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Varg – Pferdebezwinger

Hvidbjörn war der erste, der in einem Schiff auf dem Wasser fuhr, der Pferde zähmte, der den Wagen erfand; Hvidbjörns abenteuerlustige Söhne aber waren die ersten, die ritten über die Erde!

Seine schweren Gliedmaßen soweit den Krummsprüngen eines Wildpferdes anzuvertrauen, daß er sich ihm gar auf den Rücken gesetzt hätte – das war der Alte denn doch nicht gewillt; schließlich – man hat auch eine Art Würde zu wahren als Vater. Hvidbjörn begnügte sich damit, seine Geschicklichkeit als Wagenlenker zu entfalten. Obwohl er ein gewaltiger Seeheld war, hatte er nie Schwimmen gelernt, während die Söhne aus heller Neugier und Verwegenheit sich so oft in die Fluten gestürzt und der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt hatten, daß sie zuletzt schwammen wie die Seehunde. Eine ewige Unruhe war in ihnen; sie konnten nicht anders – auf und ab – ins Wasser und aus dem Wasser – wo nur eine Gelegenheit sich bot. Vieles, was einfach als gedankenloser Schelmenstreich begonnen hatte bei ihnen, ward nach und nach zum verbürgten Recht und schließlich zur festen Errungenschaft, zum selbstverständlichen Zubehör des täglichen Lebens, für sie selbst und für ihre Nachkommen. Auf dieselbe Art wurden sie Reiter; aus Spielerei, aus Drang nach Neuem, und nicht zum wenigsten aus einer Notwendigkeit heraus, stets und ständig in Lebensgefahr zu schweben, wie sie der aller jungen Männlichkeit innewohnende Drang zu sein schien. Es begab sich folgendermaßen: Hinter Hvidbjörns Wohnstatt an der livländischen Küste begann die Steppe, die sich gen Osten ins Unendliche erstreckte, weit, daß keiner je die Grenzen erschaut hatte, fern, bis dahin, wo die Sonne aufging. Das Land war ziemlich flach und meilenweit mit hohem Gras bekleidet; aber in der Gegend der Küste und auch sonst an vielen Stellen im Innern lagen junge Birkenwälder und Strecken dichten Buschwerks, auch Moore mit Ried und Gesträuch. Und überall wimmelte es von Wild, Bären und Hirsche, Auerochsen, Wölfe, wildes Rind, alles nebeneinander. Das Meer war voll von Fischen, und weiter nordwärts, wo die Steppe in endloses, vereistes Moor- und Felsland überging, gab es Renntiere in ungezählten Herden. Im Winter zogen sie gen Süden und versorgten Hvidbjörn und sein Haus mit allem, dessen er benötigte. Im Sommer aber kam das wilde Pferd aus der Wärme seiner Grasweiden gewandert und durchstreifte die offene Steppe und die Lichtungen des Buschwalds; dann ward dies zur Jagdbeute und machte mit seinem süßen Fleisch täglich den Rauch, der von Vaars Kochfeuer emporstieg, fett. So wohlschmeckend war das wilde Pferd, daß Hvidbjörn es von allen Tieren am liebsten den fernen Mächten zum Opfer brachte, die er ehrte; denn in jedem Jahr hatte er seine Gedenktage, an denen eins oder auch zwei der schönen, widerspenstigen Tiere zum Altar geführt und geschlachtet wurden. Aber auch eingefangen und gezähmt hielt man das Wildpferd, teils als lebende Vorratskammer für die wildarmen Zeiten, teils – natürlich – zum Gebrauch für Wagen und Schlitten. Das letztere gefiel den Pferden gar nicht schlecht; es stellte sich rasch ein gegenseitiges Vertrauen zwischen ihnen und Hvidbjörn ein. Besonders aber die Knaben machten sich mehr und mehr mit den lebhaften Tieren zu schaffen. Varg, der Älteste, fühlte sich ganz unwiderstehlich angezogen von ihnen, und auch sie schienen ganz besonders ihm ihre Freundschaft zu schenken.

Eine geheime Sympathie bestand zwischen Pferd und Mensch, ein Gefühl des Verwandtseins, das in eine sehr ferne und auf beiden Seiten vergessene Vorzeit zurückzureichen schien. Vielleicht hatte es seinen Ursprung darin, daß das Pferd dereinst während derselben Periode ein Urtier gewesen war, als die Stammväter des Menschen noch in den Bäumen lebten, so daß also die dunkle Erinnerung, die sie verband, herstammte von dem verlorenen Land. Während der Waldmensch, noch eh die Zeit in die Welt gekommen war, sich hoch oben in den Tropenwäldern Nordeuropas von Ast zu Ast schwang, tappte das Urpferd in dem heißen, sumpfigen Grund darunter umher – ein Tier etwa von der Größe eines Kaninchens, mit vier gutentwickelten Zehen, die es verstanden, über den Morast hin zu tasten, und mit einem Maul, das sehr lüstern war nach Wasserpflanzen und Früchten, ein dralles kleines Säugetier, etwa ein Zwischending zwischen einem Nager und einem Wiederkäuer, halb auf dem Weg, ein träger Tapir zu werden, aber mit dem Ehrgeiz im Leib, dieselbe Karriere zu machen wie das vornehme Okapi und dabei friedlich genug, um sich der Schar der Antilopen zu gesellen. Hier im Paradies, im ewigen Frühling der Wälder, hatte der Waldmensch vielleicht nicht selten eine saftige Frucht hinunterfallen lassen auf das Sumpftier, das sie in gutem Glauben als eine Gabe von oben verzehrte. Kokosnüsse fielen ihnen auf den Kopf von dort droben, aber auch die herrliche Brotfrucht – die mochte das Urpferd gern. Später, als die Baumbewohner sich bewogen fühlten, hinabzusteigen zur Erde und im Zusammenhang hiermit auch anfingen, Fleisch zu essen, war das kleine, vielverbreitete und leicht zu erlangende Sumpfpferd ihre Lieblingsnahrung geworden; wovon ihre warmen Gefühle sich herschrieben.

Dann, als der Gletscher kam und über die Wälder hinschritt, wurden sie getrennt; der Waldmensch schwenkte in das harte Dasein unter der Herrschaft des Gletschers ein, das ihn zum Menschen machte, und das Pferd ging seinen Weg, der im Laufe der Zeit und im buchstäblichen Sinn des Worts nicht ohne Einfluß auf seine Zehen blieb. Statt weichen Waldbodens und sicherer Schlupflöcher im Dschungel fand es nach und nach trockene Steppen, auf denen die Zehen sich nicht mehr auszuspreizen brauchten, um nicht einzusinken, sondern wo sie im Gegenteil hinderlich waren, wenn man Jahrtausende lang, mit dem Wolf und anderem ausgehungerten Raubtierpack dicht auf den Fersen, um sein Leben rennen mußte. Statt Pisang und junger Bambusschößlinge gab es nichts, womit man sein Leben fristen konnte, als Gras. Aber lieber sich selber nach und nach verändern, als sich besiegen lassen von schlechten Zeiten! Das Pferd hatte weit zu laufen jeden Tag, und das rasch; also hob es sich in die Höhe auf der mittelsten Zehe und fühlte sich dadurch freier, mehr im Bunde mit dem Wind; und da die andern Zehen an der Seite nicht gebraucht werden, schrumpfen sie zusammen und werden überflüssig. Der Nagel härtet sich zu einem Huf; und auf diese Weise machen Tag und Weg das flüchtige Tier zum Pferd. Und so wohl gedieh ihm das, daß der ehemalige Zwerg des Waldgrundes nach und nach sich emporreckte zu einem Großtier, einem von denen, die man aus weiter Entfernung sieht.

Die Träume der Jugend: als Tapir zu faullenzen oder ein Wiederkäuer zu werden, schwanden natürlich zugleich mit dem verlorenen Land. Das Tier der vielen Möglichkeiten war zum Pferd geworden, ohne Aussichten auf Rückwandlung, aber auch ohne die Lust dazu; es hätte nichts mehr davon gehabt, wieder zum Kaninchen zu werden, es war Pferd durch und durch. Und jetzt war es aufs neue mit dem Menschen zusammengetroffen und fühlte sich seltsam berührt von einer uralten Erinnerung, unerklärlich hingezogen und doch voll instinktiven Bangens. Es war etwas im Wesen des Menschen, das Gutes verhieß, und das Pferd hatte ja durch alle Prüfungen hindurch im Blut sich die Paradiesessüße erhalten, die große Neugierde, die so gern wollte. Aber es half nichts – ein kleines, unheimliches Licht im Auge des Menschen, gleichsam wie die Witterung eines alten, liebend umfangenen Freundes und neu erwachenden Appetits bewogen das Pferd, sich in geziemendem Abstand zu halten.

So war die Sachlage, als die Knaben das wilde Pferd kennen lernten. Die erste nähere Bekanntschaft ward eingeleitet in der Nähe des Wohnplatzes, wo Hvidbjörn die halbzahmen Pferde, die er zum Wagenziehen eingefangen hatte, weiden ließ. Sie gingen frei in einem großen abgeschlossenen Platz, einer Art Insel, die Hvidbjörn hergestellt hatte, indem er auf der vierten Seite eines Grasgeländes, das von Natur auf drei Seiten von Wasser umgeben war, einen Graben gezogen hatte. Die Pferde waren hier ganz wie in freiem Zustand, es gab offene Flächen und Bäume, wo sie umherstreifen oder Schutz suchen konnten, wie sie wollten. Jedesmal, wenn man sie holen und zur Wohnstatt hinüberführen wollte, um sie vorzuspannen, mußte man sie fast wie von neuem einfangen, und da der Platz sehr groß war, gab das Veranlassung zu allerhand Scharmützeln und listigen Einfällen auf beiden Seiten.

Die Aufgabe der Knaben war es, die Pferde zu holen, und wollte es ihnen auf andere Weise nicht glücken, den Tieren nahe genug zu kommen, um ihnen die Lederschlinge um den Hals zu werfen, so lockten sie sie oft mit einem Büschel verführerischen Grases oder einer besonders köstlichen Wurzel, vielleicht auch mit einem Stück Brot, das die Mutter ihnen für die lieben Pferde mitgegeben hatte, und wenn die Tiere dann nicht widerstehen konnten und die Knaben an sich kommen ließen, husch – so hatte die eine Hand die Mähne gepackt, der Halfter fuhr hinter dem Rücken vor und dem Pferd über den Kopf, und das Leckermaul war gefangen!

Nun war es gar kein so kleines Stück Wegs von der Koppel bis zum Hof, und die Knaben, die den natürlichen Wunsch hegten, den Weg, den andere vor ihnen gegangen waren, zu verlassen, versuchten ganz ungeniert auf die Pferde hinaufzuspringen, und sich von ihnen heimtragen zu lassen, statt neben ihnen herzutraben. Das aber nahmen die Pferde ihnen ein für allemal sehr übel. Den Halfter – in den fand man sich schließlich, wenn es sein mußte, und auch ein gutgemeinter Klaps aufs Maul mochte angehen; man fand es auch gar nicht unangenehm, selbst einmal solch einen Menschen ein bißchen zu beschnuppern und in seiner Nähe ein paar Tanzschritte zu machen – zur gegenseitigen Unterhaltung und auf drei Schritt Abstand. Aber sich an der Mähne packen lassen, bestiegen werden wie ein Baum, diesen Zweibeiner auf dem Rücken haben? Jedesmal, wenn die Knaben es versuchten, hast du nicht gesehen? – sprang das beleidigte Pferd mit allen Vieren zugleich in die Luft, um den Frechen bis hinauf an die Sterne zu schleudern, und saß er dann wirklich immer noch, so fuhr, hopp! das Hinterteil senkrecht in die Höhe, dann – im nächsten Augenblick – die Vorderfüße steil gebäumt – und hatte er von diesem Seegang noch nicht genug, – hopp, ein wilder Sprung zur Seite, und der Rücken ein Bogen, auf dem kein Mensch hätte hängen können; wenn sie aber trotzdem drauf festhingen – und Varg brachte das immer öfter zustande – na ja, so blieb einfach nichts übrig, als daß man sich hinwarf wie ein Hund und sich auf der Erde wälzte, oder noch lieber auf einem Haufen Steine, zappelnd mit allen Vieren, um das Ungeziefer abzuschütteln, oder auch man mußte in einem Satz an einen Baum mit einem tiefhängenden Ast anrennen, um es abzustreifen; kurzum, davon konnte gar keine Rede sein, daß das Pferd einen Menschen auf seinem unantastbaren Rücken duldete! Die ererbte Erfahrung von Generationen, die blutigen Folgen, die es nach sich zog, wenn man ein Geschöpf auf seinem Rücken duldete, den Luchs, den Vielfraß, hatten das Pferd blindlings unzugänglich gemacht für die mindeste Annäherung dieser Art.

Und nichtsdestoweniger ward Vaar eines Tages von ihrer Haustür aus Zeuge eines halb schrecklichen, halb lächerlichen Aufzugs, dessen Hauptfigur Varg war, Varg, der rothaarig, sieghaft auf dem Rücken eines der Pferde saß, die von der Koppel heimgetrieben wurden – Varg, der Entsetzliche! Die andern Brüder zogen ihre Tiere gemächlich am Halfter hinter sich her; Varg aber saß rittlings auf seinem Pferd, die Beine stolz in der Luft, und lenkte es mit einem Riemen um den Hals. Und das Pferd schien sich gutwillig darein zu finden, es ging mit tief gesenktem Haupt, in schwerem Nachdenken, als ahne es die Tragweite dieses ersten Sich-Fügens, jedoch ohne einen Versuch zur Empörung. Dies Jauchzen, dieser sieghafte Einzug der Knaben! Selbst Hvidbjörn, der leidenschaftlich in sein neues Schiff vertieft war, blickte vom Flintbeil auf und sah mit väterlichem Auge auf seinen Sprößling; dann nickte er gedankenvoll bekräftigend mit dem Haupt; er wußte, wohin Pfadabweichungen führen konnten. Er hatte selber sich das Unmögliche zur Hilfe gezwungen. Die Knaben mußten anders sein, das Leben anders angreifen, als man es von ihnen erwartete.

Endlich war es Varg geglückt. Der Hengst, auf dem er ritt, war sein Freund, seitdem er ein Füllen gewesen war. Er war in der Gefangenschaft geboren und in der Koppel aufgezogen, von Varg gehegt und verwöhnt mit allem Guten, was dieser nur aufzutreiben und zu ersinnen vermochte; das Tier kannte ihn vor allen anderen und liebte es, wenn der Knabe den Arm um seinen Hals legte und es streichelte, auch nachdem er schon voll ausgewachsen war. Allerdings steckte die angeborene Scheuheit ihm doch so im Blut, daß es fortwährend auf dem Sprung stand, wie besessen von tausend Fluchtantrieben auf einmal, bebend an allen Gliedern, mit weitaufgerissenen, unruhigen Augen; die Ohren zuckten nervös, legten sich flach zurück, während die Zähne grimmig aufeinanderknirschten, die Nüstern weiteten sich, daß das Licht durch den rosenroten Knorpel zwischen ihnen schimmerte. Gestreichelt wollte er sein, und wollte doch wieder nicht, er bot die Flanke dar und zuckte kitzlig wieder zurück, als wäre es Feuer, was ihn berührte, und nicht eine menschliche Hand; wie Wellengekräusel auf dem Wasser wechselte in ihm die Laune; und erst nach einer langen, langen Zeit unermüdlicher Friedensbezeugungen ließ er sich gewöhnen; aber zahm ward er eigentlich nie.

Einzig Varg durfte sich ihm nähern. Er kam so ruhig, ohne auch nur einen unbeherrschten Schritt zu machen, er streckte so behutsam die Hand nach ihm aus, daß ihm der unwillkürliche Fluchtdrang nicht in die Glieder fahren sollte, und wenn er erst dicht neben ihm stand, hütete er sich, die geringste unerwartete Bewegung zu machen, oder irgend etwas Plötzliches zu tun, das den Hengst davongescheucht hätte, daß Steine und Rasenschollen unter den Hufen aufgeflogen wären. Das wilde Pferd stand für gewöhnlich vollständig still, wenn es nicht graste oder weidete oder umhertollte; ganz ruhig stand es, mit ausgestrecktem Kopf, ohne auch nur mit einem Ohr zu zucken; selbst auf kurze Entfernung hin war es in der Steppe nur schwer zu erblicken, eh es sich bewegte; das war seine Schutzwehr gegen Verfolgung; es sind ja auch nur die unedeln Tiere, die ständig umherflirren, ohne in sich selbst Ruhe zu finden, wenn keine wirkliche Kraftentfaltung vonnöten ist.

Oft, wenn der Hengst so im Sonnenschein unter einer Birke stillstand, dann näherte Varg sich ihm mit allen Zeichen tiefster Ruhe im Gang, und das Tier blieb stehen und erwartete sein Kommen. Dann nahm Varg es wohl um den Hals und plauderte lange mit ihm, den Kopf dicht an die feine Haut geschmiegt, und das Pferd bewegte keinen Huf, zitterte nicht, reckte nur ab und zu den Kopf, als wolle es nun kein Wort weiter hören, aber es blieb neben Varg stehen, und er umkreiste es streichelnd, liebkoste es, beruhigte es von allen Seiten, bis jede Fiber, jedes Haar seines Körpers, das erst voll Angst gewesen war, durch die immerwährende Wiederholung der fremden Berührung in Sicherheit gewiegt war.

Und Varg war klug. Mit seiner Erfahrung von den andern her, die sich nie hatten zähmen lassen, weil er sie überrascht hatte, die nur noch halsstarriger geworden waren, nahm er sich wohl in acht mit dem Sprung auf den Rücken des Freunds; dieser solle es überhaupt gar nicht wissen, wann er droben saß. Er begann damit, daß er sich gegen die Flanke des Pferdes lehnte und den einen Arm leicht über den schönen, schwach geschweiften Rücken legte; ganz wie zufällig; und doch erwiderte das Tier seinem Arm die ersten Male mit einem Beben. Als es dann, nach langer, geduldiger Wiederholung, den Arm litt und sich dareinfand, daß Varg sich mit voller Wucht gegen seine Flanke lehnte, versuchte der Knabe, wie im Spiel, ab und zu ein Bein neben den Arm zu legen und versuchte das so oft, bis das Tier nichts Auffallendes mehr daran fand, daß allmählich auch der Körper nachfolgte und von Mal zu Mal immer länger und länger über seinem Rücken hängen blieb.

Und so kam denn wirklich der Tag, an dem das Pferd, ohne eine Veränderung zu merken, ihm erlaubte, sich ganz hinaufzuschwingen und sitzen zu bleiben; freilich hatte er ihm auch so lange und so lind zugesprochen wie Südwind und sonnige Tage. Aber als er nun saß und das Pferd noch immer ruhig unter ihm stehen blieb, da lachte Varg, lachte in innigster Lust, und das Herz hüpfte ihm in der Brust vor Glückseligkeit.

Jetzt sollte das Pferd lernen zu gehen mit ihm; und da hieß es äußerst vorsichtig sein, damit es nicht erschreckt ward. Später, als aus dem Schritt auch Trab und Galopp wurde, entstanden ja von selbst allerhand besondere Schwierigkeiten; es lag nicht unmittelbar in der menschlichen Natur, unter allen Verhältnissen auf einem Pferd sitzen zu bleiben; das mußte gelernt werden. Aber wenn Varg es will und das Pferd nichts dagegen hat und genügend Zeit vorhanden ist, so kommt es, eh man es weiß, und bald können die jüngeren Brüder in gellender Bewunderung die zwei in vollem Saus rund um die Koppel, dann über die Steppe hinfliegen sehen.

Der erste Reiter – Varg – um den Leib einen Wolfspelzfetzen geschlungen, um die Ohren wehend das flammrote Haar, Vargs rotes Werwolfsgelock, in dem er gewohnt war, die Finger abzuwischen, das immer vollsaß von vorjährigen Kletten, und das Zuflucht des mannigfaltigsten Geziefers war – bis zur Größe einer Heuschrecke. Varg, Varg. Eins mit dem Wildpferd, das noch halb gestreift war wie ein Zebra, am Bug das Zeichen des Blitzes, mit dickem Kopf, wie ein ewiges Fohlen, und mit dem Donnerkeil unter jedem seiner herzförmigen Hufe!

Nachdem Varg den ersten Sieg errungen hatte, gesellten sich nach und nach auch die Brüder dazu, wählten sich je ihren Liebling unter den Füllen und liebkosten und umhalsten ihn so lange, bis er zutraulich ward und sich mit ihnen vereinigte zu einer Figur in der Landschaft – allen andern Geschöpfen zu gaffender Furcht und Bestürzung. Und diese ein bißchen gespannte, aber stets unwandelbare Freundschaft, die halb auf Betrug beruht, halb den Charakter einer Vorsehung hat, besteht seit jener Zeit zwischen Pferd und Mann.

Nachdem Hvidbjörns Söhne sich einmal beritten gemacht hatten, war es nicht immer leicht zu wissen, wo sie steckten; sie entfalteten eine Fähigkeit, fast gleichzeitig an den verschiedensten Orten zu sein. Hvidbjörn mochte noch so geschwind auf seinem zweiräderigen Wagen über die Steppe rattern; daß er den Knaben nachkam, davon war gar keine Rede. Ein neuer, ungeahnter Aufschwung kam in die tägliche Jagd; die Söhne sprengten das Wild auf und machten Parforceeinfälle, wo sie ehemals in langem, mühseligem Kriechen, heimlich und auf Umwegen, sich bis auf Speerwurfnähe herangeschlichen hatten. Eine neue Zeit lag in dem, was von den Knaben ursprünglich ganz gedankenlos begonnen war.

Mittlerweile wuchsen sie herauf. Varg fing ganz unmerklich an, sich von den Brüdern abzusondern; nicht, daß etwas zwischen ihnen gewesen wäre; einfach, weil er ein anderer geworden war. Seine Stimme klang auf einmal tief und gebrochen, bald war er seltsam ernst und schloß sich an den Vater an, hieb und zimmerte voll Verständnis am Schiff herum, bald gesellte er sich wieder in Spiel und Scherz zu den jüngern Geschwistern, wobei er aber leicht gewalttätig wurde, so daß sie ihn gar nicht mehr verstanden, und oft mit den sonderbarsten Einfällen die ganze Lustbarkeit störte.

Es war Varg – und doch nicht Varg. Zeitweise überkam ihn geradezu ein Lachkrampf; dann konnte er ein armes Kalb packen und an sich drücken und sich damit auf der Erde wälzen, bis es rein von Sinnen kam; oder er schloß das erste beste tote Ding, einen Baum, eine Klippe, in die Arme, oder er warf sich zu Boden und versuchte mit ausgebreiteten Armen das ganze Land zu umfangen; er sprang ins Meer, einen schweren Stein zärtlich ans Herz gedrückt, und tauchte mit ihm unter, um bald darauf, einsam und trauernd wieder emporzusteigen. Er hatte Anfälle von großartiger Freigebigkeit, während derer er den entzückt strahlenden Geschwistern all seine Besitztümer schenkte – für sie noch Schätze – für ihn armseliges Spielzeug. Zu andern Zeiten, auf der Jagd, konnte er voll Ausgelassenheit beginnen und bis zur rohsten Grausamkeit übergehen; dann vernichtete er ohne Gnade, suchte kalten Bluts die Todesgefahr auf; an solchen Tagen zog er ganz allein, bloß mit einer Axt bewaffnet, gegen den wilden Eber oder den großen Elch aus und kehrte vom Kampf zurück, zitternd vor Raserei, die der Tod des durch seine Hand gefallenen Tieres nicht abzukühlen vermocht hatte.

Wenn jemand die Erklärung für Vargs Gemütsverfassung in der Jahreszeit gesucht hätte, so hätte er gefunden, daß es das Frühjahr war – wie das nun auch zusammenhängen mochte; aber Varg hatte ja doch schon oft ein Frühjahr erlebt, ohne so halb außer sich zu geraten. War er besessen?

Das Frühjahr kam in Livland mit Macht, es setzte ein mit schwellenden, feuchten Ostwinden und warmen Nächten, die Steppe warf den Schnee ab und lag nackt, soweit das Auge reichte, mit offenen schwarzblauen Tauwetterpfützen da und dort im Gras. Rasch sickerte das Wasser in die Erde, sobald sie aufgetaut war, und das neue Gras machte in wenigen Tagen das Land meilenweit grün. Die Zugvögel füllten die Nächte mit nebelhaftem Getön, und plötzlich war alles bereit zur großen Frühjahrsversammlung, knospende, harzduftende Bäume, Vogelgesang und an den lichten Abenden die Traummusik der Frösche, das kreischende Zusammenfliegen der Auerhähne im Birkenwald und des Nachts die grauenhaften Schreie der Steppenraubtiere in Liebesnot.

Und die Wildpferde waren gekommen, die richtigen, die von draußen von der Steppe. Die erste Herde zeigte sich an einem klaren Tag, in endloser Ferne, wie eine Federflocke am Horizont, gerade bei Sonnenaufgang; von da ab kamen jede Nacht weitere, und bald schwärmte die Steppe von Herden, wie immer im Frühjahr.

In der Koppel bei den halbzahmen Pferden herrschte Unruhe. Die alten Stuten fohlten in diesen Tagen, und die Hengste sonderten sich untereinander ab, jeder mit seiner Herde junger Stuten, und führten gewaltsame Kämpfe auf, bei denen sie sich auf die Hinterbeine stellten und um sich bissen, daß der Schaum flog wie in einem Seesturm, und wieherten, daß es weit hinaus durch die gaukelnden, schweigenden Nächte tönte. Die Pferde empfanden ihr Eingesperrtsein; und oft standen sie am Rand des Grabens, nickten und spiegelten sich im Wasser und spähten mit langen Blicken ostwärts über die Steppe; aber der Graben war nun einmal ihre Grenze, und sie mußten sich dareinfinden, zu bleiben, wo sie waren. Wenn es geschah, daß ein Rudel von freien Pferden der Steppe in der Nähe vorüberkam, so gerieten die Gefangenen in große Not; man konnte sie hoch emporspringen und sich um sich selber drehen sehen, den Hals vorgestreckt, soweit es ging, als wären sie am liebsten in die Luft und hinüber zu den wilden Verwandten geflogen. Ach, es lag ein Graben zwischen ihnen, sie konnten nicht zueinander kommen.

Aber die Pferde der Steppe konnten es! Eines Nachts sprangen mehrere wilde Hengste über den Graben und herein in die Koppel. Was den Gefangenen gar nicht in den Sinn gekommen war, das taten die Freien ganz einfach – sie sprangen über den Graben. In dieser Nacht tobte eine gewaltige Schlacht in der Koppel, mit einem Pferdegetöse und einem Erdonnern der Erde, das bis weithin tönte, und am nächsten Tag, als die Knaben die Pferde holen wollten, fanden sie, daß die wilden Fremdlinge alle Hengste davon und in eine Ecke getrieben und die Stuten, nach denen ihr Begehr stand, unter sich selbst verteilt hatten! Die Geschlagenen standen und ließen die Köpfe hängen, gedemütigt, zerbissen, während die Sieger, trotzdem sie bei weitem in der Minderzahl waren, mit üppigen Halsbewegungen und stolzem Schwingen des Schweifs um ihre vielen neuen, gehorsamen Fohlen trabten, ab und zu mit Augen voll Blut auf die Vorgänger schielend, im übrigen aber vollauf damit beschäftigt, ihre Kriegsbeute vorläufig einmal abzuschätzen, jeder für sich, inmitten seiner Herde.

Varg war wie ein Wahnwitziger, als er all diesen Pferdeübermut gewahr wurde, und eh die Brüder wußten, was er, heulend vor Todesverachten und in hohen Sätzen vorwärtsstürmend, im Sinn hatte, sahen sie, wie er auf einen der wilden Hengste losstürzte, sich hinter einem Baum her über ihn warf, ihm in die Mähne fuhr und in einem einzigen gewaltigen Flugsprung aufsaß. Im selben Nu raste der Hengst mit ihm davon! Durchgängerei war die ihm angeborene Natur, aber jetzt, da er jemand auf seinem Rücken fühlte, jemand, der sich mit zwei sehnigen Beinen, die Fersen in seine Weichen gestemmt, festklammerte, fuhren Blitz und Donner ihm in die Seele; vor ihm und hinter ihm explodierte die Luft. Und wie ein Pfeil in rasender Fahrt der Steppe zu!

Der Graben! In fast unerträglicher Spannung halten die Brüder den Atem an, als sie den Wildhengst in blindem Rasen darauf zusprengen sehen – und dann – hinüber –! Sie sehen Varg in der Luft schweben, den Kopf vornüberhängend – während das Pferd jenseits landet. Aber er bleibt – er hängt fest – und jetzt rafft der Hengst sich zusammen und galoppiert weiter, hinaus ins offene Land, wahnwitzig vor Schreck. Und Varg ständig auf seinem Rücken. Pferd und Reiter waren schon so fern, daß den Brüdern fast das Herz stillstand; da sahen sie, wie er sich mit vollem Willen weit draußen in der Steppe vom Pferd warf und sich halsbrecherisch im Gras überschlug, während das Pferd in sinnloser Flucht weiterraste. Die Brüder atmeten auf; sie wußten, was Varg leisten konnte im Fallen. Er kam auch wirklich ganz ruhig zurück und heuchelte den im Staub liegenden Brüdern gegenüber die größte Gleichgültigkeit: dabei blutete er aus der Nase, und sein Atem ging, als wollten die Rippen ihm aus der Haut platzen: im übrigen war er natürlich obenauf; er wußte jetzt, daß selbst das unbezähmte Wildpferd ihn nicht abzuwerfen vermochte. Es war klar: Varg war der Einzige, der große Pferdebezwinger; und die Brüder, die wohl auch ganz gute Reiter geworden waren, versuchten gar nicht erst, sich mit ihm zu messen, sondern huldigten seiner Meisterschaft mit froher Uneigennützigkeit; er war der Älteste, er war außerdem zuerst auf den Einfall gekommen, und was ein Mensch ganz neu beginnt, das soll er auch für sich haben. Das Pferd ward denn auch zum Schicksal für Varg wie für das Volk, das von ihm abstammte. Der Keim zu einem Volk lag in seinem Blut, darum war er so unruhig geworden, voll sturmvollen Drangs, unterzugehen mit und für etwas, und doch mit dem Gefühl, nicht sterben zu können.

Mittlerweile brach an der Küste das Eis, und Hvidbjörn und alle seine Söhne hatten alle Hände voll zu tun mit Seefahrten und neuen, verbesserten Schiffen; der ganze Sommer verging in einem Fieber von Arbeit und Getümmel auf dem Wasser.

Im Spätjahr verschwand Varg.

Die Brüder versuchten, es zu verschweigen, aber als der Vater in sie drang und Bescheid forderte, konnten sie nur erklären, daß Varg mit den wilden Pferden gezogen sei. Das war alles, was sie wußten.

Mit Varg verhielt es sich so: im Spätjahr, als die Steppe fahl ward und alle Zugvögel zur Reise zu rüsten begannen, war er schwermütig geworden. Selbst die Sonne hatte keine bleibende Statt, sie ging mehr und mehr im Süden auf und kroch tief über den Himmel hin, um frühzeitig zur Rast zu gehen. Schon war sie weit entfernt und drängte nach noch ferneren Wegen. Aber die Tage waren so klar, die Steppe lag in einem kühlen Abschiedslicht, unter dem jeder welke Halm sich in die windstille Luft reckte, nicht mehr grün, aber seltsam leuchtend und trauervoll. Eine vereinzelte späte Biene ließ ihr kleines Gesumme bruchstückweise von Ort zu Ort vernehmen, wo sie noch etwa eine verspätete Blume fand. Die Vogelschwärme, die sich in ihren Flugmanövern rechts und links und auf- und niederwarfen, waren in den schallklaren Tagen auf Meilen zu hören. Hoch im durchsichtigen Himmel wehten und wirbelten Spinngewebe und verflogen, die Wildgänse zogen davon im Mondenglanz, und der Sommer zog davon, die Erinnerung zog davon, alles, alles zog, zog davon.

Aber als nun auch die wilden Pferde gingen, als Herde um Herde aufbrach und fortzog gen Osten und Süden, bis sie nur noch wie ein Nebelfleck erschien, der bald auseinanderschwärmte und größer ward, bald sich wieder zusammenzog, je nachdem die Pferde, die einzeln nicht mehr zu unterscheiden waren, im Schwarm liefen; als der Nebelfleck zuletzt in endlose Ferne schwand und schließlich hinter der Grenze der Erde zerging, da war es Varg, als ob ihm das Herz zum Hals herausspringen müßte, um ihnen zu folgen. Er weinte über ihrer Spur, die sie, als letztes, auf dem Boden zurückgelassen hatten; das Heimweh nach ihnen, die Steppe, die jetzt so öde war, der Gedanke an ihre Welt, fern da draußen, von wo die Sonne kam, würgte ihn in der Kehle, als müsse er ersticken; er konnte nicht mehr Atem holen vor Schmerz. Wie ein Schnitt ins Fleisch war es, zu denken, daß die winzige kleine schwache Staubwolke weit, weit dort draußen die Herde war, in der sie nun trabten, einer beim andern, der alte Führer voran, die jungen Stuten in der Mitte, die jungen Hengste als Sicherung zu beiden Seiten. Wie er sie kannte! Einige waren immer in der Herde, die paarweis liefen, zwei Freunde, die sich nun einmal kannten und denen es nicht wohl war, wenn sie nicht Seite an Seite liefen. Pferdefreundschaft! Sie hatten keine Hände, um zu fassen, nur einen hornigen Huf, sie konnten nicht sprechen, aber wußte denn einer, wie seelenwohl es tat, sich gegenseitig die Köpfe kreuzweis auf den Hals zu legen; und war es nicht genug, gegenseitig die Wärme der Haut zu fühlen, während man Seite an Seite dahinzog? Ach, keine Wärme, kein Duft ist so süß, wie der des Pferdes! Varg wußte gar nicht, wie ihm war. Etwas mußte geschehen; er hätte sich am liebsten mit den Händen in die Erde gegraben, er rannte im Kreis um sich selbst, er schüttelte gewaltsam mit dem Kopf; denn wenn er stillestand auf einem Fleck und seiner Sehnsucht gewahr wurde, konnte er nicht leben.

Für gewöhnlich haßte Varg Gemütsbewegungen, haßte es, gerührt zu werden, und zog es vor, sich in einem oder dem andern tollen Streich Luft zu schaffen, über den er sich wenigstens nicht so zu schämen brauchte; hier aber fühlte er, daß nur eine wahnwitzige Tat, ein Sprung ins Feuer, ihm Linderung schenken konnte. Und eines Tags trafen Zufall und Eingebung zusammen. Eine der letzten Wildpferdherden war aufgebrochen und zog in geschlossenem Trab nach Südosten; Varg lag hinter einem Busch auf der Steppe und folgte ihren Bewegungen. Der Leithengst, das stärkste Tier von allen, lief an der Spitze, und plötzlich sieht Varg ihn in gerader Richtung auf den Busch zukommen; er muß dicht an ihm vorbeistreichen; vor seinen Augen wird es schwarz und nun tut er, was ihm – das erfaßt er wie durch einen innern Blitz – die ganze Zeit im Sinn gelegen hat: während der Hengst vorbeitrabt, sammelt Varg all seine Kraft und Behendigkeit und springt auf, just als das Tier ihn entdeckt und sich herumwirft, um Kehrt zu machen. Varg ist, wie, das weiß er selber nicht, an seiner Seite, fühlt seine Mähne in der Hand und setzt in zwei, drei langen Sprüngen neben ihm her, bis er zum letztenmal die Erde unter sich tritt und sich emporschwingt. Und jetzt sitzt er, wie er es geträumt hat! Zwei der Brüder sahen ihn von einer andern Stelle der Steppe aus, wo sie gerade standen, verschwinden, sahen ihn wie festgewachsen auf dem Hengst sitzen, der in wahnwitzigem Galopp dem Horizont zusprengte, hinter sich in einer Staubwolke die Herde. In wenigen Minuten waren Varg und die Wildpferde hinter der Rundung der Erde verschwunden. Die Brüder begriffen, daß Varg getan hatte, was er tun mußte, auch wenn sie ihn noch nicht verstanden. Zu Fuß erwarteten sie ihn nicht zurück.

Hvidbjörn hatte so seine eigenen Gedanken; er fürchtete nichts für seinen Erstgeborenen. Aber als einige Wochen verstrichen, ohne daß Varg wiederkam, und Vaar trauerte, machte Hvidbjörn sich auf und fuhr ein paar Tagereisen gen Süden, um bei den Grävlingern, den umherziehenden Eingeborenen, die da und dort weiter unten ihre Zeltlager hatten, Umfrage zu halten. Jawohl, sie konnten ihm Bescheid geben über seinen Sohn. Er hauste noch weiter gen Osten, zusammen mit einem wunderschönen Mädchen – die Grävlinger mußten das wissen – denn war sie nicht eine der Ihren? Und Varg hatte sie am hellichten Tag gestohlen, was immerhin, mit Verlaub zu sagen, einen Schadenersatz erforderte, den der Häuptling jedenfalls gern bezahlen würde für den Sohn. Im übrigen lebten die beiden jungen Leute recht armselig, ganz für sich und von allen andern abgesondert, auf ein paar entfernten Grasstrichen, wo sie, so hieß es, sich mit den wilden Pferden abgaben und sich in der Hauptsache wohl von Stutenmilch nährten! O, man hörte so allerlei! Kein Mensch war vor ihm sicher, denn er hatte ja die verrückte Gewohnheit, sich auf die Tiere zu setzen und mit ihnen in der Welt herumzusausen, und wo es etwas gab, was er haben wollte, kam er auf dem Rücken irgendeines wilden Tieres geflogen und holte es sich, wenn man dem Gerücht glauben wollte. Manche behaupteten geradezu, er sei ein unnatürliches Wesen, unten geschaffen wie ein Pferd mit vier Beinen, und oben wie ein Mensch; aber mit der Geschichte kam man höchstens weiter drinnen in der Steppe an; hier hatte man ihn ja mit eigenen Augen absteigen sehen, und menschlichen Geschmack hatte er jedenfalls auch bewiesen dadurch, daß er ein Weib davongeschleppt hatte. Im übrigen sollte sie ebenso närrisch geworden sein wie der Mann, hockte auf den Rücken der stummen Kreatur und folgte ihm auf allen seinen Streifzügen. Aber – fügten sie mit schrägen Augen hinzu – wenn von einem solchen Häuptling ein so beklagenswerter Sproß stammen konnte, so konnte wohl auch ein flugtolles Geschöpf von einem Grävling herstammen.

Hvidbjörn bedankte sich für die eingehende Auskunft und zog wieder heim. Schau, schau – Varg hatte also das Unmögliche wieder zustande gebracht! Nun ja, man mußte eben hoffen, daß das Leben für jedes neue Geschlecht anders aussah. Hvidbjörn konnte nicht leugnen, daß des Sohnes Treiben ihm mißfiel; er selbst hegte für die Eingeborenen mehr Mitleid als Achtung und hatte nie gedacht, daß er einmal auf diese Weise in Berührung kommen würde mit dem Gesindel. Aber was wollte man sagen? Die Hvidbjörnfamilie war, als eingewanderte, die einzige weiße in Livland; es gab also überhaupt keine andern Weiber! Es ließ sich nichts tun – man mußte Varg sein eigenes Leben leben lassen; die Folgen mußte er selber tragen. Vaar war untröstlich; daß sie selbst seinerzeit mit Hvidbjörn davongelaufen war, machte das Unglück nicht kleiner. Varg war für die Heimat verloren.

Im Winter kam er unvermutet zurück, im Schlitten, mit zwei prachtvollen, feurigen, gutabgerichteten Pferden davor. Der Schlitten war mit toten, gefrorenen Renntieren beladen, die er, ganz wie früher, wenn er von der Jagd zurückkehrte, in die Vorratskammer seiner Mutter trug; und sie dankte ihm dafür wie für ein Geschenk. Es war große Freude über das Wiedersehen; aber niemand ließ sich irgendwelche Überraschung anmerken, weder über Vargs Verschwinden noch über seinen plötzlichen Besuch; und keine Frage wurde gestellt. Die Brüder fanden ihn unverändert, nur daß er sich einen Bart zugelegt hatte, der nur leider fast nicht zu sehen war, weil er so hell war, und den Varg darum heimlich am Feuer mit Ruß einräucherte. Er sah hohläugig aus und war ziemlich barsch, aber äußerst zufrieden. Trotz seiner Magerkeit setzte er die Brüder durch Proben neuer gewaltiger Kräfte und Künste in Erstaunen. Über das, was er sonst erlebt und was für eine rätselhafte Welt er da draußen in der Wildnis zu der seinen gemacht hatte, wurde nicht gesprochen. Er blieb nur zwei Tage und kehrte dann wieder auf demselben Wege, auf dem er gekommen war, nach Osten zurück, im leeren Schlitten, voran die zwei wundervollen Pferde in langgestrecktem Galopp.

Aber beim Abschied hatte der Alte die Bemerkung fallen lassen, die Reise sei doch viel angenehmer zu zwei und wenn nicht jemand zurückbliebe, um den man sich bange, und Varg hatte dazu genickt wie ein Mensch, der zwar recht gut weiß, was er will, sich aber auch einen Rat merken kann.

Über ein Jahr verging, eh man wieder etwas von ihm sah. Da kam er wieder auf Besuch, und diesmal brachte er seine ganze Welt mit. Sie bestand, wie sich erwies, aus einer ungezählten Herde von Pferden, Varg wußte selbst nicht wie vielen, obwohl er jedes einzelne kannte. Sie waren nicht eigentlich zahm, wurden aber zusammengehalten und mit ihrem oder ohne ihren eigenen Willen versorgt, indem Varg fortwährend die Runde machte unter seiner Herde, ihr die Richtung angab, die er einzuschlagen wünschte, und verhinderte, daß eins der Tiere auf eigene Faust umherstreifte. Unterstützt wurde er dabei von seiner Frau, welche die Familie nun endlich zu Gesichte bekam.

Sie hieß Tju; und hieß nicht umsonst so; denn sie war wie ein Wirbelwind über der Steppe, ein Lustschrei und ein Sausen. Sie hing ebenso verwegen auf dem Pferderücken wie Varg, voll Feuer, mit sieben Leben im Leib, geschmeidig und weich wie eine junge Katze. War die Hvidbjörnfamilie blond und licht von Haut wie Regen auf dem Gletscher, so war sie braun wie der Sonne Brand auf der wolkenlosen Steppe und mit dem schwarzesten Haar, das man sich denken konnte. Die Augen, die ganz flach im Gesicht saßen, waren dunkel wie alter Honig; schön war sie nicht, aber sprühend vor Leben, mit ihren kleinen Gliedern behend wie ein Eichhörnchen, und Zähnen, so stark, daß es ganz wunderbar war; alles, was es festzuhalten galt, wenn die Hände im voraus genug zu tun hatten, packte sie mit dem Mund, und hatte sie sich einmal festgebissen, so blieb sie hängen mit all ihrer Wucht, und wenn sie hinter einem Pferd herschleppte. Sie war nichts als Klaue, Energie und sorgloses Lächeln dazu; sehnig und lachfreudig vom Kopf bis zu den Füßen. Auf dem Rücken in einem Ledersack trug sie ein Kind, das nicht schlecht durchgerüttelt wurde, wenn sie ganze Tage lang auf dem Pferde saß, und dem mehr als früh genug der Galopprhythmus ins Blut drang. Vaar nahm den Sack an seinen vier Zipfeln und schüttelte das Kind heraus, um es zu besehen; es schien prächtig zu gedeihen und glich ganz der Mutter, – schwärzlich, flach von Gesicht; aber es hatte Vargs blaue Augen und seine Hände. Und als es die der Großmutter entgegenstreckte, errichtete sie ihm natürlich sofort einen Götzenaltar in ihrem Herzen.

Die Familie kam übrigens nur auf der Durchreise; sie zogen mit ihrer Herde auf den verschiedenen Grasgebieten umher. Die Herde war ihr ganzer Besitz, außer einem kleinen Zelt aus Tierhäuten, in dem sie nachts schliefen.

Was ihre Nahrung betraf, so blieben sie bei der Pferdemilch, an der sie während der ersten tollen und süßen Zeit ihrer Landflüchtigkeit Geschmack gefunden hatten.

Alles, was neu ist und was besteht, beginnt in Liebe. Das begriff Hvidbjörn; und so ward Vargs eigentümlicher Geschmack anerkannt.

Ein paar Jahre schweiften sie so mit den Pferden umher; aber als diese sowie die Familie durch den gegenseitigen Verkehr miteinander ruhiger geworden waren, gründete Varg einen Wohnsitz daheim an der Küste, in der Nähe des Vaters, und setzte da seine Pferdezucht an einem festen Aufenthaltsort fort.

Von Vargs und Tjus Nachkommen stammen die unruhigen Pferdevölker Asiens ab, die ebensoviel vom Norden wie vom Süden in ihren Adern haben, die kumystrinkenden Zeltbewohner, all die freien Nomaden der Steppe, von denen ein Galopp durch alle Jahrhunderte geht.

Aber vom Wildpferd, das Hvidbjörn zurück nach Upland begleitete und später auf den Schiffen seiner Söhne um ganz Europa herumkam, stammt das Kriegsroß, das seinen Eigentümer, den Ritter, den Kavalier, zum Herrn der Erde macht. Von ihm stammt auch das arbeitstreue Pferd des Bauern, das den Pflug zog für das Korn, von dem der Bauer und es selbst und noch viele andere leben sollten.

Zum Gedächtnis an den schnaubenden Hengst, der Varg und Tju hinaustrug in das Gesetzlose, wo man lernt, in der gegenseitigen Lebenswärme zu werden wie zwei Pferde, die allezeit miteinander traben wollen, Flanke an Flanke, zum unsterblichen Gedächtnis daran steht ein Sternbild am Himmel.

Die Seele des wilden Pferdes lebt in der Sage vom Pegasus. Die ewige Jugend, Urzeit und Allzeit, ist in seinem Flügelsausen; aber der ist es nicht, der mich getragen hat; ich habe meine Mythe von daheim, vom Helpferd.

Ja, vom Helpferd, dem Freund der alten Bewohner des Nordens, in Krieg und Frieden, ihrer liebsten Nahrung, dem Opfertier, das sie vor allen andern den Vorfahren weihten und, das Antlitz andächtig mit seinem Blut bespritzt, verzehrten. Später, als man den Alten beibrachte, einen andern Ursprung zu ehren als ihren eigenen, und ihnen das Lamm anpries als die allein seligmachende Opferspeise, ward das Pferd verboten als unrein – das Pferd! – und lebendig unter der Schwelle der neuen Gotteshäuser begraben. Und hier erstand es als Helpferd, und gespensterte, hoho! Und es heißt, wer seinen Geist sieht, muß sterben. Nun ja, sterben werd ich gewiß.

Und von einem Ritt auf dem Helpferd, einem teuflisch-himmlischen Galopp in Gesellschaft der Toten durch das verlorene Land, habe ich meinen Mythus.


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