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Die Drengsöhne

Das Volk im Norden nahm zu. Während der Gletscher wuchs, vermehrten sich Drengs und Moas Nachkommen zu zahlreichen Familien und kleinen Stämmen, die auf der Berginsel verstreut wohnten und das Leben der Stammeltern weiterlebten.

Im Anfang nahm das Gletschervolk Blut von ihren ursprünglichen Stammesverwandten in den Wäldern auf. Drengs Söhne machten Jagdzüge gen Süden, zu den Waldmenschen, und holten sich Weiber, ebenso ihre Söhne, und es war schon längst der Brauch, daß die Jungen auf dem Gletscher, wenn sie reif waren, dadurch die Mannesprobe ablegten, daß sie in die Wälder hinabzogen und sich dort Frauen eroberten. Diese Züge wurden stets zur Zeit des Frühjahrs unternommen und hatten eine gewisse kraftvolle Feststimmung an sich, von der die Jüngsten träumten und deren Erinnerung die Alten dankbar bewahrten. Außer dem Heimbringen neuer kraushaariger Mädchen gaben diese Ausflüge nämlich noch Gelegenheit zur Berührung mit den Verwandten der jungen Braut und eine willkommene Abwechslung in der Kost; es gingen lustige Sagen um von Weiberraub mit darauffolgenden Gelagen, bei denen man im Festrausch die Braut selber mit verzehrt hatte, so daß man, um nicht mit leeren Händen nach Hause zu kommen, den ganzen Zug noch einmal hatte machen müssen. Man ließ sichs wohl sein in der Fremde.

Aber wenn die jungen Männer erst wieder heimgekehrt waren zum Gletscher mit ihren Waldmädchen, wurden diese in Ehren gehalten, teils in Anbetracht ihrer Seltenheit, teils weil sie sich bald Achtung erwarben als fruchtbare Mütter; und die halb unwillkürliche Grimasse, mit der man sich ihnen näherte, um sie ohne weiteres aufzufressen, ward nach und nach zu etwas, was Liebkosung und Besitzesfreude ausdrückte.

Jedoch die Entfernung ward größer und größer, je mehr der Gletscher sich ausbreitete; manchmal nahm es ganze Jahre in Anspruch, die Eingeborenen in den Wäldern im Süden aufzusuchen und mit Frauen zurückzukehren. Außerdem verlor sich der Gebrauch schließlich auch aus einem andern Grund: das Gletschervolk wurde mit der Zeit groß genug, daß die Jungen der verschiedenen Familien, wenn auch ganz weitläufig verwandt, einander doch hinreichend fremd waren, um in das gegenseitige Staunen zu verfallen, das junge Menschen zusammenführt. Alles hat seine Zeit. Auch die Weiberjagden gehörten schließlich der Vergangenheit an. Drengs Nachkommen und sein ursprüngliches Stammvolk waren schon zwei ganz verschiedene Arten von Menschen. Immer mehr schwärmerische Sagen von den dunkeln, schönen Töchtern des Urwalds gingen um; aber die einzelnen Exemplare, die es noch gelang herbeizuschaffen, rochen sämtlich nach Moschus und behagten dem Geschmack der Gletscherleute gar nicht. Ein anderes sind Träume, die einem das Wasser im Mund zusammenziehen, ein anderes ist die unappetitliche Wirklichkeit. Und nachdem Zeit und Entfernung die beiden Völker nach und nach schließlich ganz getrennt hatten, galt jegliche Neigung für wilde Weiber als zuchtlos, wogegen die Träume, die sich von ungestilltem Verlangen aufs üppigste nährten, immer wundervollere Formen annahmen und schließlich naturgemäß damit enden mußten, das Schöne selbst, als eine Welt an sich, hervorzubringen.

So vertiefte sich der Abgrund zwischen den beiden Völkern, die der Gletscher getrennt hatte, auf ewig. Sie waren nicht mehr Gleichgeartete. Die Trennung ward eine schicksalsschwangere. Das Urvolk, das immer weiter zurückwich, war dasselbe geblieben, blieb immer dasselbe, während Dreng, der sich nicht beugen konnte, ein anderer geworden war und sein verändertes Wesen auf seine Nachkommen vererbte. Die Waldbewohner wichen immer weiter vor dem Winter zurück, zogen mehr und mehr nach Süden, in dem Bestreben, immer ihr gewohntes Einerlei zu leben, und dies Zurückweichen sollte sie, während sie sich gleichzeitig immer mehr ausbreiteten, dereinst in ferne Himmelsstriche und über alle Teile der Erde führen. Drengs Geschlecht dagegen blieb im Norden ansässig und richtete sich dort ein, unter immer schwierigeren Verhältnissen, die einen Fortschritt an Ort und Stelle erzwangen. Sie glichen nicht mehr den nackten, gedankenlosen Wilden, von denen sie ursprünglich stammten; sie waren andere Menschen.

Die Drengsöhne wurden bei dem mühsamen Jägerleben auf dem Gletscher groß und bärenstark. Die Kleider, die sie anhatten, machten eine Behaarung überflüssig; ihre Haut ward weiß und rot, weil sie immer im Schatten lebten. Das stets feuchte Wetter bleichte ihr Haar und ihr Auge, das dereinst das verschlossene Dunkel des Walds aufgewiesen hatte, färbte sich unter den tiefen Brauen mit der Farbe der Gletscherklüfte und des grünblauen, offenen Schimmers fern am Horizont zwischen Eis und Himmel.

Und auch ihr Wesen ward anders als das der fernen Urväter; sie hielten es nicht mehr nach Art der Waldleute, die ohne Besinnen den Baum mit der Wurzel ausrissen und sich zur Erde warfen und ein Lager aufschlugen, wo's grade traf. Ihr Dasein zwang sie, lang zu überlegen und dann, wenn es Zeit war, zu handeln. Sie lebten nicht ungeteilt in der Gegenwart, im ewigen Sommer des Urwalds; sie mußten zurück- und vorausdenken, wenn sie den Wechsel der Jahreszeiten überstehen wollten. Statt der sehr harmlosen Leidenschaftlichkeit des Urvolks wappneten sie sich mit einer Beherrschtheit, die aussah wie Kälte; die große Tragweite aller ihrer Unternehmungen zwang sie, zweimal zu überlegen und zuzuwarten. Das machte sie verschlossen und scheinbar unfroh, und von ihren Wohnstätten ertönte nicht das Gezwitscher wie aus den Laubhütten im Wald. Aber Lebensfreude und heftiges Gefühl lagen tief in ihrer Natur und hatten nur an Stärke zugenommen. Hierin schlugen sie alle Dreng nach, dessen lebenslängliche Ruhe, aber auch dessen rasende Gewalttätigkeit, mit der er bei zwei oder drei Gelegenheiten seine Urkräfte geltend gemacht hatte, geradezu sprichwörtlich waren im ganzen Geschlecht. Es hieß, niemand hätte Dreng je lachen sehen, und doch waren Beweise dafür vorhanden, daß er sein Dasein genoß, mächtiger als jeder andere Lebende. Er war ja auch unsterblich. Das Gletschervolk umgab den alten Einäugigen mit immer dunklerer Ehrfurcht; jede Überlieferung von ihm ward heilig gehalten. Alles kam von ihm.

So ward das Leben auf der Berginsel weitergeführt, durch mehr Generationen hindurch, als irgendein Mensch noch zurückdenken konnte; viele Jahrtausende gingen hin, die alle vollständig dem Leben Drengs und Moas, der ersten Eltern, glichen; und schließlich – nun ja – war es eben einmal so!

Die Männer verfertigten sich Waffen und lagen der Jagd ob. Hierin änderte sich weiter nichts, als daß das Wild immer seltener wurde und immer weiter weg aufgespürt werden mußte. Dafür legten alle Familien sich zahme Renntiere zu, die geschlachtet wurden, wenn die Jagd fehlschlug. Das wichtigste Wild war das Mammut, dem das Gletschervolk schon vor undenklichen Zeiten den Waffenstillstand gekündigt hatte und das in Fallgruben gefangen und mit Harpunen erlegt wurde. Leider gab es nur wenige seiner Art, und diese mußten auf fernen Berginseln, oft nach meilenweiter Wanderung über den Gletscher, aufgespürt werden.

Es galt daher auch als großes Ereignis und erregte allgemeinen Aufruhr, ein Posaunen in Mammutzahn und ein Freudengeschrei über die ganze Insel hin, wenn die Jäger nach langer Abwesenheit nach Hause kamen und ihren Fang meldeten.

Das Signal ging die ganze Insel an, insbesondere aber einen bestimmten Familienkreis, dem der glückliche Jäger, der das Mammut zuerst aufgespürt hatte, angehörte. Hier brach die ganze Niederlassung auf; alles, was kriechen und gehen konnte, zog, ein oder mehrere Tagereisen weit, über den Gletscher, bis zu der Stelle, wo das erbeutete Riesentier lag. Feuer und Felle zu Zelten hatten sie mit sich, und es entstand um das Mammut ein ganzes Lager, das sich in die maßlosesten Fleischgelage stürzte und sich schließlich völlig von Sinn und Verstand fraß. Die glücklichen Gletschermenschen, die um das Mammut herumschwärmten, sahen selber aus wie geschlachtet, überzogen mit Blut von Kopf bis zu Fuß. Sie schleuderten ihre Felle von sich und tauchten, nackt, wie aus Mutterleib, kopfüber in das rauchende Innere des Riesentiers, jeder mit einem Feuersteinmesser in der Hand, um das noch der Duft des Blitzschlages schwebte, so frisch war es eben erst zugehauen. Die Weiber schürzten sich, bis ihnen die Kleider wie ein Ring um den Hals standen, und stießen geschäftige Schreie aus, während sie zwischen dem Mammutkadaver und den Holzstößen hin- und herrasten. Unsagbare Dinge gingen vor sich. Alles war erlaubt bei einem Mammutschlachtefest.

Eingeleitet ward das Gelage durch den warmen Magensack des Mammuts, der noch voll von halbverdauter Nahrung war – ganze Haufen von Lärchennadeln, Moos, Tymian, Baumrinde und Beeren, alles mit dem Magensaft vermengt und verschweißt zu einem leckeren Brei, der den Fleischessern, die an grüne Kost nicht gewöhnt waren, tief in die durstenden Adern drang. Diese Speise war die Lieblingsspeise des Einäugigen gewesen auf seine alten Tage hin; er pflegte zu sagen, sie erinnere ihn an seine Jugend in den schwülen Urwäldern. Ein gut Teil des Wanstes samt Inhalt ward bei jedem Mammutschlachtefest beiseite gelegt, um, wenn man nach Hause kam, an Drengs Grab geopfert zu werden. Alte Jäger wußten von der Vorliebe des Einäugigen für Mammutwanst zu erzählen; ihre Vorväter hatten ihnen das als eine Überlieferung ihrer Vorväter erzählt. Und als eine höchst merkwürdige Sage wurde dann immer hinzugefügt, daß das Gletschervolk in Drengs und seiner Söhne und Enkel Zeiten nicht größer gewesen wäre, als daß alle zusammen samt ihrem ganzen Hausstand nur grade ein Mammut auf einmal verzehren konnten. So lang war das her. Jetzt – das war keine Frage – jetzt konnte das Gletschervolk, wenn es vollzählig versammelt war, so viele Mammute aufessen als Finger an eines Mannes Hand waren – auch noch die Zehen obendrein!

Sagen und Lieder, entschwundene Zeiten und Gestalten gingen um bei den großen Mammutgelagen, wenn der Fleischrausch die Zungen löste, manch böses Alpdrücken gebar die wildesten Träume. Man erging sich in weitläufigen, spannenden Geschichten von dem einen oder andern Mammut, das toll geworden war und die Jäger zertrampelt hatte – so ein schändliches Mammut, das hungrigen Menschen nicht einmal etwas gönnte! War man richtig satt, so satt, daß einem der letzte Bissen im Hals stecken blieb und die Kehle schmierte, kam es ganz von selbst, daß man von dem übernatürlichen Mammut fabelte, das Gott und aller Welt Vorfahren wirklich gesehen, oder das man sogar – besonders wenn man Niere verspeist hatte – selbst in einer Winternacht auf dem Gletscher erblickt hatte, ein ungeheures, altes, männliches Mammut mit Stoßzähnen, die bis zum Nordlicht emporragten, und einem Fell, das vor Alter ganz weiß war wie ein Schneesturm, der Mammuturvater, dessen Erscheinen Hungersnot bedeutete. Wenn sich bei einem verborgene Skaldengaben fanden, so kamen sie bei solch einem Mammutschmaus zutage, und manch guter Sang, der nach dem Fett des Holzstoßes, nach Bratenduft auf dem Gletscher und nach den darüber funkelnden Sternen schmeckte, ging später von Mund zu Mund.

Nicht eher kehrte der Stamm von einem erlegten Mammut nach Hause zurück, als bis er buchstäblich mit Haut und Haaren davon Besitz ergriffen hatte. Was vom Fleisch nicht aufgegessen war, wurde in Streifen geschnitten und geräuchert heimgebracht. Die Wolle verwandte man zu Kleidern und zur Auspolsterung der Hütten; Knochen, Därme und Sehnen, jedes hatte seine Bestimmung, alles fand Verwendung. Und wenn alles gesammelt und nach Hause gebracht war, begann die Verteilung. Das war fast das zeitraubendste Geschäft; denn alle auf der Insel sollten etwas von dem Tier haben, mehr oder weniger, nach gewissen festen Überlieferungen. Das Gletschervolk hatte stets geteilt, von der Zeit an, als noch Dreng der Alte den Schlachtefesten vorstand und dafür sorgte, daß alle gleich großen Anteil erhielten. So war es seither geblieben, und es war nachgerade nur schwierig geworden, das durchzuführen, weil das Gletschervolk sich so vermehrt hatte, daß ein einfaches Verteilen ganz unmöglich geworden war. Man mußte sich nach den Verhältnissen richten. Es existierten ganz bestimmte ererbte Gesetze für die Verteilung, die niemals verletzt wurden; aber die Ausbreitung der Stämme machte Neuauslegungen der Gesetze notwendig, die bald so verwickelt wurden, daß bloß wenige sich noch darin zurecht fanden. Erst sollte der glückliche Jäger, der das Wild aufgespürt hatte, seinen Anteil haben; er erhielt den einen der Stoßzähne, aus dem er sich ein herrliches Tuthorn oder neue, treffliche Harpunen machte. Der andere fiel dem Einäugigen anheim und wurde gleichzeitig mit dem Mammutwanst und anderen guten Dingen am Grab geopfert. Das Fleisch und das übrige des Tiers wurde darauf nach strengen Regeln verteilt, und zwar so, daß der Stamm, dem das Los das Mammutfest beschert hatte, das meiste erhielt, während der Rest je nach Verwandtschaftsgraden verteilt wurde, bis jede einzige Familie auf der Insel einen, wenn auch noch so geringen Anteil der Beute erhalten hatte. Ganz besonders begünstigt war natürlich das Garmgeschlecht, das von Drengs Erstgeborenem abstammte und das das Recht besaß, die Opfer für den Einäugigen entgegenzunehmen. Ein einziges Mammut konnte, so schnell es auch aufgegessen war, eine einzelne Familie gut mehrere Jahre und die ganze Insel den größten Teil des Winters durch beschäftigen, so viel Wolle gab es zu flechten, so viele Därme und Sehnen zu drehen. Wunderbar, wie viel in so einem Tier steckte, das, wenn auch gewaltig, sich aus der Entfernung am Gletscher nicht größer ausnahm als eine Fliege.

Außer dem großen Elefanten des Nordens jagten die Männer das wollhaarige Nashorn, das Renntier und den Moschusochsen, den Eisbären und viele kleinere Tiere, Füchse und Hasen, die sich in den Felsen aufhielten oder auf dem dazwischenliegenden Eis umherstreiften.

Der Jagdgenosse des Gletschervolks war der Hund, der seit den Tagen Drengs sich in einer ganzen Reihe zahmer Arten ausgebreitet hatte und jetzt seinem ehemaligen wilden Stammesverwandten, der mit den Wölfen Gesellschaft hielt und in ihnen aufgegangen war, äußerst feindselig gegenüberstand. Auch daheim machte sich der Hund nützlich, indem er die Renntierherden bewachte und sie verhinderte, von der Insel wegzulaufen.

Aber außer der Jagd und den Massenarbeiten der Männer war ihre Lebensweise ganz dieselbe wie zur Zeit des Stammvaters Dreng, trotzdem unsagbar viele Menschenalter seitdem vergangen waren. Die Häuser waren noch dieselben von schweren Steinen beschützten Erdgruben, die Kleider waren dieselben gekauten, mit Fett gegerbten und nach guter alter Sitte durch Renntierriemen zusammengehaltenen Felle. Daß eine Veränderung geschehen könnte, war ganz undenkbar; denn so, in dem, was war, bestand ja eben die Ordnung, die Dreng eingesetzt hatte und die für das Gletschervolk die einzigste war. Was für ihn maßgebend gewesen war, wie er sein Leben gelebt hatte, das war auch gut genug für seine Kinder und ward Sitte für alle Menschen seines Bluts.

Nur ein Umstand war da, an den der Vater seinerzeit wohl kaum gedacht hatte: nämlich, daß ihrer so viele werden würden auf der Berginsel. Allerdings war diese recht ausgedehnt, erstreckte sich weit, mehrere Tagereisen nach jeder Seite; aber trotzdem waren es eben im Lauf der Zeiten zu viele geworden. Und es kamen immer mehr dazu, die Kinder schossen nur so aus der Erde auf, sie mehrten sich in den verschiedenen Wohnstätten fast wie die Fliegen auf den Abfallhaufen. Wenn die Kinder mehrerer Familien zusammenkamen, konnten sie ganze Herden bilden, die über die Insel hinrasten und den Verkehr für die einzelnen Erwachsenen fast gefährlich machten. Immer verlangten sie zu essen und gaben grinsend zu verstehen, sie wären mit allem zufrieden, wenn sie nur überhaupt etwas bekämen. Wenn es sich zufällig so traf, daß eins der eigenen Kleinen mit in der Herde war und mit blanken Zähnen seine Erzeuger anfletschte, die es im übrigen – so inmitten der Herde – gar nicht zu kennen schien, so konnte das die Alten manchmal fast wehmütig stimmen.

Aber es gab noch andere mißliche Dinge, als bloß die Schwierigkeit, für so viele hungrige Mäuler Futter herbeizuschaffen. Die Nahrungsmittel waren nicht gleichmäßig verteilt, und zwar gerade deshalb, weil alle auf der Insel gleich waren. Die gegenseitige Gemeinschaft hinderte den einzelnen daran, sich frei zu entfalten.

Dies und außerdem gewisse innere Verhältnisse, die Rücksichtnahme auf das Gedächtnis des Stammvaters, begann wie ein Zwang auf das Gletschervolk zu drücken. Drengs Ordnung, die ursprünglich darauf angelegt war, alle zu erhalten, drohte schließlich, das Wachstum des einzelnen und damit der ganzen kleinen Gemeinde auf der Insel zu unterbinden. Die Allvater-Anbetung, die nach und nach in ein System gebracht worden war, sammelte wohl das Gletschervolk zu einem Ganzen, hinderte es aber auch daran, sich zu entwickeln. Alle Rücksichten liefen an Drengs Grabhügel als an ihrem Mittelpunkt zusammen, wie es ja auch anders gar nicht sein konnte. Aber eine steigende Mißlichkeit lag darin, daß die gemeinschaftliche Anbetung durch ein ganz natürliches Vorrecht von einem bestimmten Geschlecht ausging, das von dem Erstgeborenen Drengs, Garm, abstammte. Dieser Stamm hütete Drengs Grab und nahm die Opfer für ihn entgegen.

Keinem wäre es eingefallen, zu glauben, daß der Einäugige, ihrer aller Vater, tot sein könne. Er war ja seinerzeit weder erschlagen worden, noch durch Wasser umgekommen, wie andere Menschen, sondern war, als es ihm so gefiel, hinabgestiegen in sein Haus und war seither dort geblieben. Viele behaupteten noch Menschenalter nachher, sie hätten ihn gesehen, und auch jetzt gab es noch Leute, die zu gewissen Zeiten Feuer aus dem Hügel dringen sahen. Der Alte lebte ganz bestimmt und mußte selbstverständlich Nahrung haben; das Beste von der Ausbeute der Jagd war nicht zu gut für ihn. Daß Garms Geschlecht, das das Grab bewachte, darum Opfer entgegennahm und es sich von den frommen Gaben mehr oder weniger offenkundig selbst wohl sein ließ, fand man bloß in der Ordnung; was der Familie zugute kam, das kam einem selber zugute. Ebensowenig fühlte man sich benachteiligt, weil man die Hälfte seiner Beute abgeben mußte. Aber in späteren Zeiten blieb für den Jäger selbst kaum noch ein Zehntel übrig. Man jagte eigentlich, fast buchstäblich gesprochen, nur noch für andere. Und Garms Nachkommen wollten auch auf andern Gebieten herrschen, die mit der Verteilung der Beute gar nichts zu schaffen hatten, und verschafften der Furcht, die vom Grabe ausging, Geltungskraft zu eigenem Nutzen. Sie hatten die Macht. Sie besaßen das Feuer und dessen Quelle.

Natürlich hatte jede Familie ihren Holzstoß, der mit größter Sorgfalt gehütet und brennend erhalten wurde. Und wenn es – in knappen Zeiten – das letzte Stümpchen Talg kostete, das Feuer durfte nicht ausgehen. Geschah es trotzdem, so gab es keine andere Hilfe, als sich einen Brand von dem alten Holzstoß zu holen, den Allvater selbst angezündet hatte und der im Besitz von Garms Geschlecht war. Daß dies kein Feuer hergab ohne reichliche Gegenleistung oder irgendwelche Verpflichtungen anderer Art, versteht sich von selbst. Das Garmgeschlecht entwickelte ein haarscharfes Verständnis für den eigenen Vorteil, das sich durch Vererbung auch keineswegs abstumpfte. Außer diesem heiligen Feuer waren sie auch im Besitz des Feuersteins, hatten also genug und im Überfluß. Ihr Feuer war allzeit gesichert, selbst wenn der Holzstoß erlöschen würde; sie kannten das Geheimnis des Feuers. Einige böse Lästerzungen wollten wissen, der Einäugige habe seinen ältesten Sohn Garm in die Kunst eingeweiht mit dem Befehl, alle darein einzuweihen, und Garm habe es für besser befunden, sie für sich allein zu behalten; andere behaupteten, Dreng habe den Stein mit sich ins Grab genommen, damit niemand ihn finden solle, worauf Garm den Grabfrieden gebrochen und den Stein an sich gerissen habe. Wie es sich auch verhielt – man wußte, der wunderbare Stein war im Besitz des Garmgeschlechts. Er ging in grader Linie vom Vater auf den Sohn über, und kein Mensch hatte ihn je gesehen, außer eben der Älteste jeder Generation. Es gab keine übernatürliche Kraft, die man ihm nicht zuschrieb. Im übrigen war er noch nie zur Erneuerung des Feuers gebraucht worden; dies hatte ununterbrochen gebrannt, seit Drengs Tagen.

Das Gletschervolk beugte sich im Hinblick auf den gemeinsamen Vater willig vor dem Garmgeschlecht. Aber die Wirkung dieser Allvater-Anbetung war, daß alles, was an Überlieferungen vom Leben und den Sitten des Einäugigen in den Geschlechtern bewahrt wurde, ein für allemal als einziggültig festgelegt war, und dies förderten die Garminger aus allen Kräften. Nichts war erlaubt, was nicht durch Überlieferung geheiligt war, von dem man nicht sagen konnte, der Alte hätte es auch so gemacht. Allen den ersten einfachen Gebräuchen, die seinerzeit – wenn auch durch Drengs Hand – lediglich der Notwendigkeit entsprungen waren, ward eine tiefere, heilige Bedeutung beigemessen, und jede neue Energie, die befreiend hätte wirken können, ward darunter erstickt. Die Folge davon war ein Erstarren des täglichen Lebens; man wagte vor lauter frommen Rücksichten kaum mehr, sich zu rühren. Nach und nach erlosch auch die Jagdfreude des einzelnen Mannes. Aber es gab keinen Ausweg aus dem, was alle als Notwendigkeit betrachteten; es war ja einfach undenkbar, daß jemand dem Grab Allvaters die Ehrfurcht weigern sollte, die ja nur eine natürliche Äußerung des eigenen Herzens war. Das fanden die Glieder des Garmgeschlechts auch, und sie stärkten sich zu unerschütterlicher Wahrung der Frömmigkeit, indem sie sich fleißig von all dem Mammutwanst nährten, den das Volk dem Einäugigen opferte.

So standen die Dinge, und so blieben sie auch, solange der Gletscher weiterschritt, und das war lange. Fremde Sternbilder mit Schweifen tauchten am Himmel auf und entfernten sich wieder, mystisches Entsetzen im Gedächtnis der Menschen zurücklassend. Generation folgte auf Generation, Lage auf Lage von Knochen und Kohle legte sich auf die Abfallhaufen der verschiedenen Lagerplätze. Männer, die sich noch ihrer eigenen zarten Kindheit erinnerten, als wäre es gestern gewesen, sahen ihre Kinder heranwachsen und mit ihren Säuglingen spielen, die wiederum dasselbe sehen würden. Und noch immer hieb das Gletschervolk sich seine Beile und baute sich seine Feldsteinhäuser in der Erde, genau wie – einer dunkeln, aber unverletzlichen Überlieferung nach – Allvater es gemacht hatte. Und während die Zeiten vergingen, spannen sich die Gemüter ins graue Dunkel eines einförmigen Lebens ein.

Rund um die Berginsel redete der Gletscher, wie er seit Jahrtausenden geredet hatte – mit dumpfem Dröhnen und Krachen in den Höhlen unter dem Eis, mit ersticktem Knirschen gegen das Urgebirge, mit unterirdischem Rauschen von Wassern; aber keiner hörte es. Der Laut war alt und dem Ohr gewohnt.

Die Männer auf dem Gletscher waren es, die gebunden waren und es selber gar nicht einmal wußten. Aber während sie ausschließlich in ihrer Jagd und freiwilligen Unfreiheit aufgingen, kamen von seiten der Frauen eine ganze Menge Verbesserungen, unmerklich, ganz von selbst. Keinem Menschen fiel es ein, ihnen einen Anteil an der sozialen Ordnung der Männer zu geben; sie standen außerhalb der Notwendigkeit und hatten soweit volle Freiheit. Nicht, daß die Frauen nicht auch ihre eigenen kleinen Sitten gehabt hätten, die vielleicht noch unverletzlicher waren als die der Männer, eben weil die Gewohnheit sie geschaffen hatte, und nicht sie selbst. Aber es lag eine gewisse verschleierte, dem Urwaldgemüt der Südländer engverschwisterte Vergeßlichkeit in ihrem Geschlecht, die tagtäglich vieles mit offenen Augen an sich vorübergehen ließ. Nichts ist so unweiblich, als anders zu sein als andere, und dies kann manchmal jeden Widerstand gegen etwas Neues geradezu zum Verbrechen machen.

So im täglichen Leben hatten die Frauen Moas Gewohnheiten übernommen, beschäftigten sich viel mit allerhand Flechtarbeiten, mit Zusammentragen fürs Haus und natürlich vor allem mit ihren Kindern. Sie trugen sie auf dem Rücken, selbstverständlich, auch daheim in der Hütte und obwohl man überhaupt keine Wanderzüge mehr unternahm; denn so hatte es Moa gemacht. Im Sommer wurde Korn und überhaupt alles Eßbare gesammelt, was auf der Insel wuchs, und im Winter drehte man Garn und flocht Kleider – das war so althergebracht wie Sonne und Mond.

Aber die Frauen machten jetzt Töpfe aus Lehm und brannten sie im Feuer. Hatte Moa das getan? Vielleicht – vielleicht auch nicht. Die Frauen hatten ihre Körbe so lange mit Lehm verdichtet, bis einer beim Trocknen über dem Feuer verbrannt und nur der Lehm zurückgeblieben war. Das war der erste Topf. Einer Unachtsamkeit verdankte man ihn. Das ganze Geschlecht hatte daran teil. Er war reizend! Dann war da wohl einmal ein junger Übermut, der sich nicht die Zeit nahm, den Topf erst über dem Korb zu formen, sondern ihn gleich aus Lehm machte. Kühn – aber es hielt! Die andern machten es ihr nach, und jetzt formte man seine Tonwaren immer für sich.

Aber die gebrannten Töpfe führten zu einer wichtigen Veränderung in der Lebensweise, indem man sich daran gewöhnte, das Essen zu kochen, anstatt es, wie früher, im Feuer zu rösten. Noch setzte man freilich die Töpfe nicht übers Feuer, sondern legte glühende Steine darein, bis das Essen gut war.

Tagelang, wenn die Männer auf der Jagd waren, lagen die Frauen, heiß und schwitzend, am Herd und machten sich allerhand zu schaffen. Alles mußte ausprobiert und berochen, gebräunt, aus einem Topf in den andern geschüttet, gekostet und wieder anders gemischt werden. Aus reiner Neugier, aus Müßiggang lernten sie Brot backen; sie mußten doch probieren, mußten alle ihre guten Sachen vermengen, sie warm machen, ehe sie sie in den Mund steckten; sie rösteten Gerstenkörner auf einem Stück Stein; dadurch wurden diese ganz besonders süß; sie zermalmten die Körner zwischen zwei Steinen, schütteten vor dem Backen Wasser oder Milch daran und machten die wunderbarsten Kuchen daraus, die die Kinder draußen auf dem Lagerplatz in Schlamm getreulich nachbildeten; und da die Männer ebenfalls Geschmack fanden an den Broten, wurden sie zu einem stehenden Gericht, sofern sich eben Korn beschaffen ließ. Auf den heißen Herdsteinen gebacken und mit Asche gewürzt, die salzig schmeckte, bildeten sie eine beliebte Zuspeise, besonders im Winter, wenn keine frischen Kräuter zu haben waren. Im übrigen warfen die Frauen einfach alles miteinander in den Lehmtopf – Wurzeln und Zwiebeln, Fleisch und Talg, schütteten Wasser daran und wärmten die Suppe mit heißen Steinen, die das Essen zum Kochen brachten und ihm außerdem noch durch die daranhängende Kohle und Asche Wohlgeschmack verliehen. Wenn so ein rotglühender Stein, der wie eine kleine Sonne durch die Höhle glänzte und Funken und Sterne sprühte, in den Topf geworfen wurde und das Wasser darin aufsprudelte, daß der ganze Topf rauchte und der Dampf dick in die Luft stieg, da konnte wirklich jeder sehen, daß durch die Kraft des Feuers ein böser Geist aus dem Wasser ausfuhr, ein Geist, der sich wälzte und grimmig knurrte, so daß man den Topf geradezu festhalten mußte, damit er nicht umkippte. Bestimmtes verlautete nicht darüber, ob Moa seinerzeit etwas vom Kochen gewußt hatte; obschon … wer konnte das wissen! Was man heute tat, hatte man wohl immer getan! Das Kochen war eben.

Wenn die Frauen nicht ihre leckerhaften Künste am Feuer trieben, flochten sie sich Kleider, eins immer feiner und überwältigender als das andere, aber alle stets in strenger Übereinstimmung mit dem Geschmack aller. Ein Jahrhundert lang war es unumgänglich notwendig, sich bloß in ein Eisbärenfell zu kleiden, das vorn von oben bis unten offen war. Die Eisbären wurden fast ganz ausgerottet, und die Frauen kamen fast nie an die frische Luft, weil die Mode gar so kalt war. Aber was wollte man machen? Die Notwendigkeit sich just so zu kleiden, lag darin, daß niemand unter irgendwelchen Umständen auch nur den kleinsten Schimmer von der Rückseite der Frauen zu sehen bekommen durfte. Eine nüchterne spätere Zeit konnte dann wiederum nicht fassen, wie die Leute in alten Tagen sich einer so unglücklichen einseitigen Schamhaftigkeit hatten befleißigen können.

Natürlich trugen die Frauen auf dem Gletscher immer alles nur Erdenkbare zu Putz und Schmuck zusammen. Ein Kranz von Wolfszähnen, die durchbohrt und an eine Schnur gereiht waren, nahm sich nun einmal ganz besonders vorteilhaft aus am Hals solch eines schwachen Geschöpfs, das nur ein Weib war! Ein Knochen durch den Nasenknorpel gehörte zu den Schmuckgegenständen, die jeder sich leisten konnte, und hielt sich darum verhältnismäßig nur kurze Zeit. Hoher Wert wurde auf einen schönen Teint gelegt, den man sich dadurch zu verschaffen suchte, daß man die Haut mit Ocker pflegte, der aus den Quellen der Insel gewonnen wurde. Die blühende Farbe verbreitete sich rasch vom Gesicht über den ganzen Körper, und der Bericht muß hinzufügen, daß auch die Männer angesteckt wurden; auch sie liebten es, sich mit Ocker und Fett einzureiben, bis sie feuerrot waren und weithin leuchteten in ihrer Pracht.

Aber außer diesen Verbesserungen des äußeren Menschen hatten die Frauen einen Gebrauch eingeführt, den Moa, die Alte, nicht kannte, einen Brauch, der durch lange Generationen zurückging und über dessen Ursprung niemand mehr nachdachte: sie molken die halbzahmen Renntiere und verwendeten die Milch im Haushalt. Es lag dem vielleicht eine kleine, traurige und schöne Sage zugrunde, eine Sage, stumm, wie das Herz einer Mutter – die Sage von einem Weib, das keine Milch gehabt hatte für ihr Kind und sie von den Renntieren genommen hatte, die, zum Schlachten im Winter bestimmt, zwischen den Lagerplätzen umherliefen. Später hatten dann die Leute Geschmack an der Renntiermilch gefunden. Jetzt standen stets Töpfe mit frischer und gestandener Renntiermilch in den Vorratskammern, und manchem Renntier ward aus diesem Grund das Leben geschenkt. Diese Sitte sollte späterhin weit führen.

Alles in allem kam man gut aus miteinander auf dem Gletscher und führte ein ehrliches und einfältiges Dasein. Aber der stete Zuwachs an Bevölkerung drückte auf einen und man kam nicht recht vorwärts. Vielleicht wären die Bewohner des Nordens für immer auf diesem Standpunkt eines armen, redlichen, in unfruchtbaren Rückblick eingeschlossenes Jägervolk geblieben, wenn nicht gerade dieser feste Ring, in dem ihr Dasein erstarrt war, dazu gedient hätte, mit der Zeit wieder einen auszuschließen, wie dereinst Dreng – einen neuen Empörer und Befreier, der gegen den Willen seines Volkes es über sich selbst hinausführte.

Und gleichzeitig veränderten sich auch die Lebensverhältnisse auf dem Gletscher von Grund aus – dem Gletscher, der zu jeder Zeit die Schicksale der Menschen bestimmt hatte.


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