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Ein Nimmersatt

Es war einmal ein Bübchen, das hatte immer Hunger. Mochte es noch so viel zu essen bekommen, genug hatte es selten und immer meinte es noch mehr vertilgen zu können. Ganz unglaublich war's, was in seinen kleinen Magen hineinging. Am besten freilich schmeckten ihm gute Sachen, süße Leckerbissen aller Art, und wenn die Mutter so etwas auf den Tisch brachte, hätte es am liebsten alles für sich allein gehabt; denn solch echter Nimmersatt sieht nicht nach rechts und links, ihm ist's ganz gleich, ob andere auch etwas abbekommen. Und wie's immer geht: viel essen macht dumm und träge, in der Schule saß Nimmersatt auf dem letzten Platz. Wo der Bauch so voll ist, will nichts in den Kopf hinein.

Einmal war sein Geburtstag, und da er der Älteste in der Familie war, so hielten seine beiden kleinen Schwestern den Tag für sehr wichtig und fanden es ganz begreiflich, daß er als Hauptperson besonders geehrt wurde, daß er die schöne, rote Kappe, die er bekam, den Tag über auf dem Kopf behielt und aß, soviel er nur mochte. Nachmittags kamen auch Vetter und Bäschen, die im Nebenhause wohnten, und es wurde lustig gespielt, wobei Nimmersatt der Anführer war, und die Kleinen ihm in allen Stücken gehorchten. Das gefiel ihm außerordentlich.

Die gute Mutter wollte nun den Kindern noch eine besondere Festfreude machen, rührte in der Küche einen süßen Kuchenteig ein und backte herrlich duftende, goldbraune Krapfen, die sie ihnen zur Vespermahlzeit geben wollte. Als sie damit gerade fertig war und eben den Kleinen ihre Schüsseln und Löffelchen hinaustrug in den Hof, wo sie spielten, kam die Nachbarin und wollte sie etwas fragen. Da stellte sie die Krapfen auf den Küchentisch und führte ihren Besuch in die Stube. Nimmersatt aber, dem der Duft des Gebäcks angenehme Vorstellungen eines guten Schmauses geweckt hatte, mochte nicht mehr länger auf den Genuß warten, er lief eilig in die Küche und holte die Pfanne mit dem Leibgericht. Die Kleinen machten große, erwartungsvolle Augen, als er heraustrat, aber er sah nicht rechts noch links, sondern setzte sich auf die unterste Treppenstufe und versuchte einen der Krapfen. Der schmeckte! Noch fanden's die Kinder ganz begreiflich, daß das Geburtstagskind den ersten Krapfen aß, als es aber einen nach dem andern verzehrte, ohne an sie zu denken, wurden die Gesichter immer länger. Leni, die den Bruder kannte, fing sogar an leise zu weinen.

Da kam die Mutter und mit ihr das Strafgericht. Nimmersatt wurde für den Rest des Geburtstages ins Bett verbannt, wo er sich langweilte und zugleich furchtbare Leibschmerzen infolge seiner Unmäßigkeit leiden mußte.

Für die andern Kinder war zwar nur wenig von dem Festschmaus übriggeblieben, aber auch wenig kann köstlich schmecken, wenn man kein Nimmersatt ist.

Bild: Hermann Kaulbach

Ein Nimmersatt.


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