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Und die Nacht verrann. Nach Mitternacht zeigte sich eine kurze Zeit lang der Vollmond am Himmel und verlieh den unermeßlichen Wolken, die das Weltall umlagerten, einen schwachen Schimmer von Licht; und als die Wolken ihn wieder verschlungen hatten, ward es völlig dunkel, wie in einer unterirdischen Höhle. Der Regen nahm zu und fiel in alles ertränkenden Strömen über die Ruinen des Urwalds. Wie ein schräg herabrauschender Wasserfall stürzte es vom Himmel zur Erde nieder, der Regen schoß in ununterbrochenen Meeren herab, die die Erde bis in ihre Grundfesten aufwühlten.
Dreng hörte, wie sich das Wasser oben auf dem Gebirg ansammelte und sich über Klippen und Bäume herabwälzte, mit glockentiefen Abgründen, wie es in oder aus Höhlen brach, mit dunkelm Krachen von Bergrutschen und stürzenden Bäumen. Kein Laut von den flüchtenden Tieren in ihrer Not war mehr zu hören.
Es war, als ob der Himmel, der die Erde, soweit Menschen und Tiere zu blicken vermochten, mit unablässigen tödlichen Regenschauern gegeißelt hatte, dichter und dichter, bis es schien, als wolle ein ewiges Dunkel eintreten, sich jetzt zu einer letzten, vernichtenden Überschwemmung sammelte, die die ganze Erde zu verschlingen drohte. Die abgestorbenen Palmstämme krachten gegeneinander und brachen haufenweise unter dem brausenden Druck des Wassers im Wald zusammen. Ganze Inseln hingestürzten Waldes, mit nacktgeschwemmten Wurzeln, schwammen von den Bergen nieder. Der Himmel brüllte vor Regen.
Und wie kalt der Regen war! Ein eisiger Schauer drang unter die schützende Felswand, ein Schauer, den das Feuer, das auf die stetig niederströmende Regenmauer hinausleuchtete, nicht zu vertreiben vermochte. Die schlafenden Menschen krochen enger zusammen und erzitterten, von Träumen geängstet; ein paar wachten auf und blickten murmelnd hinaus nach den schwarzen Regenströmen, die wie ein Wall um sie standen; aber sie waren machtlos und vermochten sich nicht lange Zeit Gedanken über irgend etwas zu machen. Sie legten sich wieder nieder, die Arme über dem Kopf, seufzten tief auf und schliefen weiter, halb leblos vor Kälte. Es war eine lange Nacht.
Dreng schürte das Feuer und sah hinaus in den Regen mit Augen, die immer feindseliger unter den knochigen Brauen glitzerten. Sein Herz verhärtete sich; er wies dem Unwetter die Zähne. Da sich sonst nichts tun ließ, rüttelte er sich zurecht und machte sich daran, die letzte Hand an sein neues Flintbeil zu legen.
Eine Stunde vor Tagesanbruch ließ der Regen nach und hörte endlich ganz auf. Es ward so still in der Luft, daß man das Wasser meilenweit von den Bergen brausen und gurgelnd in den Sumpf der vernichteten Wälder sickern hörte. Alle Tiere schwiegen. Die Menschen unter der Felswand versanken in Betäubung und schliefen schwer, ohne das kleinste Zeichen von Träumen. Zwischen den treibenden, halb und ganz umgestürzten Baumstämmen begann es schwach zu dämmern; in bleicher, leerer Färbung trat der Himmel aus der Nacht. Es war windstill und sehr kalt, die Luft war erfüllt vom frischen Geruch der Erde, die der Regen aufgerissen hatte. Es war, als läge das Weltall nackt und frierend da und erwarte das letzte Gericht.
Kurz vor Sonnenaufgang ging das Morgengrauen in einem neuen Zug blauschwarzer, schwellender Wolken unter, die sich im Flug vermehrten und über den ganzen Himmel ausbreiteten. Es ward krankhaft düster und eine kurze Zeit lang ganz stumm in der Natur, und Dreng beobachtete in qualvoller Erwartung diese neuen Wolken, die schwärzer waren und unheilschwangerer als alles, was er bisher gesehen hatte.
Und plötzlich blitzte es aus diesem immer mehr sich verfinsternden Schlund, blitzte mit einer kalten, blauen, das Weltall umfassenden Flamme, in deren Licht die Wolken einen Augenblick lang weiß wie Feuer bis zum Gipfel des Himmels standen, ungeheure Welten von Zinnen und weißen Abgründen in der Höhe; unmittelbar auf den Blitz folgte der Donnerschlag wie ein kurzer, zerreißender Stoß, und gleichzeitig öffneten sich die Wolken und stürzten sich in schwindelndem Fall auf die Erde. Aber es war nicht mehr Wasser, was da kam, es waren weiße, peitschende Dinge, Hagel, der mit Eiskörnern gegen die Erde stürmte. In einer dichten, heulenden, pfeifenden Salve fegte der Schauer über die aufgeweichte Erde hin.
Der Donner schreckte alles Lebende. Im Wald klang ein vielstimmiges, ersticktes Jammern. Tiere, die in den überschwemmten Tälern lang mit dem Wasser gekämpft hatten, Hirsche, Tiger, alles durcheinander, hoben sich in einem letzten Krampf aus den Wellen dem blauen Blitz entgegen, und ihre Augen brachen, noch eh sie sanken, um nie wieder emporzutauchen. Fern, fern weckte das Einhorn das meilenweite Echo in einer Schlucht mit dem Notschrei seines Herzens, und eine Weile darauf trompetete es noch weiter fort, aber noch wilder. Es war rasend geworden und tobte besinnungslos durch ferne Wälder.
Alle Schläfer unter dem Felsvorsprung fuhren aus dem Schlaf auf und warfen sich wie Ein Mann vor dem Donner aufs Gesicht, riefen ihn an, winselten, flennten, schlugen auf die Erde und flehten verzweifelt um ihr Leben. Aber nachdem sie eine Weile geweint und sich im Staub gewälzt hatten und nichts weiter kam nach dem einen Schlag, gaben sie sich zufrieden und krochen näher ans Feuer, starrten mit ihren armen, blöden, noch tränennassen Augen in die Flammen und fühlten sich von Dankbarkeit durchbebt für das gnadenvolle Feuer, an dem ihnen vergönnt war, sich zu wärmen; sie streckten die Hände drüber aus und bewegten unwillkürlich die Lippen, als ob sie äßen, so behaglich war ihnen zumut. Und immer wieder nickten sie voll tiefen Danks: ach ja, das Feuer, das war ihr Herr und einziger Freund. Darauf kratzten sie sich eifrig, bissen ein Stück von dem Apfel ab, mit dem in der Hand sie eingeschlafen waren, zankten sich ein bißchen, kurz, sie waren wieder einmal glücklich der Vernichtung entgangen. Für das Weiße, was da draußen gefallen war, hatten sie nur flüchtige Blicke übrig; nun ja, häßlich sah es ja aus; aber beim Feuer wars gut, und jetzt gleich brauchte man ja nicht dort hinaus. Die Wärme betäubte sie bald. Tag war es noch nicht; sie gähnten und schüttelten sich, einer um den andern fielen sie zurück, krochen in das Lager, rüttelten sich zurecht an dem Platz, den sie trocken gelegen hatten, und bald schlief die ganze Gesellschaft wieder.
Nach dem Hagelschauer kam die Sonne. Die weißen Körner verschwanden rasch von der Erde in einem Dampf, der vom Boden aufstieg und sich unter den Strahlen der Sonne verzog. Eine kurze Zeit lang leuchtete heller Sonnenschein über den jämmerlich überschwemmten Wäldern, als wollte die Sonne sich das Werk der Zerstörung betrachten; aber bald zog ein unheimlicher Nebel sich über der Erde zusammen und in der Morgenstille, die jetzt folgte, begann es in dem nassen Wald seltsam zu krachen und zu zittern.
Irgend etwas geschah, etwas Stilles, Schleichendes, das man bisher noch nicht gekannt hatte. Ringsumher draußen lag die Allnatur in lautloser Pause, während derer die Erde sich einem neuen, schmerzvollen Wunder ergab. Die Kälte war das einzige, was Macht hatte in der Welt.
Jetzt vermochte Dreng sich nicht länger ruhig zu verhalten. Der Grimm, der sich seit Monaten während des unbarmherzigen Regens in ihm angesammelt hatte, lief über; er fühlte, das, was jetzt da draußen im Wald geschah, das war der letzte, tödliche, heimtückische Überfall; und jetzt sollte diesem Vernichter ein Ziel gesetzt sein! Jetzt wollte er ausziehen und ihn finden, wer er auch war, der da die Menschen aus ihren Wohnstätten trieb, die Tiere erwürgte und die Erde zerstörte; jetzt würde man ihn zwingen, sich zu zeigen!
Dreng nahm den alten, schlechten Feuersteinscherben vom Schaft und schnürte die neue, scharfe Klinge an, die er sich zurechtgehauen hatte. Dann schob er seinen Scheiterhaufen zusammen, deckte das Feuer gut zu und legte Holz auf, damit es lang brennen konnte; und jetzt war er fertig. Mit einem weichen Blick sah er auf die Brüder, die da ringsum lagen und im Schlaf leise fröstelten, die Gliedmaßen dicht an den Körper gezogen, sogar die Zehen zusammengekrümmt vor Kälte. Er fühlte, wie sehr er zu ihnen gehörte, wie gerade ihre Verantwortungslosigkeit, ihr gedankenloser, leichter Sinn ihn dazu trieb, auszuziehen als ihrer aller Beschützer. Sie sollten nicht frieren, sie sollten nicht umkommen. Dreng machte mit der Axt ein Zeichen auf seine Brust, wie um sich für sein Geschick zu weihen; dann schlich er sich unter der Felswand vor und begab sich allein hinaus ins Freie.
Es war schneidend kalt im Wald. Wie ein scharfes, unsichtbares Gift hing es in der Morgenluft. Dreng verlor die Besinnung; er fing an zu rennen, sprang lange blindlings durch den unwegsamen Wald, arbeitete sich über und unter den umgestürzten Bäumen durch. Am Boden des Walds stand eiskalter Schlamm, der ihm die Beine verbrannte, so oft er darein versank, und auf der Oberfläche lagen kalte, schneidende Dinger, lange, durchsichtige Messer und Scherben von Eis. Wie von einer Natter gebissen sprang er in die Luft und war eine Zeitlang ganz außer sich, stürmte einfach weiter, das Beil in der Hand, ohne überhaupt zu denken, wohin. Instinktiv wandte er sich aufwärts, den Berghang empor, um in Sicherheit dorthin zu gelangen, wo das Wasser weniger tief stand und ein freierer Ausblick war.
Droben auf dem Berg gewann er sein Gleichgewicht wieder und begann, ruhiger weiterzugehen, noch erschrocken zwar, und ganz außer Atem, aber immerhin, er sah wieder, was er vor sich hatte. Hoch auf einer Terrasse des Bergs öffnete sich der Wald zu einer Fläche, und mit der Furcht des Waldmenschen vor Lichtungen duckte er sich schon lang vorher und näherte sich ihr zuletzt auf allen Vieren. Es war, als erwarte er, hier den Feind zu treffen, den schleichenden Geist der Kälte.
Behutsam teilte er einen Strauch am Rand der Lichtung mit beiden Händen und spähte auf die Ebene hinaus. Nichts Lebendes war zu sehen. Das Gras, das der Regen durchfurcht und aufgerissen hatte, war erstarrt, die umgewälzten Bäume drüben auf der andern Seite schwammen weiß im Nebel. Totenstille. Der Busch, in dem er saß, war wie behaart, überall, an all seinen abgestorbenen Zweigen, mit durchsichtigen Scherben bedeckt; ein paar davon fielen ihm auf die Hände und schnitten ihm kalt in die Haut, bis sie zu Tropfen zerflossen. Er leckte daran und merkte, daß es frisches Wasser war mit einem Geschmack von der Luft, aus der es stammte, erstarrter Regen, der sich in der Wärme auflöste und wieder zu Wasser ward. Die Wipfel der umgestürzten Bäume ringsum waren weiß und wie behaart vom kalten Stoff, als wäre das eine neue Art merkwürdigen Blühens. Ab und zu strich ein Schauer durch die stillen Bäume, und der Reif stäubte zur Erde mit tausend kleinen, klingenden Tönen; es sang ganz fein und schmerzvoll durch den Wald, als ob Allerde im Schlaf ächze.
Dreng witterte mit weitgeöffneten Nüstern und sog die schneidende Frostluft ein, die seinen Geruchsinn aufs äußerste schärfte, aber keinerlei Botschaft brachte. Weder von Pflanzen, noch von Tieren. Dafür hatte er ein stärkeres Empfinden seines Selbst, seines Bluts und seines Atems; die klingende Reinheit und Süße der Luft machte ihn lebendiger, er schnaubte, er schüttelte sich aus vollen Kräften, daß der Reif des Gebüschs über seinen Körper rieselte. Er schaute sich herausfordernd um: wo war das mörderische Wesen, nach dem er ausgezogen war? Wie konnte er ihm beikommen? Still!
Es schnatterte fern über dem Wald. Dreng duckte sich. Einen Augenblick darauf sah er zwei Wildenten, die sich in vollem Flug auf einen kleinen See herunterwarfen, der dicht neben der Lichtung lag, einen Teich, den die Überschwemmungsnacht gebildet hatte, und der im Dunst ganz blank dalag, mit steinigen Ufern. Die Enten flogen, als sie den Teich fast erreicht hatten, ohne die Schwingen zu regen, und ließen die Beine darauf nieder – – und im selben Augenblick sah Dreng sie ein ganzes Stück über den Spiegel hingleiten, erst auf den gespreizten Füßen, und dann, als sie das Gleichgewicht verloren hatten, auf dem Schwanz. Sie konnten nicht ins Wasser kommen! Endlich kamen sie wieder auf die Beine und watschelten über den Teich, glitten aus, fielen schwerfällig auf die Seite, richteten sich wieder auf und blieben dumm verwundert stehen, machten verlegen kehrt und guckten sich mit den kleinen Augen, die hoch oben am Kopf saßen, um. Der Teich war gefroren, mit einem Spiegel von Eis überdeckt! Dreng zog verständnisvoll die Luft ein. Freilich! Er ging hinüber und blickte durch das klare Eis hinunter ins Wasser, das totenstill über dem Schutt und Kies des Grundes lag; er betastete das Eis mit seinen nackten Füßen und hörte, wie es mit sprödem Knirschen sprang: es trug ihn noch nicht. Er wanderte weiter durch das bereifte Gras, das ihn in die Füße schnitt, quer über die Lichtung, um noch höher hinaufzusteigen auf den Berg. Wo kein Gras wuchs, lag die nackte Erde so hart wie Stein und ließ eine Stimme hören, erklang mit erdigem Laut unter seinen Füßen. Es war der erste Winter.
Dreng kletterte über den Nebel weg, höher auf den Berg, wo die Sonne noch herrschte und die Erde nicht gefroren war. Der Wald hörte auf und machte für Strauchwerk und Heide Raum. Schließlich wuchs nur noch Moos auf den wilden Felsen. Endlich erreichte Dreng die höchste Spitze, stand in der Sonnenwärme und blickte hinab ins Tal, wo der Frostnebel lag wie ein tiefes, weißes Meer. Die Sonne, die mittlerweile hoch gestiegen war, löste ganze Wolken von Nebel da drunten und trieb sie hinaus in die Luft, bis sie hinschwanden und zergingen. Die Wirbelwinde, die droben im Sonnenschein unter dem blauen Himmel übermütig geworden waren, schlugen den Nebel nieder, rissen tiefe Rinnen hinein, und durch die Rinnen sah Dreng hinunter in die Tiefe des Tals, wo die entwurzelten Bäume gleich Stoppeln durcheinanderlagen und ganze Herden ertrunkener Tiere wie Fliegen in den hochgeschwellten eisigen Morasten schwammen.