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Die Nacht ist lang. Und Dreng sitzt sinnend am Feuer.
Wie er so wacht, ist er für die Kameraden Auge, Ohr und Seele in dem dunkeln, unendlichen Wald. Er ist der Mittelpunkt alles dessen, was sich auf Meilen im Umkreis regt; den leisesten Laut hört er, mit jedem einzigsten Haar seines Körpers wittert er, kein Lufthauch entgeht seiner Aufmerksamkeit, kein Geruch zieht vorüber, ohne ihm eine Botschaft zu bringen. Seine Nase ist so fein, daß er, durchs Gras schreitend, den Maulwurf unter der Erde verfolgen kann bis zu der Stelle, wo er haust. Seine Augen funkeln in nimmermüder Aufmerksamkeit umher, und wenn er schläft, hat er auf jedem Augenlid einen fahlgelben Fleck, der seinem Antlitz ein brütendes, gefahrdrohendes Aussehen verleiht und alles Lebendige, was sich ihm nähern will, erzittern macht. Er ist schweigsam, denn in seinem Kopf brütet es unaufhörlich. Niemand weiß, was sich in seiner Seele regt; und er selbst weiß es auch nicht, eh der Blitz der Tat aus ihm springt.
So ist er, und so zeigt ihn der Flammenschein, wie er da am Feuer sitzt – ein haariger junger Waldmensch, mit groben, massiven Augenbrauen, weitoffenen Nüstern und vorgeschobenen, brutalen Kinnladen. Die Herzgrube ist voller Haar, die langen Arme sind voll dichten Flaums, außer da, wo die starken Muskeln nackt durchgewachsen sind. Wenn er sein Werkzeug nicht in der Hand hat, um daran zu arbeiten, hält er es meist zwischen den Zähnen; und die Äste legt er ebenso oft mit einem von seinen Füßen ins Feuer, wie mit der Hand. In all diesen Zügen unterscheidet er sich nicht von den andern Waldmenschen, seinen Kameraden, die ums Feuer her liegen und schlafen; bloß daß diese vielleicht durchgehends schlanker, von weicherem Haarwuchs und geschmeidigerer Gestalt sind. Ihr wildes Äußeres reiht sie den Tieren des Waldes ein, deren Anmut ihnen auch noch eigen ist. Sie schlafen, in der einen Hand die Keule, in der andern eine halbverzehrte Frucht. Nur Dreng, der angefangen hat, für sie zu denken, nur Dreng ist hart geworden in seinen Zügen und unversöhnlich.
Drengs brutaler äußerer Erscheinung entsprechen der innerliche Grimm und die Energie, die Trauer über das, was war, die stufenweise angesammelten Erfahrungen, die ihn immer zornmütiger stimmen und schließlich zu einer Sprengung des ganzen Daseins führen müssen. Er hat nichts vergessen, sondern eins ans andere gefügt, und während er so dasitzt und sich mit dunkeln Ahnungen vom Untergang der Welt nährt, sammelt sich in seinem Blut eine Raserei an zum Widerstand, zur Tat.
Er sieht ja, daß der Wald dem Tode verfallen ist. Zu Ende ist es mit dem ewigen Sommer. Die warmen Haine verschwinden und Regen und Sturm halten ihren Einzug in den Gebirgen Skandinaviens. Weiter gen Süden stehen noch Wälder von Palmen und Brotfruchtbäumen, und die Weintrauben liegen noch und reifen auf den Klippen, die sich auf blaue Sunde hinaus abdachen. Aber wie lange? Wenn sie heimkommen ins Lager, wo der Stamm wohnt, werden die jungen Männer, die jetzt hier am Feuer liegen und sich auf der einen Seite vor Hitze krümmen und auf der andern vor Kälte, die schweren, sonngetränkten Trauben in die Hände fassen wie Euter, und werden lachen und sich zurücktrinken zu Glückseligkeit. Aber das Jahr darauf wird Dreng die toten Weinstöcke an jenem selben Platz für seinen Scheiterhaufen brauchen können, und das Lager wird weitergezogen sein, und wie lang wird das so fortgehen? Der Wald ist todgeweiht; unwiderruflich, unabwendbar schreitet eine Macht von Norden daher und vernichtet ihn.
Dreng schaut sich nach den Bäumen draußen im Regen um. Sogar jetzt, zur Nachtzeit, sieht er all die Vernichtung, und was er nicht sieht, das weiß er, vom Tag her. Alle Palmen sind tot und stehen ohne Kronen, die abgestorbenen Stämme ragen in die Luft wie große abgenagte Knochen. Die Farrnkrautbäume hängen schwarz und abgestorben, mit verfaulten, modrigen Spitzen, Mimosen und Akazien haben sich schon seit Jahren zusammengerollt und sind bis zur Unkenntlichkeit verregnet, alle immergrünen Bäume sind bis auf die Wurzel eingegangen und ragen mit bleichen, rindenlosen Zweigen gleich Skeletten in die Luft. Gewaltige Zedern und Gummibäume liegen umgestürzt, mit vom Regen entblößten Riesenwurzeln, die zwischen den Trümmern anderer erstorbener Bäume aufragen. Alle Blumen und Sträucher hat der kalte Regen getötet. Der Waldboden ist ein Sumpf von Moder und großen, nackten Steinen. Bloß ein paar Nadelbäume scheinen widerstehen zu wollen; aber sie ducken sich, wachsen seitwärts und das Harz erstarrt in ihrer Rinde und wird weiß. Huh! tönt es durch den Wald.
Huh! Kalt seufzt es durch die geplünderten Wipfel der Bäume, und darüberhin stöhnt es im Dunkel wie hastig-atmende Flügelschläge. Es sind Schwärme von Wildvögeln, denen droben, nördlich vom Paß, die Beine im Wasser allzu kalt geworden sind, und die nun auffliegen und südwärts streichen. Sie verständigen sich gegenseitig hoch oben in der schwindelnden Nacht, in abgebrochenen, landflüchtigen Tönen, Wildgänse, Störche und Flamingos. Froh sind sie nicht. Dreng hört das schwindende Lebewohl und fühlt ihnen ihre Heimatlosigkeit nach.
Tief im Waldesinnern raschelt es auf dem jahrtausendalten Pfad, den das Wild sich über den Paß gebahnt hat. Dreng kennt ihn wohl; und er sitzt mit seinen allwissenden Sinnen und hört zu, wie es die ganze Nacht durch wandert und schleicht und schwer einherstapft und leise hintrippelt über den Paß, wo der Sturm immer stärker wird. Das sind die Tiere, die jede Nacht in großen Herden von den Wäldern im Norden der Berge hinab zu südlicheren Tälern ziehen. Dreng kennt sie an ihrem warmen Schweiß, er weiß alles von ihnen, obwohl er sie in der Nacht nicht sieht. Er hört sie, weiß ganz genau, wo sie ziehn.
Und während die Nacht verrinnt, defilieren lange Reihen von Dickhäutern, Urelefanten, Titanentieren, Nashörnern über den Paß, mit großen aufmerksamen Ohren, voller Spannung, vibrierend, patschnaß, fastend. Manchmal rumpelt es einem der gewaltigen Tiere hohl in den Eingeweiden, wie ein Erdrutsch, oder der Elefant windet seinen Rüssel und hustet knarrend, daß es im tiefen Wald widerhallt. Der große Höhlenlöwe hat einen Schnupfen und niest kummervoll, und trocknet sich nachher mit der Pranke das Auge, während er weitergeht. Das Warzenschwein hat keine Luft im Rüssel, schnarcht schwermutsvoll und schlägt mit dem Schwanz ein Fragezeichen.
Nicht lang darnach trippelt es von feinen Hufen, die scheuen Grasfresser des Waldes wandern auch aus, dazwischen der verstohlene Tritt der Raubtiere, die auch keine bleibende Statt mehr haben. Da trippeln Gazellen, so flüchtig und bleich von Farbe wie Mondflecken unterm Laub, zusammen mit buglahmen, stinkenden Hyänen; das wilde Pferd und das Okapi wandern, Paar um Paar, mit Tiger und Leopard; denn heute nacht sind die Tiere auf der Wanderschaft und haben jegliche Scheu voreinander vergessen. Der Nordwind saust mit seiner langen, kalten Geißel hinter ihnen her über den Paß; Schwärme verschwinden in der Senkung nach Süden zu, und neue Herden kommen von Norden her über den Paß. Die Giraffe schwenkt ihren langen Hals und fegt mit der gehörnten Stirn das welke Laub von den Zweigen, während sie stumm, mit geisterhaft feuchten Augen, mit den andern Schritt hält. Kleinere Tiere folgen dem Trupp in raschelnder Eile, das Stachelschwein, der Tapir, der Ameisenbär; alles, was da Beine hat, drängt südwärts.
Und hoch über dem Pfad durch die Bäume zieht ein Auswandererzug; die unsteten Affen, deren Bleibens nicht länger ist in diesen Gegenden. Wie ein plötzlicher Drang ist es über sie gekommen; sie müssen etwas tun; sie müssen überlegen; wie denn nicht? Keine Gelage von Kokosnüssen mehr; sie sind zu Ende. Keine lärmenden Volksversammlungen mehr in den Baumwipfeln, um zu entscheiden, welcher von ihnen ausgestoßen werden muß; alle sind sie ausgestoßen; der Wald geht dem Verfall entgegen. Sie wandern aus, sie bequemen sich wirklich dazu, obwohl sie verärgert knurren. Es paßt ihnen gar nicht, mit den Händen in die nassen Zweige zu greifen; mehrere weigern sich auch ganz entschieden, kommen aber doch, nachdem die andern gegangen sind, hinterdrein. Keiner von den Affen sieht sich auch nur einmal noch um. Nur wenige der auswandernden Tiere tun das.
Eins der großen Elefantentiere drehte sich um und blickte zurück nach den heimatlichen Wäldern; da vermochte es nicht weiter zu gehen; es wandte um und suchte den Weg über den Paß zurück. Das war das Mammut. Auch ein paar andere Tiere blieben, weil es ihnen besser paßte; aber es erwarteten sie keine guten Tage.
Überall im Wald raschelt es seltsam von aufbrechenden zornigen Tieren. Tropfend vor Schlamm steigt das Flußpferd aus seinem See ans Land; es ist ihm zu kühl geworden. Dreng hört, wie es die Luft aus seinem großen Bauch ausstößt und schnobernd durch das welke Unterholz zieht, auf der Suche nach wärmeren Wassern. Dreng hört mit einem seltsamen Schmerzgefühl, wie die wenigen Tiere, die zurückbleiben, sich im Wald sammeln; fort können sie nicht, aber sie sind voller Bangen, sie rufen einander mit veränderter Stimme, leiser, kleinmütiger als sonst. Das Renntier steht eine Weile ganz still unter einem Baum; es versteht den Wald nicht mehr und nicht sich selbst; ab und zu wedelt es mit den Ohren, schüttelt den Kopf, wechselt die Stellung mit leisem Knacken der Fesseln. Der Moschusochse, so recht als das große Schaf, das er ist, ist ganz in der Stille verrückt geworden und befindet sich schon auf der Fahrt gradaus nach Norden, grade in entgegengesetzter Richtung von allen andern. Der Bär ist höchst verdrossen; aber ans Wandern hat er noch nicht gedacht. Er scharrt trockenes Laub zusammen zu einem Lager; er ist erkältet und will zu Bett. Er ist gar nicht bei Laune und schnaubt empört über dies Wetter, das gerade jetzt kommen muß, wo er mit seinen Bienen zu tun hat. Dafür wird er jetzt ein Nickerchen machen, bis die Sonne ihn wieder weckt, und wehe dem, der ihn etwa aus Versehen stört! Meister Petz ahnt nicht, daß es ein langer Schlaf sein wird, dem er entgegengeht. Dachs und Igel folgen seinem Beispiel und verkriechen sich in die Erde, in Erwartung besserer Zeiten.
Aber nicht alle Tiere sind so praktisch. Der ganze Wald ist voll von Geschöpfen, die weder jagen noch einen Unterschlupf suchen, sondern die bloß die ganze Nacht ratlos umherirren, weil die Kälte ihnen keine Ruhe läßt. Dreng hört, wie sie hin und her schleichen, Hirsche, Büffel und wilde Ziegen; sie stehen einen Augenblick still und sichern gegen den Wind, um sich zu orientieren; sie spitzen die Ohren, um etwa zu vernehmen, woher der böse Wind weht; dann lassen sie den Schwanz hängen und ducken sich, schleichen hin und her. Keins kommt dem Feuer nah; den Geruch kennen sie und wissen, daß das Scheinende, was von dort ausgeht, beißt und frißt, schlimmer als irgendsonst etwas im Wald.
Nur einmal – um Mitternacht – bemerkt Dreng zwei funkelnde grüne Lichter nicht weit im Walddickicht und sieht das Funkeln zweier langer, entblößter Zähne: das ist die Säbelkatze, die da herankriecht, das entsetzliche Tier mit den Messern im Rachen. Aber warum fürchtet es sich nicht vor dem Feuer heut nacht? Weshalb wagt es sich so nah heran? Ein Schauer läuft über die Schläfer, sie fühlen die Bestie im Traum; ein paar ächzen gequält auf, und Dreng fühlt es schmerzhaft durch alle Adern flammen beim Näherkommen des furchtbaren Feindes. Aber die Säbelkatze entfernt sich wieder; einsam blinkt sie mit den hungrigen Augen und entfernt sich. Der Regen trieft ihr an den schlaffen, gestreiften Flanken nieder; ihr ist kalt; und vielleicht fühlt sie sich in ihrem Tigerherzen von einer Grausamkeit gepackt, die tödlicher ist noch als die ihre. Dreng hört sie davonschleichen und im Wald umherstreifen, ohne Ziel, ohne Blutdurst, unschlüssig; und er weiß, auch ihr ist das Urteil gesprochen, auch sie ist ausgestoßen. Das aber tat Dreng weh und erschreckte ihn. War es wirklich so weit gekommen, daß die Säbelkatze, die große Freundlose, die bisher dem Haß und Fluch aller Geschöpfe standgehalten hatte, daß die zum Feuer geschlichen kam, nicht um sich einen Menschen zur Abendmahlzeit zu holen, sondern bloß um ihre Schwermut preiszugeben und wieder zu gehen ohne Fraß! Was denn sollte vor sich gehen in der Welt, was war denn heimlich beschlossen? wer war der Unermeßliche, der da von Norden kam und den Wald vernichtete und die Tiere vertrieb, was war das für eine mitleidlose Macht? War es ein Mann oder war es ein Wesen, das keiner zu sehen vermochte, ein mächtiger, böser Geist? Konnte man ihn denn nicht erschlagen, konnte man ihn nicht zwingen, sich zu stellen und den Kampf aufzunehmen? Konnte nicht ein Beil zur rechten Zeit seinem Siegeszug Einhalt gebieten?
Die Nacht ist lang. Weit in der Ferne heulen die Wölfe in traurigem Chor, und im hohlen Baum sitzt der Schuhu und stößt seine unheilverkündenden Klagelaute aus. Der eine Vogel jammert und der andere spottet, wieder andere zürnen; das Krokodil heult, den Rachen voller Fraß; die Hyäne windet sich vor schadenfrohem Lachen und ihr Hinterteil schnurrt ein vor unflätiger Lust; aber nicht eins der Tiere verfällt darauf, eine Herausforderung hinauszuheulen gegen den Räuber, den Massenmörder, der sie alle vernichtet; nirgends ein Racheschrei, ein bewußter Mordplan. Alle Geschöpfe fliehen, still, jedes für sich; durch den Wald tönt ein einsames Wimmern von Raubgetier und wildem Viehzeug, das wehrlos der Kälte preisgegeben ist.
Dreng schwor, sie zu rächen.
Es war eine von den Nächten in der Übergangszeit, als das tropische Klima der Vorzeit Nordeuropas überging in die Eiszeit. Aber die Erinnerung an die Wärme blieb haften in der Seele der Menschheit, auch lang nachdem sie sich von ihrer nordischen Heimat über die Erde hin verbreitet hatte; die unauslöschliche Sage vom Garten des Paradieses. Im Norden lebte die Menschheit ihre Kinderzeit, und die Erinnerung daran, die tiefe und schmerzliche, die ist das verlorene Land. Selbst die Tiere, die auf ihre eigene blinde, instinktive, gebundene Weise träumen, bewahren in der Freimütigkeit, mit der sie sich gegenseitig auffressen, noch die Erinnerung an den entschwundenen Unschuldszustand, damals, eh die Kälte in die Welt kam.