Am Abend führte er sie vor Agnesens kunstreiches Häuschen; der Violoncellist, welcher ein Landschafter war, hatte seinen Feldstuhl mitgenommen und setzte sich auf denselben zum Spiele, die anderen drei standen neben ihm, und nachdem sie leise und sorgfältig die Saiten gestimmt, erklangen die harmonischen, gehaltenen Töne der Geigen über den kleinen, stillen Platz. Augenblicklich öffneten sich alle Fenster in der Runde, die Nachbaren steckten neugierig entzückt die Köpfe in die laue Märznacht hinaus, und die Frauen und Mädchen spähten, wem die unerwartete Serenade gelten möchte.

Die Musiker spielten einige ernste, klagende Stellen aus älteren Tonwerken, deren edle, kräftige Unbefangenheit süß und wohllautend das helle Mondlicht durchklang und in ihrer klaren Bestimmtheit mit den scharfen Umrissen der voll beleuchteten Gegenstände wetteiferte. Agnes saß zuhinterst in der matt erleuchteten Stube; die schöne Musik tönte in ihren dumpfen Schmerz hinein, sie erhob das schwere Köpfchen und lauschte alsobald mit kindlich neugierigem Wohlbehagen den Tönen, ohne sich zu wundern noch zu kümmern, woher sie kämen. Ihre Mutter dagegen eilte ans Fenster, und sobald sie sich überzeugt hatte, daß die Herren nur an ihr Haus hinaufspielten, rief sie: »Bei Marias Hilf und frommer Fürbitte! Wir haben ein Ständchen! Wir haben ein Ständchen!« Sie zündete sogleich die zwei rosenroten Wachskerzen an, welche sonst immer wie Altarleuchter vor ihrem Bildnisse standen, und stellte dieselben feierlich auf den Tisch, damit jedermann an der hell erleuchteten Stube sehen sollte, wem die Musik gelte. Dann zog sie ihre Tochter, die sie kurz vorher gescholten hatte, freundlich zum Fenster, und Agnes sah lächelnd auf die freundlichen Musiker nieder. Diese gingen nun in einen rascheren Takt und in hellere Weisen über, und nachdem sie dieselben mit kräftigem Bogenstrich geschlossen, begannen sie plötzlich, ebenso geübt im Gesänge wie im Spiel, ein vierstimmiges Frühlingslied zu singen, daß der wohltönende Gesang heiter in die Lüfte stieg. Sie begleiteten sich selbst auf ihren Instrumenten, bald mit zartem Bogenstrich, bald mit der Hand die Saiten rührend.

In der zarten und doch festen Tüchtigkeit dieses Vertrages tat sich ein wohlbestelltes Gemüt kund, und die zusammenklingenden Männerstimmen richteten Agnesens Seelchen auf und drangen mit ehrendem und tröstendem Schmeicheln in ihr verzagtes Blut.

Sie errötete freundlich und schlief diese Nacht wieder zum ersten Mal froh und ruhig, in beiden zierlichen Ohrmuscheln die wohltuenden Töne bewahrend.

Am anderen Tage fand sich der Gottesmacher im Häuschen der Malerswitwe ein und stellte sich als den Urheber des nächtlichen Konzertes vor. Die Alte errötete noch mehr als ihre Tochter, und alle drei befanden sich in einiger Verlegenheit. Um diese zu unterbrechen, erbat sich der Rheinländer Entschuldigung für die Freiheit, die er sich genommen, so ohne weiteres mit einer Nachtmusik aufzuwarten, und zugleich die Erlaubnis, seine Besuche fortsetzen zu dürfen. Diese wurde ihm gewährt; das junge Mädchen fand sich durch die musikalische Ehrenrettung aus einer peinvollen und öden Lage erlöst; sie fühlte nun reiner das süßherbe Weh des Liebesunglückes, und in ihr Leid um Ferdinand Lys mischte sich mit nicht abzuwehrender Wärme die Dankbarkeit gegen den wohlgesinnten Gottesmacher.

Dieser brachte mehrere Male seine Freunde samt den Instrumenten mit und führte mit ihnen in Agnesens Wohnung kleine Konzerte auf, denen niemand zuhörte als sie und ihre Mutter. Die klare Musik, die wohlgemessenen Töne hellten ihren Geist auf und erweckten reifende, bewußte Gedanken in ihr, so daß eine ernste Haltung, ein inhaltsvollerer Blick mit ihrer Kindlichkeit und ihrem naiven Wesen sich mit großem Reize vereinigten.

Als eines Abends der Gottesmacher sich mit seinen Freunden entfernt hatte, kehrte er gleich darauf allein zurück und in sonderbarer angenehmer Aufregung, und indem er einen glänzenden Blick auf die reizende Gestalt des Mädchens warf, küßte er der Mutter die Hand, nahm sich zusammen und hielt, im Anfang nicht ohne Stottern, folgende Rede:

»Sie sind, liebeköstliche Agnes – Ihre Tochter ist, verehrte Frau! von einem glänzenden Liebhaber herzlos verlassen. Weder mit den persönlichen Vorzügen noch mit den Reichtümern jenes Treulosen begabt, fühle ich dennoch mich unaufhaltsam getrieben und gezwungen, das Glück herauszufordern, mich an die Stelle des Verschwundenen zu drängen und mit meiner Hand der Verlassenen ein leidenschaftlich erregtes, aber dauerhaftes und treues Herz anzubieten! – Ich bin ein Silberschmied und am Rhein zu Hause; meine Eltern sind mir schon früh gestorben, so daß ich von Jugend auf allein in der Welt stand. Aber nachdem ich in Arbeit, Musik und Lustigkeit viele sorgenvolle und lustige, klangvolle Jahre zugebracht, fiel mir von weiter Verwandtschaft her das Erbe eines schönen, frommen und nährenden Heimwesens zu, durch den Schutz der gebenedeiten Jungfrau. Ich hatte nun reichlicher zu leben und durfte, einigen künstlerischen Neigungen folgend, mit denen ich versehen bin, auf einige Jahre hierherkommen, um in dieser gut katholischen Stadt mein Handwerk durch etwas gute Bildnerei verbessern zu lernen. Die vorgesetzte Zeit ist nun vorüber, ich kehre nächstens an den schönen Strom zurück, wo Kirchen, Klöster und vornehme Prälaten meine Arbeiten begehren. Mein Gut liegt zwischen zwei uralten Städtchen am sonnigen Abhang, aus dem Hause tritt man in den Garten und schaut den goldenen Rheingau hinauf und hinunter, Türme und Felsen schwimmen in bläulichem Dufte, durch welchen sich das glänzende Wasser zieht; hinter dem Hause legt sich der edle, einträgliche Wein, der mir Gut und Freude bringt, an den aufsteigenden Berg, und oben steht eine Kapelle unserer lieben Frau, die weit über die Gauen, Wälder und in die Berge hineinschaut und sich ins letzte Abendrot taucht. Dicht daneben habe ich ein kleines Lusthäuschen gebaut und unter demselben einen kleinen Keller in den Felsen gehauen, wo stets ein Dutzend Flaschen klaren Weins liegen. Wenn ich nun einen neuen kunstreichen Kelch fertig habe, so steige ich, eh ich ihn inwendig vergolde, hier hinauf, und nachdem ich der Jungfrau meinen Dank abgestattet für ihre Hilfe bei der Arbeit, probiere und weihe ich das Gefäß in dem luftigen Häuschen, und leere es drei, auch wohl viermal auf das Wohl aller Heiligen und aller unschuldigen frohen Leute. Ich führe dies hier an, weil ich damit meine Schwäche bekenne, daß ich nämlich bis jetzt ein bißchen viel Wein getrunken habe, zwar nie so viel, daß ich nicht jenen Berg wieder allein hätte hinuntergehen können, so steil er auch ist. Meine Silberarbeit, Musik und Wein sind meine einzige Freude gewesen und meine schönsten Tage die sonnigen Kirchentage der Mutter Gottes, wenn ich zu ihrem Preise auf dem Chore der benachbarten Kirchen spielte, während unten am belaubten und bekränzten Altare meine Gefäße glänzten. Ein klingendes und singendes Weinräuschchen an heiterer Pfaffentafel, in Refektorien oder in schön gebohnten, duftenden Pfarrhäusern war dann der Gipfel des vergnügten Daseins. – Aber seit einiger Zeit sehnten sich meine Lippen auch nach einem anderen Tranke, es war mir immer, als möchte ich die unsichtbare Himmelskönigin einmal küssen, und wenn ich die Bilder, die ich von ihr in Silber oder Elfenbein machte, zu küssen mich gewaltsam bekämpfen mußte, bat ich die schöne Gottesfrau schmerzlich, mir aus meiner Not zu helfen. – Da habe ich dich bei dem Feste gesehen, ärmste, schönste Agnes, und sogleich war es mir, als hätte die Jungfrau selbst deine Gestalt angenommen, mir zur Freude, und meinem Silber, meinem Elfenbein zu Vorbild und Richtschnur; denn was ich bislang an zartem Gebilde in Traum und Wachen vergeblich gesucht und angestrebt, das sah ich nun plötzlich lebendig vor mir! Ich wußte nicht: drängte es mich zuerst, zu Stift und Griffel zu greifen, um deine kostbare Erscheinung hastig dem edlen Metalle einzugraben, oder dich mit dem Schwüre zu umschließen, daß ich dich nun und immerdar mir aneignen und auf Händen tragen wolle, das lichte Seelchen, das in deiner Gestalt wohnt, in Frömmigkeit küssend! Kommst du mit mir in meine Heimat, so soll die Zeit des Weines für mich vorüber sein und die Zeit der Liebe und Schönheit beginnen! Das Land ist schön und fromm und fröhlich, Ruhe und Heiterkeit sollen dich und deine geehrte Mutter umgeben, indessen jeder Punkt deines Daseins und deiner Erscheinung ein Gegenstand meiner immerwährenden Verehrung sein wird. Zahlreiche Kapellen und Kirchlein unserer lieben Frau, die aus allen lauschigen Winkeln, auf Bergen und im Strome glänzen, stehen bereit, deine sonstigen Wünsche und Anliegen und meine Dankgebete für die eine Gnade deines Besitzes aufzunehmen.«

Als der Gottesmacher seine Rede in schöner und einnehmender Erregtheit geendet und, Agnesens Hand ergreifend, sie mit seinen lebhaften Äuglein, die in gemütvollem poetischen Feuer funkelten, anblickte, wollte die Mutter mit diplomatischer Gebärde das Wort ergreifen; allein ihre Tochter, welche während der Zeit ihr prächtiges Auge mit melancholischem Lächeln auf die Erde gerichtet hatte, richtete sich jetzt auf, unterbrach die Alte und erwiderte mit einem freien und vollen Blicke auf den Rheinländer, indem sie ihm die Hand ließ:

»Ja, ich will dein sein, mein lieber Freund! Du hast mir Ehre erwiesen und Trost gebracht und deine schöne Musik hat ein helles Licht in meinem verwirrten Gemüte verbreitet! Und indem ich überlege, wie ich es dir am besten und wahrsten danken kann, fühle ich wohl und fühle es gern, daß es am besten mit meinem verlassenen Selbst geschieht, das nun nicht mehr verlassen ist! Ohne zu forschen, ob deine Neigung fest und dauernd sei, will ich mich mit all der Sehnsucht meiner verschmähten Liebe unter den Schutz deines fröhlichen Herzens flüchten und so zugleich das Unheil einer neuen Verschmähung verhüten. Ich will nicht rückwärts schauen und nur fühlen, daß ich mit meiner einen Kraft liebe und wieder geliebt werde. Sollte es mir geschehen, daß ich einmal den Namen des Verschwundenen statt des deinigen ausspreche, so sei mir nicht böse, ich will dich dafür zweimal ans Herz drücken! Was den Wein betrifft, so bitte ich dich, wegen meiner nicht einen Becher weniger zu trinken! Dieser goldene Schelm hat mir Weh getan und ich habe ihn schmerzlicherweise dafür lieb gewonnen; ich sah, daß an seinen Quellen ehrliche Freude, Herzlichkeit und Artigkeit wohnen; jene Stunden zwischen den Myrten und Orangen, obgleich ich sie nie zurückwünsche, sind wie ein unauslöschliches Märchen in meinem Gedächtnis, wie ein schmerzlich süßer Traum, welchen ich zwischen neuen, unbekannten und doch vertrauten treuherzigen Gestalten geträumt.

Aber noch eines muß ich sagen. In die vielen Kirchen und Kapellen am Rheine werde ich nicht eintreten! Ich habe in meiner Not um den Ungetreuen zu der fabelhaften Frau im Himmel gefleht, und sie hat mir nicht geholfen! Oder ich habe um Ungehöriges und Sündliches gefleht; dann aber dünkt es mich, daß ein wahres göttliches Wesen hierzu niemals verlocken kann. Als ich noch hoffte, den schlimmen Ferdinand mein zu nennen, wußte ich, daß er nichts glaubte und im stillen über mein Vertrauen zur Jungfrau lächelte. Ich war darüber bekümmert und gedachte in meiner Kindheit, ihn noch gut katholisch zu machen. Jetzt, wo seine Entfernung und sein selbstsüchtiger Verrat mir seine Grundsätze doppelt verdächtig und verhaßt machen sollten, fühle ich mich seltsamerweise zu denselben hingezogen, ja ich wünsche zuweilen, wie wenn ich nach seinem Beifall lüstern wäre, daß er es wissen möchte!

Zürne nicht hierüber, liebster frommer Gottesmacher! Ich will dir kein Ärgernis geben, sondern dein gehorsames und treues Haus- und Bergfräulein sein! Ich will fromm deiner Trauben pflegen und dir jeden Becher kredenzen, den du trinkest!«

Die Zuhörer waren höchlich verwundert über diese Reden; die Mutter bekreuzte sich dreimal, indem sie sowohl über Agnesens Beredsamkeit als über den Inhalt ihrer Worte sich entsetzte, und sie wollte ein lautes Lamentieren beginnen. Aber sie wurde wieder unterbrochen durch den Gottesmacher, welcher, nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt, erwiderte:

»Ich hätte allerdings nicht vermutet, daß meine ehrwürdige, von frommen Meistern gesetzte Musik ein Licht dieser Art in einem jugendlichen Frauenhaupte aufstecken und eine solche anmutige Beredsamkeit erzeugen würde! Doch die Wege des Herrn sind wunderbar! möchte ich fast sagen, wenn nur dieses Sprichwort hier besser angewendet wäre!

Ich bin in dem andächtigen Glauben an Gott und seine Heiligen erzogen, und insbesondere das Bild der Maria hat mich von Kindheit auf in seiner Milde und Schönheit angelacht. Ihr Kultus hat mich zur Kunst begeistert und mir Brot gegeben, als ich arm, verlassen und unwissend war; sie war mir Mütterchen, Geliebte, göttliche Fürbitterin, Muse in Bild und Tönen, und überdies belebte sie wie eine allgegenwärtige Göttin die Fluren meiner schönen Heimat. Aus der Bläue des Himmels, auf goldenen Wolken, im Glänzen des Gewässers, im leuchtenden Grün der Wälder, auf den Blumensternen, auf den roten Rosen lächelte mir die unsichtbare Himmelsfrau sichtbar entgegen und weckte ein süßes Sehnen in meiner Brust. Jetzt ist mir beinahe, als wäre dies Sehnen gestillt, auch weiß ich gar wohl, daß derlei katholische Dinge von aufgeklärten oder auch nur unbefangenen Leuten nicht mehr geglaubt werden; aber warum wollen wir die selige Menschgöttin unserer Jugendzeit, die uns Unschuld und Anmut bedeutet, so ohne weiteres absetzen? Ist es uns nicht lieblicher und vertrauter, die Altbekannte, Schöne ferner über unseren Fluren zu ahnen und sie mit dem armen Volke in den geschmückten Tempeln zu verehren, in denen wir so wohl zu Hause sind, als uns den Kopf zu zerbrechen und für das, was uns beglückt, gelehrte heidnische Namen oder gar nur tönende Worte zu gebrauchen? Wenn ich erst einmal anfinge, mich in solche Dinge einzulassen, so hätte ich nicht mehr Zeit, mein Silber zu treiben; denn mein Kopf ist nicht zu leichten Übergängen eingerichtet und muß alles gründlich einüben. Also schlage ich vor, daß wir uns die Sache nicht unnötig schwer machen, vielmehr dieselbe, sozusagen, der heiligen Jungfrau selbst überlassen! Was jenen unglücklichen Verräter betrifft, so wage ich zu hoffen, daß ich sein Andenken je länger, je weniger zu fürchten brauche, ja sogar daß das Bestreben, in Glauben oder Unglauben zu gefallen, eines Tages sich mir gänzlich zuwenden werde; denn ich fühle eine solche Ganzheit und Sicherheit der Liebe zu dir in mir, daß ich mir Meisterschaft und Kunst genug zutraue, den Lauf deines Geblütes endlich ganz zu meinen Gunsten zu lenken!«

Agnes blickte während dieser Worte wieder vor sich nieder, ohne den Mund zu verziehen, wie in tiefen Gedanken verloren; doch dann stand sie auf und küßte den Gottesmacher mehrere Male auf den Mund.

Es wurde nun beschlossen, gleich mit dem Beginne des Frühlings die Hochzeit zu begehen und nach dem Rheine zu ziehen, was auch alles auf das beste geschah, und der Gottesmacher war und blieb so glücklich, daß daraus notwendig auf Agnesens eigenes Glück zu schließen war. Ihre Mutter war erst in der großen belebten Stadt geblieben, da ihrem eitlen Sinne dieselbe zur Unterlage nötig schien; auch hoffte sie im geheimen durch die Abwesenheit der störenden Schönheit ihrer Tochter noch einen stillen und erbaulichen Nachsommer ihrer eigenen Person zu genießen, wenn auch nur vor sich selbst und angesichts ihres Bildes. Aber bald mußte sie zu ihrem Schrecken erfahren, daß ihr Licht nicht mehr genugsam leuchtete und daß sie, ohne es zu wissen, schon bislang im Widerschein von ihres Kindes Schönheit geatmet hatte. Sie fühlte sich einsam, alt und verwelkt, mehr als sie es im Grunde war, erhob einen großen Jammer, bis sie zu dem jungen Paare reisen konnte, und es war rührend zu sehen, wie sie sich klagend beeilte, nur wieder in den Bereich der Jugend und Schönheit zu kommen, die Jugend von ihrer Jugend und Schönheit von ihrer Schönheit war.

Ehe aber das seltsam erregte Paar abgereist, hatte es auf den besonderen Wunsch Agnesens den abgeschlossenen Heinrich aufgesucht, um sich bei ihm zu verabschieden.

Die erste Gefahr in Ferdinands Zustande war einstweilen vorüber, und der Verwundete ging einer leidlichen Herstellung entgegen. Heinrich hatte ihn aber noch nicht wieder gesehen. Eine tiefe Verwirrung und Scham, welche ihn in der starken Abspannung nach jenen aufgeregten Tagen befiel, mischte sich mit einer Art trotziger Scheu, sich an das Krankenbett zu drängen, und als die Lebenskräfte des Kranken sich wieder gesammelt, fragte er wohl nach Heinrich, aber er verlangte ihn nicht zu sehen. Ein bitteres Schmollen waltete zwischen beiden, welches zwar bei jedem mehr gegen sich selbst gerichtet war, aber doch den anderen mit hineinzog, da ohne denselben die begangene gefährliche Torheit nicht möglich geworden wäre. Und wie eine sündliche Torheit, in Aufregung und Verblendung hereingebrochen und für einmal noch gnädig ablaufend, doch den Vorhang lüftet vor einem unliebsamen Dunkel, das in uns zu wogen scheint, so zeigte das Vorgefallene dem melancholischen grünen Heinrich eine dunkle Leere in sich selber, in welcher seine eigene Gestalt, mit tausend Fehlern und Irrtümern behaftet, ganz unleidlich auf und nieder tauchte.

Er wohnte längst nicht mehr in jenem behaglichen Stübchen, das er bei seiner Ankunft gemietet, sondern in einem großen saalartigen Raume mit hohen grauen Wänden, der durch ein mächtiges helles Fenster erleuchtet war. Seine ungeheuerlichen Kartons mit den abenteuerlichen Kompositionen, die großen blassen Bilder auf Leinwand bildeten zusammen ein Labyrinth von verschiedenen helldunklen Gelassen und Winkeln, als ob eine kolossale spanische Wand, mit spanischen Schlössern bemalt, sich durch den Raum zöge. Der einzige Luxusgegenstand im Zimmer war ein mächtiges breites Sofa, das aber ganz mit Papier und Büchern bedeckt war und dadurch verriet, daß der junge Bewohner sich noch stramm und aufrecht zu halten gewohnt war und trotz seiner Melancholie keines Lotterbettes bedurfte.

Sonst war jede Zierlichkeit und Fülle vermieden; auf ein paar wackeligen Tischchen lagen bestäubt die Geräte Heinrichs, auf dem Boden seine Mappen, die Wände waren kahl und öde, und wenn er früher einer museumartigen Fülle, einer beschaulichen Kramseligkeit bedurft hatte, um sich zu gefallen, so schien er jetzt mit einer düstern Leere und Schmucklosigkeit zu kokettieren. Nur ein etwa anderthalb Fuß hoher borghesischer Fechter, trefflich gearbeitet, aber vielfach beschädigt und beräuchert, stand in einer Ecke auf dem Boden, und von der Fensternische herab hing zerrissen und verdorrt eine große Efeuranke. Auf der kahlen Mauer, wo der Efeu früher in die Höhe gewachsen, sah man dieselbe Ranke mit Kohle höchst sorgfältig und reinlich nachgezeichnet, nämlich nach den Umrissen des Schattens, welchen der Efeu einst in der frühen Morgensonne auf die Mauer geworfen hatte.

Aber diese Spur eines melancholischen Müßigganges war noch höchst heiter und tüchtig zu nennen im Vergleich zu einer anderen, welche in Heinrichs Werkstatt zu entdecken war oder vielmehr dem ersten Blicke auffiel. Unter den großen Schildereien ragte besonders ein wenigstens acht Fuß langer und entsprechend hoher Rahmen hervor, mit grauem Papiere bespannt, der auf einer mächtigen Staffelei im vollen Lichte stand. Am Fuße desselben war mit Kohle ein Vordergrund angefangen und einige Föhrenstämme, mit zwei leichten Strichen angegeben, stiegen in die Höhe. Davon war einiges bereits mit der Schilffeder markiert, dann schien die Arbeit stehengeblieben. Über den ganzen übrigen leeren Raum schien ein ungeheures graues Spinnennetz zu hangen, welches sich aber bei näherer Untersuchung als die sonderbarste Arbeit von der Welt auswies. An eine gedankenlose Kritzelei, welche Heinrich in einer Ecke angebracht, um die Feder zu proben, hatte sich nach und nach ein unendliches Gewebe von Federstrichen angesetzt, welches er jeden Tag und fast jede Stunde in zerstreutem Hinbrüten weiterspann, so daß es nun den größten Teil des Rahmens bedeckte. Betrachtete man das Wirrsal noch genauer, so entdeckte man den bewunderungswertesten Zusammenhang, den löblichsten Fleiß darin, indem es in einem fortgesetzten Zuge von Federstrichen und Krümmungen, welche vielleicht Tausende von Ellen ausmachten, ein Labyrinth bildete, das vom Anfangspunkte bis zum Ende zu verfolgen war. Zuweilen zeigte sich eine neue Manier, gewissermaßen eine neue Epoche der Arbeit, neue Muster und Motive, oft sehr zart und anmutig, tauchten auf, und wenn die Summe der Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu dieser unsinnigen Mosaik erforderlich war, verbunden mit Heinrichs gesammeltem Talente, auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre, so hätte er ein Meisterwerk liefern müssen. Nur hier und da zeigten sich kleinere oder größere Stockungen, gewissermaßen Verknotungen in diesen Irrgängen einer zerstreuten, gramseligen Seele, und die sorglose und kluge Art, wie sich die Federspitze aus der Verlegenheit zu ziehen gesucht, bewies deutlich, daß das träumende Bewußtsein Heinrichs aus irgend einer Patsche hinauszukommen suchte.

Schon seit vielen Wochen hatte er jeden Tag zur eigentlichen Arbeit angehoben und war alsobald, ohne es zu wissen noch zu wollen, in dunklem Selbstvergessen an die Fortsetzung der kolossalen Kritzelei geraten, und er arbeitete eben wieder mit eingeschlummerter Seele, aber großem Fleiß und Scharfsinn an derselben, als an die Tür geklopft wurde.

Er erschrak heftig und fuhr zusammen, als ob er über einem Verbrechen ertappt wäre. Agnes und ihr Bräutigam traten herein, und kaum hatte man sich begrüßt, so erschien Erikson mit seiner nunmehrigen Frau Rosalie, und Heinrich sah sich von Geräusch, Leben und Schönheit wachgerüttelt. Er hatte weder von Eriksons Hochzeit als von Agnesens Verlobung etwas gewußt, und der Zufall wollte, daß beide Paare am folgenden Tage abreisen wollten, das eine nach dem Rheine, das andere nach Italien.

»Meine Frau«, sagte Erikson, »bestand darauf, mit hinaufzukommen, als ich, unten vorbeigehend, mich beurlauben wollte, um dir Adieu zu sagen. Wir bleiben bis zum Juni im Süden, dann gehen wir durch Frankreich nach dem Norden, streichen in meiner Heimat herum und sehen, wo wir da einmal leben wollen. Vielleicht in einer Seestadt, etwa Hamburg. Hernach besuchst du uns auf einige Zeit, wir wollen dich protegieren und ein bißchen zurechtstutzen!« Rosalie unterbrach ihn und verlangte auf das freundlichste von Heinrich das Versprechen, daß er sie aufsuchen werde, und Agnes nebst dem Gottesmacher begehrten, daß er jedenfalls den Rhein hinunterfahren und auch sie besuchen solle.

Inzwischen hatte sich Erikson vor die Staffelei gestellt und betrachtete höchst verwundert Heinrichs neuste Arbeit. Dann betrachtete er mit bedenklichen Blicken den Urheber, welcher in peinlicher Verlegenheit dastand, und sagte: »Du hast, grüner Heinrich, mit diesem bedeutenden Werke eine neue Phase angetreten und begonnen, ein Problem zu lösen, welches von größtem Einflusse auf unsere deutsche Kunstentwicklung sein kann. Es war in der Tat längst nicht mehr auszuhalten, immer von der freien und für sich bestehenden Welt des Schönen, welche durch keine Realität, durch keine Tendenz getrübt werden dürfe, sprechen und räsonnieren zu hören, während man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Menschen, Tiere, Himmel, Sterne, Wald, Feld und Flur und lauter solche trivial wirkliche Dinge zum Ausdrucke gebrauchte. Du hast hier einen gewaltigen Schritt vorwärts getan von noch nicht zu bestimmender Tragweite. Denn was ist das Schöne? Eine reine Idee, dargestellt mit Zweckmäßigkeit, Klarheit, gelungener Absicht! Diese Million Striche und Strichelchen, zart und geistreich oder fest und markig, wie sie sind, in einer Landschaft auf materielle Weise placiert, würden allerdings ein sogenanntes Bild im alten Sinne ausmachen und so der hergebrachten gröbsten Tendenz frönen! Wohlan! du hast dich kurz entschlossen und alles Gegenständliche hinausgeworfen! Diese fleißigen Schraffierungen sind Schraffierungen an sich, in der vollkommensten Freiheit des Schönen schwebend, dies ist der Fleiß, die Zweckmäßigkeit, die Klarheit an sich, in der holdesten, reizendsten Abstraktion! Und diese Verknotungen, aus denen du dich auf so treffliche Weise gezogen hast, sind sie nicht der triumphierende Beweis, wie Logik und Kunstmäßigkeit erst im Wesenlosen recht ihre Siege feiern, im Nichts sich Leidenschaften und Verfinsterungen gebären und sie glänzend überwinden? Aus Nichts hat Gott die Welt geschaffen! Sie ist ein krankhafter Abszeß dieses Nichts, ein Abfall Gottes von sich selbst. Das Schöne, das Poetische, das Göttliche besteht eben darin, daß wir uns aus diesem materiellen Geschwür wieder ins Nichts zurückabstrahieren, nur dies kann eine Kunst sein! – Aber mein Lob muß sogleich einen Tadel gebären, oder vielmehr die Aufforderung zu weiterem energischen Fortschritt! In diesem reformatorischen Versuch liegt noch immer ein Thema vor, welches an etwas erinnert, auch wirst du nicht umhin können, um dem herrlichen Gewebe einen Stützpunkt zu geben; dasselbe durch einige verlängerte Fäden an den Ästen dieser Föhren zu befestigen, sonst fürchtet man jeden Augenblick, es durch seine eigene Schwere herabsinken zu sehen. Hierdurch aber knüpft es sich wiederum an die abscheulichste Realität! Nein, grüner Heinrich! nicht also! nicht hier bleibe stehen! Die Striche, indem sie bald sternförmig, bald in der Wellenlinie, bald rosettenartig, bald geviereckt, bald radienartig, strahlenförmig sich gestalten, bilden ein noch viel zu materielles Muster, welches an Tapeten oder bedruckten Kattun erinnert. Fort damit! Fange oben in der Ecke an und setze einzeln nebeneinander Strich für Strich, eine Zeile unter die andere; von Zehn zu Zehn mache durch einen verlängerten Strich eine Unterabteilung, von Hundert zu Hundert eine wackere Oberabteilung, von Tausend zu Tausend einen Abschluß durch einen tüchtigen Sparren. Solches Dezimalsystem ist vollkommene Zweckmäßigkeit und Logik, das Hinsetzen der einzelnen Striche aber der in vollkommener Tendenzfreiheit in reinem Dasein sich ergehende Fleiß. Zugleich wird dadurch ein höherer Zweck erreicht. Hier in diesem Versuche zeigt sich immer noch ein gewisses Können; ein Unerfahrener, Nichtkünstler hätte diese Gruselei nimmer zustande gebracht. Das Können aber ist von zu leibhafter Schwere und verursacht tausend Trübungen und Ungleichheiten zwischen den Wollenden; es bringt die tendenziöse Kritik hervor und steht der reinen Absicht fort und fort feindlich entgegen. Das moderne Epos zeigt uns die richtige Bahn! In ihm zeigen uns begeisterte Seher, wie durch dünnere oder dickere Bände hindurch die unbefleckte, unschuldige, himmlisch reine Absicht geführt werden kann, ohne je auf die finsteren Mächte irdischen Könnens zu stoßen! Eine goldschnittheitere, ewige Gleichheit herrscht zwischen der Brüderschaft der Wollenden! Mühelos und ohne Kummer teilen sich einige tausend Zeilen in Gesänge und Strophen ab; der wahre Fleiß an sich freut sich seines Daseins, kein schlackenbeschwerter Könnender stört die Harmonie der Wollenden. Und weit entfernt, daß der Bund der Wollenden etwa eine einförmige, langweilige Schar darstellte, birgt er vielmehr die reizendste Mannigfaltigkeit in sich und kommt auf den verschiedensten Wegen zum Ziele. Hauptsächlich teilt er sich in drei große Heerlager; das eine dieser Heerlager will, das heißt arbeitet, ohne etwas gelernt zu haben; das zweite wendet mit eiserner Ausdauer das Gelernte, aber nicht Begriffene an; das dritte endlich arbeitet und will, ohne das Gelernte und Begriffene auf sich selber anzuwenden, und alle drei Heerzüge vereinen sich an einem friedlichen Ziele. Wer kann ermessen, wie nahe die Zeit ist, wo auch die Dichtung die zu schweren Wortzeilen wegwirft, zu jenem Dezimalsystem der leichtbeschwingten Striche greift und mit der bildenden Kunst in einer äußeren Form sich vermählt? Alsdann wird der reine Schöpfer- und Dichtergeist, welcher in jedem Bürger schlummert, durch keine Schranke mehr gehemmt, zutage treten, und wo sich zwei Städtebewohner träfen, wäre der Gruß hörbar: »Dichter?« »Dichter!« oder: »Künstler?« »Künstler!« Ein zusammengesetzter Senat geprüfter Buchbinder und Rahmenvergolder würde in wöchentlichen olympischen Spielen massenhaft die Würde des Prachteinbandes und des goldenen Rahmens erteilen, nachdem sie sich eidlich verpflichtet, während der Dauer ihres Richteramtes selbst keine Epen und keine Bilder zu machen, und ganze Kohorten wissenschaftlich wie ästhetisch verbildeter Verleger würden die gekrönten Epen in stündlich folgenden Auflagen von je einem Exemplare über ganz Deutschland hin so tiefsinnig verlegen, daß sie kein Teufel wieder finden könnte!«

»Lieber Mann, was befällt dich, wo willst du hin?« rief Rosalie, die wie die anderen mit offenem Munde dagestanden und abwechselnd bald den über und über bekritzelten Rahmen, bald den Redner betrachtet hatte, indessen Heinrich, mit Rot begossen, dann bleich werdend, in der unglückseligsten Laune verharrte. »Laßt es gut sein!« sagte Erikson, »dieser Witz, dieses Geschwätz sei für einmal mein gerührter Abschied von Deutschland! Von nun an wollen wir dergleichen hinter uns werfen und uns eines wohlangewandten Lebens befleißen!« Dann nahm er mit ernsterem Blicke Heinrich bei der Hand, führte ihn hinter einen großen Karton und sagte leise zu ihm: »Lys läßt dich freundlichst grüßen; der Arzt hat ihm geraten, nun sogleich nach dem Süden zu gehen und sich dort wenigstens zwei Jahre aufzuhalten. Er wird nach Palermo und dort genesend in sich gehen; die Krankheit scheint doch etwas an ihm geändert zu haben. Dein Gekritzel da auf dem Rahmen zeigt mir, daß du dich übel befindest und nicht mit dir einig bist; sieh, wie du aus der verfluchten Spinnwebe herauskommst, die du da angelegt hast, und wenn du dich mit dem Ding, mit der Kunst oder deren Richtung irgend getäuscht fändest, so besinne dich nicht lange und stelle die Segel anders! Ich bin im gleichen Falle und muß erst jetzt sehen, wie ich noch etwas Tüchtiges hantieren werde, daß einige nützliche Bewegung von mir ausgeht!«

Heinrich ward sehr beklemmt und erwiderte nichts als: »Wann geht Ferdinand fort?« »In den nächsten Tagen«, sagte Enkson, »er wünscht indes, daß ihr euch für jetzt nicht sehet; überhaupt laßt uns alle drei aufs Geratewohl auseinandergehen, ernst und doch leicht, und es der Zukunft überlassen, was sie aus jedem machen und ob sie uns wieder zusammenführen wird! Ein dreifaches stilles Gedenken mag umso treuer in uns leben; du besonders bist uns beiden anderen lieb, wie ein kleiner Benjamin, und es nimmt uns höchlich wunder, was aus dir, welcher so viel jünger ist als wir, eigentlich sich noch hervorspinnen wird.«

Als sie wieder hinter ihrer Kulisse hervorgetreten, wurde rasch Abschied genommen. Erikson und der Gottesmacher drückten ihm kräftig die Hand; Rosalie, welche mit feinem Sinnen wohl ahnte, daß Heinrich etwas fehlte, dämpfte mit zartem Gefühl den munteren Glanz des Glückes in ihren Augen, als sie ihm die Hand reichte und freundlich lächelte, und Agnes, welche sich zugleich herandrängte, schoß vollends einen warmen, dunklen Blick in seine Augen, und zwischen ihren schwarzen Wimpern schimmerte es wie silberner Tau. Er fühlte, daß das wundersame Wesen ihm mit wenigem viel sagen möchte, daß sie dem Vertrauten jener schmerzlichen Freudentage ihre tiefbewegte Verwunderung über sich selbst, über den Lauf der Welt verschweigen mußte. Selbst verwundert stand Heinrich einen Augenblick zwischen zwei reizvollen Weibern, dann sah er sich allein und schaute in dem grauen, zum Teil düsteren, zum Teil mit grellem Lichte durchstrahlten Raum herum, in welchem soeben sich kräftige und schöne, glücklich gepaarte Menschengestalten bewegt hatten.

Er sah auf die Tür, durch welche sie verschwunden und welche mit ihrer weißgestrichenen Fläche vor seinen Augen schwirrte und flimmerte wie eine Leinwand, von welcher mit einem Zuge ein lebendiges Gemälde weggewischt worden. Er sah durch das hohe Fenster, dessen untere Hälfte verhüllt war, in die leere Luft hinaus, das freundliche Stück blauen Himmels schien anderswohin niederzubücken auf rüstig bewegtes Menschengewimmel; sein Blick irrte hierauf über die umherstehenden anspruchsvollen Arbeiten hin, welche grau in grau, als wesenlose Fiktionen von Bäumen und Steinen, ineinander schwammen. Eine beklemmende Unruhe bemächtigte sich seiner, heftig schritt er auf und nieder, und sich Raum schaffend, rückte und schob er die Bilder und Kartons ringsherum zurück, zusammen, drängte sie auf einen Haufen an die Wand, bis das große Zimmer leer und geräumig erschien. Wie einen guten tröstenden Freund entdeckte er da die Gipsfigur des borghesischen Fechters, welche aus ihrem Winkel zutage trat. Unwillkürlich hob er sie empor und setzte sie auf ein Tischchen mitten in das hereinströmende Licht.

Alles war Leben in dem von Sonne, Wind und Wetter gereiften Körper dieses abgehärteten Kriegers, der mit ehrlichem Fleiße sich seiner Haut wehrte. Den feindlichen Angriff abwehrend und zugleich selbst kraftvoll angreifend, war der ganze Mann mit allen Gliedern in der Anregung dieses Doppelzweckes gespannt; Verteidigung und Ausfall, Selbsterhaltung und Wirkung nach außen, Zusammenziehen und Ausdehnung vereinigten sich in einem Momente, in welchem das schönste Spiel der Muskeln darstellte, wie das Leben recht eigentlich durch sich selbst um sich selber kämpfte in dieser munteren Menschenkrabbe.

Trotz des bröcklichen beschmutzten Gipses ging ein Licht von dem rüstigen, tapferen Bilde aus, welches erhellend in Heinrichs Augen fiel. Er hatte sonderbarerweise noch nie einen ernstlichen Versuch zur kundigen Nachahmung der menschlichen Gestalt gemacht und gerade seit seinem Aufenthalte in der Kunstresidenz, wo Mittel und Aufforderung genug im größten Maßstabe sich aufdrängten, sich eigensinnig davon zurückgehalten, in der willkürlich bescheidenen Einbildung, daß Beruf und Bestimmung die ausschließliche Ausbildung des einmal gewählten Zweiges erforderten. Nicht nur verkannte er das Gesetz, daß je weiter und mannigfaltiger die Kunst verwandter Gegenstände ist, desto freier und vollkommener ein Auserwähltes betrieben werde, sondern es verbarg sich in jener Bescheidenheit auch die Anmaßung, schließlich in dem einen Fache so glänzen zu wollen, daß alle andere Kenntnis entbehrlich erschiene. Nicht sowohl in der Erkenntnis dieses Irrtums als mehr um sich irgend Luft zu verschaffen, spitzte er rasch eine schlanke Reißkohle scharf zu, stemmte einen Blendrahmen, mit frischem Papier bezogen, gegen die Knie und begann aufmerksam und aufgeregt den Fechter zu zeichnen. Obschon er nicht die mindeste Kenntnis von dem besaß, was unter der Haut wirkte und sich darstellte, und kaum eine zufällige Ahnung vom Knochengerüste hatte, ging es doch in der ersten Anspannung und Hitze ganz gut vonstatten, und er freute sich sogar, die Dinge zu nehmen, wie er sie unmittelbar sah, und mit natürlichem Scharfblicke sich zurechtzufinden.

Er zeichnete anhaltend mehrere Stunden und brachte nicht eine elegante Studie, sondern eine Arbeit zustande, welche ihn unvermuteterweise wenigstens nicht abschreckte. Aber je länger er zeichnete, desto wunderlicher erging es ihm; die Phantasie eilte, indem die Kohle in der Hand rüstig arbeitete, mächtig voraus und sah sich bereits weit vorgeschritten in der Behandlung und Verwendung der menschlichen Gestalt. Und wie in der fieberischen Aufregung die Glieder des Fechters sich verhältnismäßig leicht gestalteten und die kraftvollen Muskelwölbungen sich reihten, deren Namen und Bedeutung er nicht kannte, flog die Phantasie in die Vergangenheit zurück, und Heinrich erinnerte sich plötzlich, wie frühere und früheste Versuche in Figuren, in der Heimat aus Scherz oder Laune unternommen, ihn eigentlich nicht ein Jota mehr Mühe gekostet als andere Dinge; er malte sich die Erinnerung, die Gegenstände und Anlässe auf das genaueste aus und glaubte deutlich zu sehen, wie nur der Mangel an Pflege und Fortsetzung schuld sei, warum er nicht in diesem Gebiete ebenso viel und vielleicht Besseres leistete als in der erwählten Landschaft. Mit einem Worte, mit einem seltsamen Frösteln überzeugte er sich, aufspringend und die Tafel von sich schleudernd, daß seine geliebte und begeisterte Wahl, der er vom vierzehnten Jahre an bis heute gelebt, nicht viel mehr als ein Zufall, eine durch zufällige Umstände bedingte Ideenverbindung gewesen sei.

Jünglinge von zwei- oder dreiundzwanzig Jahren wissen noch nicht, daß jedes Leben seinen eigenen Mann macht, und haben noch keine Trostgründe, für Jahre, welche sie verloren wähnen. Wenn sie schon bei acht Jahre zurückzählen können, die sie über einer Lebenstätigkeit zugebracht, so befällt sie eine Art heiligen Grauens, selbst wenn diese Jahre wohl angewandt sind. Sie vertändeln, verträumen die Stunden und Tage, aber sie hegen einen tiefen Respekt vor den Jahren, tun sich auf ihre Jugend so viel als möglich zugut und stecken sich unaufhörlich feste Ziele, welche sie in so oder so viel Jahren erreichen wollen.

Umso verdutzter und bitterlicher lächelte Heinrich jetzt vor sich hin. Er ergriff in der Verwirrung seine alte Flöte, tat einige seiner naturwüchsigen selbsterfundenen Läufe darauf und warf sie wieder weg. Der Ärmste ahnte aber nicht einmal, was die verklungenen Töne gesungen hatten und daß, wenn zufällig ein Klavier in seinem elterlichen Hause gestanden und er etwa als Kind einen Musikkundigen in der Nähe gehabt hätte, es sich vielleicht jetzt gar nicht einmal um Bäume oder Menschen handeln, sondern er irgendwo als eingeübter Musikant oder gar als hoffnungsvoller Komponist existieren würde, der auf seinen selbstgewählten Beruf schwüre, ohne auf einem festeren Grunde zu stehen, kurz, daß ihn der Zufall auf hundert andere vermeintliche Bestimmungen hätte führen können.

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