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Da ich in dem Hause meines Liebchens zu Gaste war, so erwachte ich am Morgen sehr früh, noch eh eine Seele sich regte. Ich machte das Fenster auf und sah lange auf den See hinaus, dessen waldige Uferhöhen vom Morgenrote beglänzt waren, indessen der späte Mond noch am Himmel stand und sich ziemlich kräftig im dunklen Wasser spiegelte. Ich sah ihn nach und nach erbleichen vor der Sonne, welche nun die gelben Kronen der Bäume vergoldete und einen zarten Schimmer über den erblauenden See warf. Zugleich aber begann die Luft sich wieder zu verhüllen, ein leiser Nebel zog sich erst wie ein Silberschleier um alle Gegenstände, und indem er ein glänzendes Bild um das andere auslöschte, daß sich rings ein Reigen von aufleuchtendem Scheiden und Verschwinden bewegte, wurde der Nebel plötzlich so dicht, daß ich nur noch das Gärtchen vor mir sehen konnte, und zuletzt verhüllte er auch dieses und drang feucht an das Fenster. Ich schloß dieses zu, trat aus der Kammer und fand die alte Katherine in der Küche an dem traulichen hellen Feuer.
Ich plauderte lange mit ihr; sie ergoß sich in zärtlichen Klagen über Annas bedenklichen Zustand, berichtete mir, seit wann derselbe begonnen, ohne daß ich jedoch über seine eigentliche Beschaffenheit klar wurde, da sie sich mancher dunkeln und geheimnisvollen Anspielung bediente. Dann begann sie mit rührender, aber ganz trefflicher Beredsamkeit das Lob Annas zu verkünden und ihr bisheriges Leben zu beschauen bis in die Kinderjahre zurück, und ich sah deutlich vor mir das dreijährige Engelchen umherspringen, in genau beschriebener Kleidung, aber freilich auch ein frühes und leidenvolles Krankenlager, auf welches das kleine Wesen dann jahrelang gelegt wurde, so daß ich nun ein schlohweißes, länglichgestrecktes Leichnamchen erblickte, mit geduldigem, klugem und immer lächelndem Angesicht. Doch das kranke Reis erholte sich, der wunderbare Ausdruck der durch das Leiden hervorgebrachten frühen Weisheit verschwand wieder in seine unbekannte Heimat, und ein rosig unbefangenes Kind blühte, als ob nichts vorgefallen wäre, der Zeit entgegen, wo ich es zuerst sah.
Endlich zeigte sich der Schulmeister, welcher, da seine Tochter nun des Morgens länger im Bette bleiben mußte und länger schlief als früher, sich des frühen Aufstehens auch nicht mehr freute und in seiner Zeiteinteilung ganz nach derjenigen seines kranken Kindes richtete. Nach einer guten Weile erschien auch Anna und nahm ihr besonders vorgeschriebenes Frühstück, indessen wir das gewöhnliche verzehrten. Es verbreitete sich dadurch eine gewisse Wehmut über den Tisch, welche nach und nach in eine ernste Beschaulichkeit überging, als wir drei sitzen blieben und uns unterhielten. Der Schulmeister nahm ein Buch, die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis, und las einige Seiten daraus vor, indessen Anna ihre Stickerei vornahm. Dann hob ihr Vater über das Gelesene ein Gespräch an und suchte mich an demselben zu beteiligen und nach der herkömmlichen Weise meine Urteilskraft zu prüfen, zu mildern und zu gemeinsamer Erbauung auf einen belehrenden Vereinigungspunkt zu lenken. Aber ich hatte durch den letzten Sommer die Lust an solchen Erörterungen fast gänzlich verloren, mein Blick war auf sinnliche Erscheinung und Gestalt gerichtet, und selbst die rätselhaften Betrachtungen über die Erfahrungen, die ich mit Römer anstellte, gingen in einem durchaus weltlichen Sinne vor sich. Außerdem fühlte ich, daß ich nun die größte Rücksicht auf Anna nehmen mußte, und als ich bemerkte, daß sie sogar froh schien, mich hier eingefangen und einem angehenden Bekehrungswerke preisgegeben zu sehen, hütete ich mich wohl, einen Widerspruch zu äußern, gab denjenigen Stellen, welche eine innere Wahrheit enthielten oder tief, schön und kraftvoll ausgedrückt waren, meinen aufrichtigen Beifall, oder überließ mich einer reizenden Langweile, die schönen Farben an Annas Seidenknäulchen beschauend.
Sie hatte sich wohl ausgeruht und schien ziemlich munter zu sein, so daß kein großer Unterschied gegen ihr früheres Wesen während des Tages bemerklich war. Der angenehme Aufenthalt in ihrem Hause diente daher nur dazu, meinen Leichtsinn und meine Sorglosigkeit zu bestärken und eine Bewegungslust in mir anzufachen, die mich hinaustrieb. Außerdem mußte ich ja am Tage meine Verwandten im Dorfe besuchen, wenn ich den kasuistischen Ausweg, Judith zu hintergehen, anwenden wollte.
Als ich daher in den dichten Nebel hinausging, war ich, noch mehr aufgeweckt durch den frischen Herbstgeruch, sehr guter Dinge und mußte lachen über meine seltsame List, zumal das verborgene Wandeln in der weiß verhüllten Natur meinen Gang einem Schleichwege noch vollständig ähnlich machte. Ich ging über den Berg und gelangte bald zum Dorfe; doch verfehlte ich des Nebels wegen den rechten Weg und sah mich bald in ein Netz von schmalen Garten- und Wiesenpfaden versetzt, welche bald zu einem entlegenen Hause, bald wieder gänzlich zum Dorfe hinausführten. Ich konnte nicht vier Schritte vor mir sehen, Leute hörte ich immer, ohne sie zu erblicken, aber zufälligerweise traf ich niemanden auf meinen Wegen. Da kam ich zu einem offen stehenden Pförtchen und entschloß mich, hindurchzugehen und alle Gehöfte gerade zu durchkreuzen, um endlich wieder auf die Hauptstraße zu kommen. Ich sah mich in einen prächtigen großen Baumgarten versetzt, dessen Bäume alle voll der schönsten reifen Früchte hingen. Man sah aber immer nur einen Baum ganz deutlich, die nächsten standen schon halb verschleiert im Kreise umher, und dahinter schloß sich wieder die weiße Wand des Nebels. Es war daher, als ob man in einen weiten Tempel getreten, dessen Säulen von Räucherwolken und Seidengeweben umhüllt und von dessen Decke grüne Kränze mit goldenen und rubinfarbigen Früchten herabhingen. Plötzlich sah ich Judith mir entgegenkommen, welche einen großen Korb mit Äpfeln gefüllt in beiden Händen vor sich her trug, daß von der kräftigen Last die Korbweiden leise knarrten. Das Einsammeln des Obstes war fast die einzige Arbeit, der sie sich mit Liebe und Eifer hingab. Sie hatte ihr Kleid des nassen Grases wegen etwas aufgeschürzt und zeigte die schönsten Füße; ihr Haar war von Feuchte schwer und das Gesicht von der Herbstluft mit reinem Purpur gerötet. So kam sie gerade auf mich zu, auf ihren Korb blickend, sah mich plötzlich, stellte erst erbleichend den Korb zur Erde und eilte dann mit den Zeichen der herzlichsten und aufrichtigsten Freude auf mich zu, fiel mir um den Hals und drückte mir ein Dutzend voll und rein ausgeprägte Küsse auf die Lippen. Ich hatte Mühe, dies nicht zu erwidern und rang mich endlich von ihrer Brust los.
»Sieh, sieh! du gescheites Bürschchen!« sagte sie froh lachend, »du bist heute gekommen und machst dir gleich den Nebel zunutze, mich noch vor Nacht heimzusuchen; das hätte ich dir nicht einmal zugetraut!« – »Nein«, erwiderte ich, zur Erde blickend, »ich bin gestern gekommen und wohne beim Schulmeister, weil Anna krank ist. Unter diesen Umständen kann ich jedenfalls nicht zu dir kommen!« Judith schwieg eine Weile, die Arme übereinandergeschlagen, und sah mich klug und durchdringend an, daß mein Blick in die Höhe gezogen und auf den ihrigen gerichtet wurde.
»Das wäre allerdings noch gescheiter als wie ich es meinte«, sagte sie endlich, »wenn es dir nur etwas helfen würde! Doch weil unser armes Schätzchen krank ist, so will ich billig sein und unsere Übereinkunft abändern. Der Nebel wird sich wenigstens zwei Wochen lang täglich mehrere Stunden auf dieselbe Weise zeigen. Wenn du jeden Tag während desselben zu mir kommst, so will ich dich für die Nacht deiner Pflicht entbinden und dir zugleich versprechen, dich nie zu liebkosen und dich selbst zurechtzuweisen, wenn du es tun wolltest; nur mußt du mir jedesmal auf ein und dieselbe Frage ein einziges Wörtchen antworten, ohne zu lügen!« »Welche Frage?« sagte ich. »Das wirst du schon sehen!« erwiderte sie; »komm, ich habe schöne Äpfel!«
Sie ging mir voran zu einem Baume, dessen Äste und Blätter edler gebaut schienen als die der übrigen, stieg auf einer Leiter einige Sprossen hinan und brach einige schön geformte und gefärbte Äpfel. Einen derselben, der noch im feuchten Dufte glänzte, biß sie mit ihren weißen Zähnen entzwei, gab mir die abgebissene Hälfte und fing an die andere zu essen. Ich aß die meinige ebenfalls und rasch; sie war von der seltensten Frische und Gewürzigkeit, und ich konnte kaum erwarten, bis sie es mit dem zweiten Apfel ebenso machte. Als wir drei Früchte so gegessen, war mein Mund so süß erfrischt, daß ich mich zwingen mußte, Judith nicht zu küssen und die Süße von ihrem Munde noch dazu zu nehmen. Sie sah es, lachte und sprach: »Nun sage: bin ich dir lieb?« Sie blickte mich dabei fest an, und ich konnte, obgleich ich jetzt lebhaft und bestimmt an Anna dachte, nicht anders und sagte Ja! Zufrieden sagte Judith: »Dies sollst du mir jeden Tag sagen!«
Hierauf fing sie an zu plaudern und sagte: »Weißt du eigentlich, wie es mit dem guten Kinde steht?« Als ich erwiderte, daß ich allerdings nicht klug daraus würde, fuhr sie fort: »Man sagt, daß das arme Mädchen seit einiger Zeit merkwürdige Träume und Ahnungen habe, daß sie schon ein paar Dinge vorausgesagt, die wirklich eingetroffen, daß manchmal im Traume wie im Wachen sie plötzlich eine Art Vorstellung und Ahnung von dem bekomme, was entfernte Personen, die ihr lieb sind, jetzt tun oder lassen oder wie sie sich befinden, daß sie jetzt ganz fromm sei und endlich auf der Brust leide! Ich glaube dergleichen Sachen nicht, aber krank ist sie gewiß, und ich wünsche ihr aufrichtig alles Gute, denn sie ist mir auch lieb um deinetwillen. – Aber alle müssen leiden, was ihnen bestimmt ist!« setzte sie nachdenklich hinzu.
Während ich ungläubig den Kopf schüttelte, durchfuhr mich doch ein leichter Schauer, und ein seltsamer Schleier der Fremdartigkeit legte sich um Annas Gestalt, welche meinem inneren Auge vorschwebte. Und fast in demselben Augenblicke war es mir auch, als ob sie mich jetzt sehen müsse, wie ich vertraulich bei der Judith stand; ich erschrak darüber und sah mich um. Der Nebel löste sich auf, schon sah man durch seine silbernen Flocken den blauen Himmel, einzelne Sonnenstrahlen fielen schimmernd auf die feuchten Zweige und beglänzten die Tropfen, welche von denselben fielen; schon sah man den blauen Schatten eines Mannes vorübergehen und endlich drang die Klarheit überall durch, umgab uns und warf, wie wir waren, unser beider Schlagschatten auf den matt besonnten Grasboden.
Ich eilte davon und hörte in dem Hause meines Oheims die Bestätigung dessen, was mir Judith mitgeteilt; wohlaufgehoben in dem lebendigen Hause und beruhigt durch das vertrauliche Gespräch, lächelte ich wieder ungläubig und war froh, in meinen jungen Vettern Genossen zu finden, welche sich auch nicht viel aus dergleichen machten. Doch blieb immer eine gemischte Empfindung in mir zurück, da schon die Neigung zu solchen Erscheinungen, der Anspruch auf dieselben mir beinahe eine Anmaßung zu sein schien, die ich der guten Anna zwar keineswegs, aber doch einem mir fremden und nicht willkommenen Wesen zurechnen konnte, in welchem ich sie jetzt befangen sah. So trat ich ihr, als ich abends zurückkehrte, mit einer gewissen Scheu entgegen, welche jedoch durch ihre liebliche Gegenwart bald wieder zerstreut wurde, und als sie nun selbst, in Gegenwart ihres Vaters, leise anfing von einem Traume zu sprechen, den sie vor einigen Tagen geträumt, und ich daher sah, daß sie willens sei, mich in das vermeintliche Geheimnis zu ziehen, glaubte ich unverweilt an die Sache, ehrte sie und fand sie nur umso liebenswürdiger, je mehr ich vorhin daran gezweifelt.
Als ich mich allein befand, dachte ich mehr darüber nach und erinnerte mich, von solchen Berichten gelesen zu haben, wo, ohne etwas Wunderbares und Übernatürliches anzunehmen, auf noch unerforschte Gebiete und Fähigkeiten der Natur selbst hingewiesen wurde, so wie ich überhaupt bei reiflicher Betrachtung noch manches verborgene Band und Gesetz möglich halten mußte, wenn ich meine größte Möglichkeit, den lieben Gott, nicht zu sehr bloßstellen und in eine öde Einsamkeit bannen wollte.
Ich lag im Bette, als mir diese Gedanken klar wurden und ich mit denselben der Unschuld und Redlichkeit Annas gedachte, als welche doch auch zu berücksichtigen wären; und nicht so bald befiel mich diese Vorstellung, so streckte ich mich anständig aus, kreuzte die Hände zierlich über der Brust und nahm so eine höchst gewählte und ideale Stellung ein, um mit Ehren zu bestehen, wenn Annas Geisterauge mich etwa unbewußt erblicken sollte. Allein das Einschlafen brachte mich bald aus dieser ungewohnten Lage und ich fand mich am Morgen zu meinem Verdrusse in der behaglichsten und trivialsten Figur von der Welt.
Ich raffte mich hastig zusammen, und wie man des Morgens Gesicht und Hände wäscht, so wusch ich gewissermaßen Gesicht und Hände meiner Seele und nahm ein zusammengefaßtes und sorgfältiges Wesen an, suchte meine Gedanken zu beherrschen und in jedem Augenblicke klar und rein zu sein. So erschien ich vor Anna, wo mir ein solch gereinigtes und festtägliches Dasein leicht wurde, indem in ihrer Gegenwart eigentlich kein anderes möglich war. Der Morgen nahm wieder seinen Verlauf wie gestern, der Nebel stand dicht vor den Fenstern und schien mich hinauszurufen. Wenn mich jetzt eine Unruhe befiel, Judith aufzusuchen, so war dies weniger eine maßlose Unbeständigkeit und Schwäche als eine gutmütige Dankbarkeit, die ich fühlte und die mich drängte, der reizenden Frau für ihre Neigung freundlich zu sein; denn nach der unvorbereiteten und unverstellten Freude, in welcher ich sie gestern überraschte, durfte ich mir nun wirklich einbilden, von ihr herzlich geliebt zu sein. Und ich glaubte ihr unbedenklich sagen zu können, daß sie mir lieb sei, indem ich sonderbarerweise dadurch gar keinen Abbruch meiner Gefühle für Anna wahrnahm und es mir nicht bewußt war, daß ich mit dieser Versicherung fast nur das Verlangen aussprach, ihr recht heftig um den Hals zu fallen. Zudem betrachtete ich meinen Besuch als eine gute Gelegenheit, mich zu beherrschen und in der gefährlichsten Umgebung doch immer so zu sein, daß mich ein verräterischer Traum zeigen durfte.
Unter solchen Sophismen machte ich mich auf, nicht ohne einen ängstlichen Blick auf Anna zu werfen, an welcher ich aber keinen Schatten eines Zweifels wahrnahm. Draußen zögerte ich wieder, fand aber den Weg unbeirrt zu Judiths Garten. Sie selbst mußte ich erst eine Weile suchen, weil sie, mich gleich am Eingange sehend, sich verbarg, in den Nebelwolken hin- und herschlüpfte und dadurch selbst irre wurde, so daß sie zuletzt still stand und mir leise rief, bis ich sie fand. Wir machten beide unwillkürlich eine Bewegung, uns in den Arm zu fallen, hielten uns aber zurück und gaben uns nur die Hand. Sie sammelte immer noch Obst ein, aber nur die edleren Arten, welche an kleinen Bäumen wuchsen; das übrige verkaufte sie und ließ es von den Käufern selbst vom Baume nehmen. Ich half ihr einen Korb voll brechen und stieg auf einige Bäume, wo sie nicht hingelangen konnte. Aus Mutwillen stieg ich auch zuoberst auf einen hohen Apfelbaum, wo sie mich des Nebels wegen nicht mehr sehen konnte. Sie fragte mich unten, ob ich sie lieb hätte, und ich antwortete gleichsam aus den Wolken mein Ja. Da rief sie schmeichelnd: »Ach, das ist ein schönes Lied, das hör ich gern! Komm herunter, du junger Vogel, der so artig singt!«
So brachten wir alle Tage eine Stunde zu, ehe ich zu meinem Oheim ging; wir sprachen dabei über dies und jenes, ich erzählte viel von Anna und sie mußte alles anhören und tat es mit großer Geduld, nur damit ich dabliebe. Denn während ich in Anna den besseren und geistigeren Teil meiner selbst liebte, suchte Judith wieder etwas Edleres in meiner Jugend als ihr die Welt bisher geboten; und doch sah sie wohl, daß sie nur meine sinnliche Hälfte anlockte, und wenn sie auch ahnte, daß mein Herz mehr dabei war als ich selbst wußte, so hütete sie sich wohl, es merken zu lassen, und ließ mich ihre tägliche Frage in dem guten Glauben beantworten, daß es nicht so viel auf sich hätte.
Oft drang ich auch in sie, mir von ihrem Leben zu erzählen und warum sie so einsam sei. Sie tat es, und ich hörte ihr begierig zu. Ihren verstorbenen Mann hatte sie als junges Mädchen geheiratet, weil er schön und kraftvoll aussah. Aber es zeigte sich, daß er dumm, kleinlich und klatschhaft war und ein lächerlicher Topfgucker, welche Eigenschaften sich alle hinter der schweigsamen Blödigkeit des Freiers versteckt hatten. Sie sagte unbefangen, sein Tod sei ein großes Glück gewesen. Nachher bewarben sich nur solche Männer um sie, welche ihr kleines Vermögen im Auge hatten und sich schnell anderswohin richteten, wenn sie ein paar hundert Gulden mehr verspürten. Sie sah, wie blühende, kluge und handliche Männer ganz windschiefe und blasse Weibchen heirateten mit spitzigen Nasen und vielem Gelde, weswegen sie sich über alle lustig machte und sie schnöde behandelte. »Aber ich muß selbst Buße tun«, fügte sie hinzu, »warum hab ich einen schönen Esel genommen!«
Nach acht Tagen kehrte ich zur Stadt zurück und nahm meine Arbeit bei Römer wieder auf. Da es mit dem Zeichnen im Freien vorbei und auch nichts weiter zu kopieren war, leitete mich Römer an, zu versuchen, ob ich aus dem Gewonnenen ein Ganzes und Selbständiges herstellen könne. Ich mußte unter meinen Studien ein Motiv suchen und selbiges zu einem kleinen Bilde ausdehnen und abgrenzen. »Da wir hier ohne alle Mittel sind«, sagte er, »außer meiner eigenen Mappe, welche Sie mir diesen Winter hindurch in die Ihrige hinüberpinseln würden, wenn ich es zugäbe, so ist es am besten, wir machen es so: Sie sind zwar noch zu jung dazu und werden noch ein oder zweimal mit neuen Erfahrungen von vorn anfangen müssen, ehe Sie etwas Dauerhaftes machen. Indessen wollen wir immerhin versuchen, ein Viereck so auszufüllen, daß Sie es im Notfall verkaufen können!«
Mit der ersten Probe ging es ganz ordentlich; ebenso mit der zweiten und dritten. Die frische Lust, die Einfachheit des Gegenstandes und Römers sichere Erfahrung ließen die Gründe sich wie von selbst aneinanderfügen, das Licht wurde ohne Schwierigkeit verteilt und jede Partie in Licht und Schatten vernünftig und klar ausgefüllt, so daß keine nichtssagenden und verworrenen Stellen übrig blieben. Großes Vergnügen gewährte es mir, wenn ich einen oder einige Gegenstände, zu denen die vorliegenden Studien im Licht gehalten waren, in Schatten setzen mußte oder umgekehrt, wo dann durch eigenes Nachdenken und Berechnung ein Neues und doch einzig Notwendiges bezweckt wurde, nach den Bedingungen der Lokalfarbe, der Tageszeit, des blauen oder bewölkten Himmels und der benachbarten Gegenstände, welche mehr oder weniger Licht und Farbe zurückwerfen mußten. Gelang es mir, den wahrscheinlichen Ton zu treffen, der unter ähnlichen Verhältnissen über der Natur selbst geschwebt hätte – was man gleich sah, indem ein wahrer Ton immer einen ganz eigentümlichen Zauber übt –, so beschlich mich ein pantheistisch stolzes Gefühl, in welchem mir meine Erfahrung und das Weben der Natur eins zu sein schienen. Dazu war es höchst vergnüglich, in Gedanken um einen schönen, gemalten Baum herumzugehen und seine andere Seite zu betrachten, um zu ermessen, wieviel Licht sie wohl auf einen benachbarten Baum werfen könne. Ich sah dann allerlei Geheimnisse um Äste säuseln, die nicht auf dem Papiere waren, und guckte auf diesen Wanderungen auch nebenaus in verborgene Winkel und Gründe der Landschaft. Dies war besonders im Winter sehr angenehm, wenn die Schneeflocken vor dem Fenster tanzten.
Allein das Vergnügen wurde bald schwieriger, als umfang- und inhaltsreichere Sachen unternommen wurden und, durch diese Tätigkeit hervorgerufen, trotz Goethe, Natur und gutem Lehrer, meine Erfindungslust wieder auftauchte und überwucherte. Das gewichtige Wort Komponieren summte mir mit prahlerischem Klang in den Ohren und ich ließ, als ich nun förmliche Skizzen entwarf, die zur Ausführung bestimmt waren, meinem Hange den Zügel schießen. Überall suchte ich poetische Winkel und Plätzchen, geistreiche Beziehungen und Bedeutungen anzubringen, welche mit der erforderlichen Ruhe und Einfachheit in Widerspruch gerieten. Römer ließ mich eine solche Skizze unbeschnitten ausführen und das Bild nach allen Erfahrungen des Naturstudiums und der Technik fertig machen, und als das Machwerk mir selbst nicht behagen wollte, ohne daß ich wußte warum, zeigte er mir triumphierend, daß die technischen Mittel und die Naturwahrheiten im einzelnen der anspruchsvollen und gesuchten Komposition wegen keine Wirkung tun, zu keiner Gesamtwahrheit werden könnten und um meine hervorstechende Zeichnung hingen wie bunte Flitter um ein Gerippe, ja daß sogar im einzelnen keine frische Wahrheit möglich sei, auch bei dem besten Willen nicht, weil vor der überwiegenden Erfindung, vor dem anmaßenden Spiritualismus (wie er sich ausdrückte), die Naturfrische sich sogleich sozusagen aus der Pinselspitze in den Pinselstiel spröde zurückziehe.
»Es gibt allerdings«, sagte Römer, »eine Richtung, deren Hauptgewicht auf der Erfindung, auf Kosten der unmittelbaren Wahrheit, beruht. Solche Bilder sehen aber eher wie geschriebene Gedichte als wie wirkliche Bilder aus, wie es ja auch Gedichte gibt, welche mehr den Eindruck einer Malerei machen möchten als eines geistig tönenden Wortes. Wenn Sie in Rom wären und die Arbeiten des alten Koch oder Reinhards sähen, so würden Sie, Ihrer deutlichen Neigung nach, sich entzückt den alten Käuzen anschließen; es ist aber gut, daß Sie nicht dort sind, denn dies ist eine gefährliche Sache für einen jungen Künstler. Es gehört dazu eine durchaus gediegene, fast wissenschaftliche Bildung, eine strenge, sichere und feine Zeichnung, welche noch mehr auf dem Studium der menschlichen Gestalt als auf demjenigen der Bäume und Sträucher beruht, mit einem Wort: ein großer Stil, welcher nur in dem Werte einer ganzen reichen Erfahrung bestehen kann, um den Glanz gemeiner Naturwahrheit vergessen zu lassen; und mit allem diesem ist man erst zu einer ewigen Sonderlingsstellung und Armut verdammt, und das mit Recht, denn die ganze Art ist unberechtigt und töricht!«
Ich fügte mich diesen Reden aber nicht, weil ich ihm schon abgemerkt halte, daß das Erfinden und ein tieferer Gehalt nicht seine Stärke waren; denn schon mehr als einmal hatte er, meine Anordnungen korrigierend, Lieblingsstellen in Bergzügen oder Waldgründen, die ich recht bedeutsam glaubte, gar nicht einmal gesehen, indem er sie mit dem markigen Bleistifte schonungslos überschraffierte und zu einem kräftigen, aber nichtssagenden Grunde ausglich. Wenn sie auch störten, so hätte er meiner Meinung nach wenigstens sie bemerken, mich verstehen und etwas darüber sagen müssen.
Ich wagte daher zu widersprechen, schob die Schuld auf die Wasserfarben, in welchen keine Kraft und Freiheit möglich sei, und sprach meine Sehnsucht aus nach guter Leinwand und Ölfarben, wo alles schon von selbst eine respektable Gestalt und Haltung gewinnen würde. Hiemit griff ich aber meinen Lehrer in seiner Existenz an, indem er glaubte und behauptete, daß die ganze und volle Künstlerschaft sich hinlänglich und vorzüglich nur durch etwas weißes Papier und einige englische Farbentäfelchen betätigen und zeigen könne. Er hatte seine Bahn abgeschlossen und gedachte nichts anderes mehr zu leisten als er schon tat; daher beleidigte ich ihn, wie ich nun zu erkennen gab, daß ich das durch ihn Gelernte nur als eine Staffel betrachte und bereits mich darüber hinweg zu etwas Höherem berufen fühle. Er wurde umso empfindlicher, als ich einen lebhaften und wiederholten Streit über diesen Gegenstand hartnäckig aushielt, von meinen Hoffnungen nicht abließ und seine Aussprüche, wenn sie ins Allgemeine gingen, nicht mehr unbedingt annahm, vielmehr ungescheut bestritt. Hieran war hauptsächlich der Umstand schuld, daß seine sonstigen Gespräche und Mitteilungen einerseits immer deutlicher, andererseits aber immer sonderbarer und auffallender geworden und meine Achtung vor seiner Urteilskraft geschwächt hatten. Manches fiel zusammen mit den dunklen Gerüchten, die über ihn ergingen, so daß ich eine Zeitlang in der peinlichsten Spannung mich befand, aus einem geehrten und zuverlässigen Lehrer die seltsamste und rätselhafteste Gestalt sich herausschälen zu sehen.
Schon seit einiger Zeit wurden seine Äußerungen über Menschen und Verhältnisse immer härter und zugleich bestimmter, indem sie sich ausschließlicher auf politische Dinge bezogen. Er ging alle Abende in den Lesezirkel unserer Stadt, las dort die französischen und englischen Blätter und pflegte sich vieles zu notieren, so wie er auch in seiner Wohnung allerlei geheimnisvolle Papierschnitzel handhabte und sich oft über wichtigem Schreiben betreffen ließ. Vorzüglich machte er sich oft mit dem Journal des Débats zu schaffen. Unsere Regierung nannte er einen Trupp ungeschickter Krähwinkler, den Großen Rat aber ein verächtliches Gesindel und unsere heimischen Zustände im ganzen dummes Zeug. Darüber ward ich stutzig und hielt mit meinen Zustimmungen zurück oder verteidigte unsere Verhältnisse und hielt ihn für einen malkontenten Menschen, welchen der lange Aufenthalt in fremden großen Städten mit Verachtung der engen Heimat gefüllt habe. Er sprach oft von Louis Philipp und tadelte dessen Maßregeln und Schritte, wie einer, der eine geheime Vorschrift nicht pünktlich befolgt sieht. Einst kam er ganz unwirsch nach Hause und beklagte sich über eine Rede, welche der Minister Thiers gehalten. »Mit diesem vertrackten kleinen Burschen ist nichts anzufangen!« rief er, indem er ein Zeitungsexzerpt zerknitterte, »ich hätte ihm diese eigenmächtige Naseweisheit gar nicht angesehen! Ich glaubte in ihm den gelehrigsten meiner Schüler zu haben.« – »Zeichnet denn der Herr Thiers auch Landschaften?« fragte ich und Römer erwiderte, indem er sich bedeutungsvoll die Hände rieb: »Das eben nicht! lassen wir das!«
Doch bald darauf deutete er mir an, daß alle Fäden der europäischen Politik in seiner Hand zusammenliefen und daß ein Tag, eine Stunde des Nachlasses in seiner angestrengten Geistesarbeit, die seinen Körper aufzureiben drohe, sich alsobald durch eine allgemeine Verwirrung der öffentlichen Angelegenheiten bemerklich mache, daß eine konfuse und ängstliche Nummer des Journal des Débats jedesmal bedeute, daß er unpäßlich oder abgespannt und sein Rat ausgeblieben sei. Ich sah meinen Lehrer ernsthaft an, er machte ein unbefangenes und ernsthaftes Gesicht, die gebogene Nase stand wie immer mitten darin, darunter der wohlgepflegte Schnurrbart, und über die Augen flog auch nicht das leiseste ungewisse Zucken.
Mein Erstaunen gewann nicht Zeit sich aufzuhellen, indem ich ferner erfuhr, daß Römer, während er der verborgene Mittelpunkt aller Weltregierung, zugleich das Opfer unerhörter Tyranneien und Mißhandlungen war. Er, der vor aller Augen auf dem mächtigsten Throne Europas hätte sitzen sollen von mehr als eines Rechtes wegen, wurde durch einen geheimnisvollen Zwang gleich einem gebannten Dämon in Verborgenheit und Armut gehalten, daß er kein Glied ohne den Willen seiner Tyrannen rühren konnte, während sie ihm täglich gerade soviel von seinem Genius abzapften, als sie zu ihrer kleinlichen Weltbesorgung gebrauchten. Freilich, wäre er zu seinem Recht und zu seiner Freiheit gekommen, so würde im selben Augenblicke die Mäusewirtschaft aufgehört haben und ein freies, lichtes und glückliches Zeitalter angebrochen sein. Allein die winzigen Dosen seines Geistes, welche nun so tropfenweise verwandt würden, sammelten sich doch allmählich zu einem allmächtigen Meere, indem es ihre Art sei, daß keine davon wieder vergehen oder aufgehoben werden könne, und in jenem allbezwingenden Meere werde sein Wesen zu seinem Rechte kommen und die Welt erlösen, daher er gerne seine körperliche Person wolle verschmachten lassen.
»Hören Sie diesen verfluchten Hahn krähen?« rief er, »dies ist nur ein Mittel von tausenden, die sie zu meiner Qual anwenden; sie wissen, daß der Hahnenschrei mein ganzes Nervensystem erschüttert und mich zu jedem Nachdenken untauglich macht; deshalb hält man überall Hähne in meiner Nähe und läßt sie spielen, sobald man die verlangten Depeschen von mir hat, damit das Räderwerk meines Geistes für den übrigen Tag still stehe! Glauben Sie wohl, daß dies Haus hier ganz mit verborgenen Röhren durchzogen ist, daß man jedes Wort hört, das wir sprechen, und alles sieht, was wir tun?«
Ich sah mich im Zimmer um und versuchte einige Einwendungen zu machen, welche jedoch durch seine bestimmten, geheimnisvollen und wichtigen Blicke und Worte unterdrückt wurden. Solange ich mit ihm sprach, befand ich mich in der wunderlichen Stimmung, in welcher ein Knabe halbgläubig das Märchen eines Erwachsenen anhört, welcher ihm lieb ist und seiner Achtung genießt; war ich aber allein, so mußte ich mir gestehen, daß ich das Beste, was ich bisher gelernt, aus der Hand des Wahnsinns empfangen habe. Dieser Gedanke empörte mich und ich begriff nicht, wie jemand wahnsinnig sein könne. Eine gewisse Unbarmherzigkeit erfüllte mich, ich nahm mir vor, mit einem klaren Worte die ganze unsinnige Wolke gewiß zerstreuen zu wollen; stand ich aber dem Wahnsinne gegenüber, so mußte ich seine Stärke und Undurchdringlichkeit sogleich fühlen und froh sein, wenn ich Worte fand, welche, auf die verirrten Gedanken eingehend, dem Leidenden durch Mitteilung einige Erleichterung gewähren konnten. Denn daß er wirklich unglücklich und leidend war und alle eingebildeten Qualen wirklich fühlte, konnte ich nicht verkennen. Unter seinen Einbildungen war eine einzige, welche ihm ein Ersatz für den übrigen Schaden zu sein schien und zugleich so komisch, daß sie mich zum Gelächter reizte. Er lebte nämlich der Überzeugung, daß er bei allen hohen diplomatischen Verheiratungen eine Art Recht der ersten Nacht genösse, teils um einer jeden europäischen Verbindung durch seine persönliche Einwirkung die rechte Weihe zu geben, teils um ihn durch solche Annehmlichkeit einzuschläfern und ihn abzuhalten, eine eigene hohe Heirat einzugehen, um seine Selbständigkeit zu verhindern, da, wie er behauptete, durch die feste Verbindung des Mannes mit dem Weibe jener erst seine volle Freiheit und Bedeutung erhielte. Wenn daher in den Zeitungen eine wichtige politische Heirat gemeldet wurde, so machte er sich für eine kurze Zeit unsichtbar und überließ sich nachher noch lange einer geheimnisvollen süßen Träumerei, deren Schleier er mich nur mit verhüllten Worten durchblicken ließ. Ich mußte mir alsdann die Möglichkeit vorzustellen suchen, wie er an einem Tage an das entfernteste Ende Europas und wieder zurückgelangen konnte.
Jedoch fiel aus dem Unsinne manch vernünftiges Gespräch, und die Erörterungen über sein Unglück und die dasselbe veranlassenden Menschen waren oft lehrreich. Einst sagte er: »Ich kann mich ganz genau des Wendepunktes entsinnen, wo mein Geschick sich verfinsterte. Ich war in Rom und lag auf diesem alten Weltplatze meinen tiefen Studien ob. Nebenbei betrieb ich die Landschaftsmalerei, teils um durch sie nach und nach das Terrain von ganz Europa auf die genaueste Weise kennen zu lernen, teils um, wie ich selbst für nötig fand, das Geheimnis meiner Person zu verhüllen. Die diplomatische Welt hatte diese Maske akzeptiert und nahm mich unter derselben bei sich auf. Wenn von meinen Arbeiten gesprochen wurde, so war dies nur eine symbolische Blumensprache, die jeder Eingeweihte verstand. Ich glaubte mich auf dem besten Wege, zu meiner offenen und freien Tatkraft zu gelangen, als ich einen hochgestellten Mann unversehens gegen mich einnahm; es war der ... sche Gesandte, welcher zum Zeitvertreibe Kunstnotizen in ein auswärtiges weitverbreitetes Blatt schrieb und in einer solchen auch meiner erwähnte, dessen geniale Aquarellen in römischen Kreisen ein günstiges Aufsehen für den ›bescheidenen‹ jungen Mann erregten. Er legte ein Hauptgewicht auf meine vermeintliche Bescheidenheit, obgleich der Esel gar nicht wissen konnte, ob ich bescheiden oder nicht bescheiden sei. Die Besprechung meiner Arbeiten war insofern nicht übel, als man in Paris, London und Petersburg leidlich verstehen konnte, was darunter gemeint sei; die ausführliche Beschreibung meiner Bescheidenheit hingegen war die erste Sonde, die man an mich legte, um zu erfahren, ob ich das volle Gefühl meiner Größe in mir trage. Ich ging richtig in die Falle und warf dem unbescheidenen Geschäftsmacher seine Anmaßung vor, indem ich ihm erklärte, ich sei gar nicht bescheiden und er habe kein Recht, dies von mir zu sagen. Von diesem Tage an desavouierte mich die große Welt öffentlich und fesselte mich an mein unglückseliges Joch; denn sie fühlte wohl, daß das Bewußtsein meiner Größe sie bald auseinanderblasen würde. Ich rate Ihnen wohlmeinend, junger Mann! wenn einst ein einfältiger Gönner von Ihnen sagen sollte, Sie seien ein bescheidener Mensch, so widersprechen Sie nicht, sonst sind Sie verloren!«
Ich verschwieg Römers Irrsinn lange gegen jedermann und selbst gegen meine Mutter, weil ich meine eigene Ehre dabei beteiligt glaubte, wenn ein so trefflicher Lehrer und Künstler als toll erschien, und weil es mir widerstrebte, den schlimmen Gerüchten, die über ihn in Umlauf waren, entgegenzukommen. Es war mir auch aufgefallen, daß Römer ganz vereinsamt lebte und, trotzdem daß er mehrere Herren aus angesehenen Häusern kannte, die sich zu gleicher Zeit mit ihm in jenen großen Städten aufgehalten, doch von denselben gemieden wurde. Daher wollte ich seine Lage nicht noch verschlimmern. Doch verlockte mich einst ein unwilliges republikanisches Gefühl zum Plaudern. Nachdem er nämlich öfter bedeutungsvoll bald von den Bourbonen, bald von den Napoleoniden, bald von den Habsburgern gesprochen, ereignete es sich einst, daß die Königin-Mutter aus Neapel, eine alte Frau mit vielen Dienern und Schachteln, einige Tage sich in unserer Stadt aufhielt. Sogleich geriet Römer in eine große Aufregung, lenkte auf Spaziergängen unsern Weg an dem Gasthofe vorbei, wo sie logierte, ging in das Haus, als ob er mit der Dame, die er als sehr intrigant beschäftigt und seinetwegen hergekommen schilderte, wichtige Unterredungen hätte, und ließ mich lange unten warten. Doch bemerkte ich, daß er sich nur an dem geheimsten und zugänglichsten Ort des Hauses aufhielt, welches ein unangenehmer Duft verriet, den er an die frische Luft mit sich brachte. Diese Narrenpossen, von einem Manne mit so edlem und ernstem Äußeren, empörten mich umsomehr, da sie mit einer lächerlichen Listigkeit betrieben wurden. Ein andermal, nach dem Straßburger Attentat, als Frankreich die Auslieferung des Urhebers Louis Napoleon verlangte, mit Gewalt drohte und deshalb zum Schutze des Asylrechtes oder vielmehr des Bürgerrechtes eine große Aufregung herrschte und sogar schon Truppen aufgeboten wurden, stellte er sich, als ob Thiers nur nach seinen, des Schweizers, Vorschriften handelte und das Ganze nur ein berechneter Zug in seinem großen Schachspiele wäre. Dazumal hielt sich der besagte Prinz zwei Tage in der Stadt auf, um seine Angelegenheit auch in unserm Kanton zu empfehlen; denn er hatte sich noch nicht entschlossen, freiwillig das Land zu verlassen. Wir trafen ihn auf der Straße als einen jungen bleichen Mann mit einer großen Nase, der in Begleitung eines älteren Mannes ging, welcher ein rotes Bändchen im Knopfloch trug. Die Leute blickten ihm ernsthaft nach, besonders die Frauen sahen gar bedenklich darein, da ihre Männer und Söhne schon in Waffen umhergingen und bereits stundenlang im Regen standen, um zum Abmarsche Pulver und Blei, Äxte, Kessel und dergleichen zu fassen. Nur Römer fühlte von allem nichts und grüßte im Vorübergehen den Fremdling vertraulich lächelnd wie ein ebenbürtiger Vornehmer, wobei ich zugleich bemerkte, daß er vor Aufregung zitterte, einem Napoleoniden so nahe zu sein.
Wenn ich den Wahnsinn verzeihen und tragen mußte, so konnte ich hier die innere Ursache nicht verzeihen, welche demselben zugrunde zu liegen und nichts anderes zu sein schien als jene unerträgliche Sucht eitler Menschen, von der wesentlichen und inhaltvollen Einfachheit der Heimat abzufallen und dem lächerlichen Schatten ausländisch-diplomatischer Klug- und Feintuerei nachzutrachten. Die aufbrausende Jugend war dazumal so schon erzürnt über einige gereiste Gelbschnäbel, welche sich eine Zeitlang darin gefielen, in dem läppischen Stile müßiger Gesandtschaftsbedienter Berichte über unsere Heimat in fremde Blätter zu senden und sich dabei das Ansehen zu geben, als ob sie durch ihre Diplomatie dem Lande oder ihrer Partei wunder was genützt hätten. Als Römer sich ein Stückchen rotes Band an einem Frack befestigte und diesen wie von ungefähr auf einen Stuhl legte, schien er mir die zusammengezogene Erscheinung jenes verwerflichen Unsinnes zu sein, und ich ging mit großem Zorne weg und beklagte mich zu Hause über den Unglücklichen. Es waren gerade Leute da, welche mehr von ihm wußten, und ich erfuhr, daß es längst von ihm bekannt sei, daß er sich bald für einen Sohn Napoleons, bald für den Sprößling dieser oder jener älteren Dynastie halte. Von seinen einzelnen und ausführlichen Narrheiten wußten nur wenig Leute, hingegen hielt man jene fixe Idee für eine absichtliche Verstellung, um mittelst derselben sich ungehörige Vorteile zu verschaffen, andere ums Geld zu bringen und ein müßiges, abenteuerliches Leben zu führen, da er nicht gern arbeite und vom Hochmute besessen sei, und man schrieb ihm demzufolge einen gefährlichen Charakter zu. Diese Beurteilung war im höchsten Grade oberflächlich und ungerecht, und ich habe mit Mühe nach und nach folgenden Sachverhalt herausbringen können.
Er war auf dem Lande geboren und als ein kleiner Junge nach der Stadt zu Habersaat gebracht worden, da er große Neigung verriet, etwas anderes zu werden als ein Ackerbauer. Es war in der Restaurationszeit, wo arme Bauernkinder, wenn sie etwas lernen wollten, nur die Wahl hatten zwischen einem Handwerk und einem Plätzchen in einem städtischen Gewerbe. Es war ein Glück für sie, wenn sie als Laufbürschchen in Handelshäusern, Fabriken oder Kanzleien ein Fleckchen fanden, auf dem sie Fuß fassen und, wenn etwas an ihnen war, sich aufarbeiten konnten. Da Habersaats Anstalt auch eine Unterkunft dieser Art war, obgleich eine schlimme, so geriet Römer ganz zufällig dahin, ohne viel zu wissen, was man aus ihm machen würde. Er war fleißig und hielt seine Zeit aus, nach welcher ihn ein französischer Kunsthändler, welcher durchreiste, um ein Werk schweizerischer Prospekte vorzubereiten, nebst einigen anderen jungen Leuten mit nach Paris nahm, indem der Mann dort die Habersaatsche Art, welche er sehr praktisch fand, anwenden wollte. Römer hielt sich tapfer; nach wenigen Jahren hatte er eine artige Summe erspart, mit welcher er nach Rom ging, entschlossen, etwas Rechtes zu werden. Indem er sich umsah, ergriff er alsobald die englische Art, in Aquarell zu malen, hielt sich aber dabei gründlich an die Natur und verbesserte das Mittel durch einen reineren Zweck, so daß seine Arbeiten einiges Aufsehen erregten und er unter dem Zusammenfluß von Künstlern aller Nationen bald seine eigentümliche Stellung einnahm. Indessen suchte er sich auch sonst auszubilden und stellte sich endlich als ein feiner und unterrichteter Mann in jeder Weise dar. Seine geistreichen und zugleich eleganten Zeichnungen kamen besonders dem Bedürfnis der vornehmen Welt entgegen; einer römischen Prinzessin gefielen sie so sehr, daß er berufen wurde, ihr in seiner Technik Unterricht zu geben, und täglich in den Palast ihres Gemahles gehen mußte. Dies verdrehte ihm den Kopf oder lenkte ihn vielmehr auf den Weg, dessen Anfang von je in ihm war; er machte irgend eine Dummheit, auch mochte der Vorfall mit der Bescheidenheit, den er auf seine Weise mir erzählt, dazukommen: sein Glück verließ ihn plötzlich, er wurde vermieden und ging nach Paris zurück. Dort gelang es ihm durch den Kunsthändler, auf günstige Weise bekannt zu werden; er mußte eines Tages in die Tuilerien gehen, seine Mappen vorlegen und sah sich in einen allerliebsten kleinen Salon versetzt, in welchem die blühenden Kinder des Königs, Mädchen und Söhne, scherzend und lachend um seine Arbeiten sich drängten und Blätter für ihre Albums auswählten. Diese Auszeichnung wurde in den Pariser Journalen gemeldet, und er las seinen Namen im Journal des Débats, aber zum ersten und letzten Male, obgleich er seither keinen Tag ruhig schlafen konnte, wenn er dies Blatt nicht gelesen.
Von nun an nahm der Irrsinn vollständig Platz in ihm, er behandelte seinen Beruf als Nebensache und trachtete mehr danach, seinen eingebildeten Rechten Geltung zu verschaffen. Zum zweiten Mal von der vornehmen Welt zurückgewiesen, mußte er in einen nachteiligen Verkehr mit Händlern treten, um nur dann und wann ein Blatt zu verkaufen. Von wohlhabenden Landsleuten, die sich zum Vergnügen in Paris aufhielten und den Umgang des Künstlers gesucht hatten, lieh er Geld, wenn er in Not war, und da er dieses mit ernsthaften und anständigen Manieren tat, das Geliehene aber nicht zurückgab, vielmehr von großen und wichtigen Dingen sprach, während er doch sonst ein kluger und einsichtiger Mann schien, so hielt man ihn bald für einen durchtriebenen und gefährlichen Schelm, der nur darauf ausgehe, andere auf tückische Weise um das Ihrige zu bringen. Daß er in der festen Überzeugung lebte, jeden Tag sein großes Schicksal aufgehen zu sehen, wo er als ein König dieser Welt alles Empfangene hundertfach vergelten könne, wurde ihm nicht angerechnet; vielmehr verzieh man ihm nicht, wenn er einmal verrückt sei, daß er doch mit so viel schlauem Anstand und wahrer Menschenkenntnis seine wohlhabenden Bekannten wiederholt habe anführen können. Er fühlte dies recht gut mit seiner vernünftigeren Hälfte, welche durch die Not immer zur Not wach gehalten wurde; denn während unserer seltsamen Gespräche über die Erfahrungen sagte er mir einst: »Wenn Sie einst in Verlegenheit geraten und Geld leihen müssen, so tun Sie dies ja nicht auf eine anständige und geschickte Weise, wie es ernsten Leuten geziemt, wenn Sie nicht ganz sicher sind, es auf den bestimmten Tag zurückzugeben, sonst wird man Sie für einen abgefeimten Betrüger halten! Vielmehr tun Sie es ohne alle Scham und auf liederliche, närrische Weise, damit die Leute sagen können: Es ist ein Lump, aber ein guter Teufel, man muß ihm helfen!«
Überhaupt erschien er sonst in allen Dingen als ein gewandter und verständiger Mann und wußte seinen Irrsinn lange zu verbergen. Auch hatte er nach Art der Irren doch immer ein böses Gewissen, welches ihn trachten ließ, die Leute über ihn im unklaren zu halten, um nicht gewaltsam in seinen Gedankengängen gestört zu werden, und jene List, welche sich manchmal vernünftig stellt, um einen freieren Spielraum zum Unsinne zu gewinnen. In einem solchen Gefühle war er endlich in seine Heimat zurückgekehrt, um sich da auszuruhen und durch fleißige Arbeit und ein vernünftiges Leben zu Kräften und zu einem festeren Standpunkte zu gelangen, von dem aus er seinen Stern erwarten könnte. Allein er fand durch die Familien von einem oder zweien jener Muttersöhnchen, denen er mäßige Summen schuldete, die Stimmung so gegen sich eingenommen, daß er überall abgestoßen und mit Verdacht umgeben ward. Er schrieb dies Mißgeschick den Kabalen der europäischen Kabinette zu, hielt sich ganz still, um diese zu täuschen und einzuschläfern, und machte dabei die schönsten Zeichnungen. Diese sandte er aber nicht an namhafte Plätze, weil er der Meinung war, seine Feinde würden den Verkauf verhindern, sondern an entlegene Orte, von wo sie immer unverkauft zurückkamen. Ich glaube, daß Römer während der Zeit seines Aufenthaltes keine anderen Mittel hatte als das wenige Geld, was er von mir empfangen. Es stellte sich erst nachher heraus, daß er nie etwas Warmes genossen, sondern sich heimlich mit Brot und Käse ernährte, und seine größte Ausgabe bestand in der Unterhaltung seiner feinen Wäsche und der Handschuhe. Zu seinen Kleidern wußte er so Sorge zu tragen, daß sie bei seiner Abreise noch ebenso gut aussahen wie bei der Ankunft, obschon er immer dieselben trug.
Nachdem ich vier Monate unter seiner Leitung zugebracht, wollte ich mich zurückziehen, indem ich die bezahlte Summe nun als ausgeglichen betrachtete. Doch er wiederholte seine Äußerung, daß es hiermit nicht so genau zu nehmen und die Studien deshalb nicht abzubrechen wären; es sei ihm im Gegenteil ein angenehmes Bedürfnis, unsern Verkehr fortzusetzen. So arbeitete ich zwar nicht mehr anhaltend in seiner Wohnung, besuchte ihn aber jeden Tag, empfing seinen Rat und richtete mich manchmal auch vorübergehend bei ihm ein. Weitere vier Monate vergingen so, während welcher er, durch die Not gezwungen, aber leichthin und beiläufig mich anfragte, ob meine Mutter ihm mit einem kleinen Darlehen auf kurze Zeit aushelfen könne? Er bezeichnete ungefähr eine gleiche Summe wie die schon empfangene, und ich brachte ihm dieselbe noch am gleichen Tage. Im Frühjahr endlich gelang es ihm, aber erst infolge eines mühseligen Briefwechsels, wieder einmal eine Arbeit zu verkaufen, wodurch er zum ersten Mal seit langer Zeit eine Summe in die Hände bekam. Mit dieser beschloß er, wieder nach Paris zu gehen, da ihm hier kein Heil blühen wollte und ihn sonst auch der Wahn forttrieb, durch Ortsveränderung ein besseres Los erzwingen zu können. Denn trotz allem scharfsinnigen Instinkte, den ein Irrsinniger und Unglücklicher hat, ahnte er von ferne nicht, daß sein wirkliches Geschick viel schlimmer als sein eingebildetes Leiden und daß die Welt übereingekommen war, seine armen schönen Zeichnungen und Bilder entgelten zu lassen, was man von seiner vermeintlichen Schlechtigkeit hielt.
Ich fand ihn, wie er seine Sachen zusammenpackte und einige Rechnungen bezahlte. Er kündigte mir seine Abreise an, die am andern Tage erfolgen sollte, und verabschiedete sich zugleich freundlich von mir, noch einige geheimnisvolle Andeutungen über den Zweck der Reise beifügend. Als ich meiner Mutter die Nachricht mitteilte, fragte sie sogleich, ob er denn nichts von dem geliehenen Gelde gesagt habe?
Ich hatte bei Römer einen entschiedenen Fortschritt gemacht, mein ganzes Können abgerundet und meinen Blick erweitert, und es war gar nicht zu berechnen und schon nicht mehr zu denken, wie es ohne dies alles mit mir hätte gehen sollen. Deswegen hätten wir das Geld füglich als eine wohlangewandte Entschädigung ansehen müssen, und dies umso mehr als Römer mir die letzte Zeit nach wie vor seinen Rat gegeben hatte. Allein wir glaubten nur einen Beweis von der Richtigkeit jener Gerüchte zu sehen und wußten auch dazumal noch nicht, wie kümmerlich er lebte; wie dachten ihn im Besitze guter Mittel, denn er hatte seine Armut sorgfältig verborgen. Meine Mutter bestand darauf, daß er das Geliehene zurückgeben müsse, und war zornig, daß jemand von dem zum Besten ihres Söhnleins bestimmten kleinen Geldvorrate sich ohne weiteres einen Teil aneignen wolle. Was ich gelernt, zog sie nicht in Betracht, weil sie es für die Schuldigkeit aller Welt hielt, mir mitzuteilen, was man irgend Gutes wußte.
Ich dagegen, teils weil ich zuletzt auch gegen Römer eingenommen war und ihn für eine Art Schwindler hielt, teils weil ich meine Mutter zur Herausgabe der Summe beredet, und endlich aus Unverstand und Verblendung, hatte nichts einzuwenden und war vielmehr fast schadenfroh, Römer etwas Feindliches anzutun. Als daher die Mutter ein Billett an ihn schrieb und ich einsah, daß er, wenn er entschlossen war, das Geld zu behalten, die Mahnung einer in seinen Augen gewöhnlichen Frau nicht beachten werde, kassierte ich das Schreiben meiner Mutter, welche ohnedies verlegen war, an einen so ansehnlichen und fremdartigen Mann zu schreiben, und entwarf ein anderes, welches, ich muß es zu meiner Schande gestehen, höchst zweckmäßig eingerichtet war. In höflicher und geistreicher Sprache berechnete ich halb seine fixen Ideen, halb seinen Stolz und sein Ehrgefühl (dieses dachte ich durch jene zu zwingen), und indem das bescheidene Billett erst zu einer Bitterkeit wurde, wenn es unberücksichtigt blieb, war es, wenn Römer alles das verlachen sollte, schließlich so beschaffen, daß er doch nicht lachen, sondern sich durchschaut sehen konnte. So viel brauchte es indessen gar nicht; denn als wir das Machwerk hinschickten, kehrte der Bote augenblicklich mit dem Gelde zurück. Ich war etwas beschämt; doch sprachen wir jetzt alles Gute von ihm, er sei doch nicht so übel usf., nur weil er uns das elende Häufchen Silber herausgegeben.
Ich glaube, wenn Römer sich eingebildet hätte, ein Nilpferd oder ein Speiseschrank zu sein, so wäre ich nicht so unbarmherzig und undankbar gegen ihn gewesen; da er aber ein großer Prophet sein wollte, so fühlte sich meine Eitelkeit dadurch verletzt und waffnete sich mit den äußerlichen scheinbaren Gründen.
Nach einem Monate erhielt ich von Römer folgenden Brief aus Paris:
»Mein werter junger Freund!
Ich bin Ihnen eine Nachricht über mein Befinden schuldig, da ich gern annehme, mich Ihrer ferneren Teilnahme und Freundschaft erfreuen zu dürfen. Bin ich Ihnen doch meine endliche Befreiung und Herrschaft schuldig. Durch Ihre Vermittlung, indem Sie das Geld von mir zurückverlangten (welches ich nicht vergessen hatte, aber Ihnen in einem freieren Augenblicke zurückgeben wollte), bin ich endlich in den Palast meiner Väter eingezogen und meiner wahren Bestimmung anheimgegeben! Aber es kostete Mühseligkeit. Ich gedachte jene Summe zu meinem ersten Aufenthalte hier zu verwenden; da Sie aber selbige zurückverlangten, so blieb mir nach Abzug der Reisekosten noch l Franc übrig, mit welchem ich von der Post ging. Es regnete sehr stark und verwandte ich daher den besagten Franc dazu, nach dem Mont piété zu fahren und dorten meinen Koffer zu versetzen. Bald darauf sah ich mich genötigt, meine Sammlungen einem Trödler für ein Trinkgeld zu verkaufen und erst jetzt, als ich endlich von aller angenommenen Künstlermaske und allem Kunstapparate glücklich befreit und hungernd in den Straßen umherlief, ohne Obdach, ohne Kleider, doch jubelnd über meine Freiheit, da fanden mich treue Diener meines erlauchten Hauses und führten mich im Triumph heim! Aber noch beobachtet man mich zuweilen, und ich benutze eine günstige Gelegenheit, dies Zeichen zu senden. Sie sind mir wert geworden und ich habe etwas Gutes mit Ihnen vor! Inzwischen nehmen Sie meinen Dank für die günstige Wendung, die Sie herbeigeführt! Möge alles Elend der Erde in Ihr Herz fahren, jugendlicher Held! Mögen Hunger, Verdacht und Mißtrauen Sie liebkosen und die schlimme Erfahrung Ihr Tisch- und Bettgenosse sein! Als aufmerksame Pagen sende ich Ihnen meine ewigen Verwünschungen, mit denen ich mich bis auf weiteres Ihnen treulichst empfehle!
Ihr wohlgewogener Freund.
Dies nur in Eile, ich bin zu sehr beschäftigt!«
Erst vor einem Jahre erfuhr ich, daß Römer in einem französischen Irrenhause verschollen sei. Wie es dazu kam, wird in obigem Briefe ziemlich klar. Meine Mutter, welcher ich alles verhehlte, konnte keine Schuld treffen als diejenige aller Frauen, welche aus Sorge für ihre Angehörigen engherzig und rücksichtslos gegen alle Welt werden. Ich hingegen, der ich gerade zu dieser Zeit mich gut und strebsam glaubte, sah nun ein, welche Teufelei ich begangen hatte. Ich log, verleumdete, betrog oder stahl nicht, wie ich es als Kind getan, aber ich war undankbar, ungerecht und hartherzig unter dem Scheine des äußeren Rechtes. Ich mochte mir lange sagen, daß jene Forderung ja nur eine einfache Bitte um das Geliehene gewesen sei, wie sie alle Welt versucht, und daß weder meine Mutter noch ich je gewaltsam darauf bestanden hätten, ich mochte mir lange sagen, daß Erfahrung den Meister mache und man auch diese Art Unrecht, als die gangbarste und am leichtesten zu begehende, am besten durch ein tüchtiges Erlebnis recht einsehen und vermeiden lerne, mochte ich mich auch überreden, daß Römers Wesen und Schicksal mein Verhalten hervorgerufen und auch ohne diesen Vorgang seine Erfüllung erreicht hätte; alles dies hinderte nicht, daß ich mir doch die bittersten Vorwürfe machen mußte und mich schämte, so oft Römers Gestalt vor meinen Sinn trat. Wenn ich auch die Welt verwünschte, welche dergleichen Handlungen als klug und recht anerkennt (denn die rechtlichsten Leute hatten uns zu der Wiedererlangung der Summe beglückwünscht), so fiel doch alle Schuld wieder auf mich allein zurück, wenn ich an die Anfertigung jenes Billetts dachte, welches ich so recht con amore und ohne die mindeste Mühe geschrieben und gleichsam aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Ich war bald achtzehn Jahre alt und entdeckte jetzt erst, wie ruhig und unbefangen ich seit den Knabensünden und Krisen gelebt, sechs lange Jahre! Und nun plötzlich diese Teufelei! Wenn ich schließlich bedachte, wie ich jenes unverhoffte Erscheinen Römers als eine höhere Fügung angesehen, so wußte ich nicht, sollte ich lachen oder weinen über den Dank, den ich dafür gespendet. Den unheimlichen Brief wagte ich nicht zu verbrennen und fürchtete mich, ihn aufzubewahren; bald begrub ich ihn unter entlegenem Gerümpel, bald zog ich ihn hervor und legte ihn zu meinen liebsten Papieren, und noch jetzt, sooft ich ihn finde, verändere ich seinen Ort und bringe ihn anderswohin, so daß er auf steter Wanderschaft ist.
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