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Hvidbjörn und Vaar

Keiner auf der Berginsel billigte Hvidbjörns Untat; nicht einmal sein eigenes Geschlecht. Den Mord fand man schließlich begreiflich; aber er hatte den Oberpriester geschlagen, und die Übertretung war auf heiligem Boden geschehen – das war ein Todesverbrechen. Auch nicht eine Stimme erhob sich für Hvidbjörn, als er unter großem Volkszulauf an Allvaters Grab für friedlos erklärt ward. Er war ausgetilgt aus dem Herzen des Gletschervolks, und jeder, der ihm nur einen freundlichen Gedanken schenkte, geschweige denn ihm Schutz oder Obdach gab, war friedlos, wie er. Hvidbjörn und Vaar sollten ausgestoßen sein in den Gletscher, ohne Feuer, in alle Ewigkeit verflucht; und wer sie traf, sollte sie betrachten wie jedes andere Wild, das für jedes Menschen Harpune reif war.

Der Fluch ging über Hvidbjörns und Vaars Häupter weg. Sie hatten sich viele Meilen weit draußen auf dem Gletscher auf einer fernen Klippe angesiedelt, wo sie in hinlänglicher Einsamkeit das Wohlgefallen junger Menschen aneinander, aber auch das bittere Brot der Verbannung kosteten.

Sie waren ohne Feuer. Und rohes Fleisch macht stark, und verlangt doch auf die Dauer heftig darnach, zubereitet zu werden. Jedoch, es war Sommer. Sie wohnten herrlich in einem Zelt von Fellen, auf der Klippe wuchs eine ganze Menge Korn und Kräuter, die Vaar sammelte und aus denen sie Zuspeisen bereitete zu der rohen Kost. Sie machte aus dem Korn kleine Brote, mußte sie aber freilich Hvidbjörn ungebacken auftischen, wenn er von der Jagd nach Hause kehrte. Hvidbjörn verschlang sie unter allerhand Grimassen und sang ein lustiges Lied; warmes Essen wäre im Grunde doch eigentlich eine unwürdige Verzärtelung. Späterhin gegen Herbst gab es auf den Bergspitzen, die aus dem Gletscher emporragten, allerhand Beeren, mit denen man die rauhe Kost würzen konnte. Es ging ihnen ganz ausgezeichnet in ihrer Armut. Bald aber ward es kalt; der Nachtfrost kam, der erste Schnee – und der Winter.

Hvidbjörn hatte ein gutes, festes Haus gebaut aus schweren Steinen und hatte eine Menge Pelzwerk herbeigeschafft, und Vaar hatte Fleisch und Kräuter im Vorrat gedörrt. Außerdem hatte Hvidbjörn ein paar wilde Renntiere heimgebracht, die man auf der Klippe anbinden würde, bis sie zahm wurden und Milch gaben. So gingen sie dem Winter entgegen. Er kam – stürmisch und bitter kalt. Und so versuchten die zwei, einen Winter ohne Feuer durchzumachen. Hvidbjörn wußte, das war auch früher schon gegangen. Jetzt aber zweifelte er doch fast daran, ob es wahr sein konnte.

Die Nächte waren lang und dunkel wie im Schoß der Erde. Man wußte zuletzt kaum mehr, wo man war und ob man überhaupt war. Ein Glück, daß sie zu zwei waren, so daß der eine sich halten konnte am andern. In den langen schwarzen Nächten fing Hvidbjörn an zu denken. Er sah vor sich die Heimat mit all ihren üppigen Feuern; es ward ihm fast hell vor den Augen und er spürte die Wärme über die ganze Haut, wenn er daran dachte. Jetzt saßen die Garminger und die andern braven, gehorsamen Leute am Feuer und graulten sich und erzählten einander, daß der Mörder Hvidbjörn jetzt wohl bald so tief gesunken wäre in seiner Armut, daß er seine Frau schlug und sagte, sie sei daran schuld! Noch vor Mitwinter würden sie ja wohl das Paar bettelnd im Lager wiedersehen. Und Hvidbjörn lächelte im Dunkeln.

Noch als das Jahr in Todeskälte und unaufhaltsamem Schneefall zu Ende ging, so daß Sonne und Mond mit unterzugehen drohten, lachte Hvidbjörn, wenn er Vaar in den Armen hielt. Aber sie zitterte. Die zwei Neu-Ansiedler waren zu reich, als daß sie hätten trauern können; keine Klage kam in ihren Mund. Aber sie froren entsetzlich. Hvidbjörn beschloß, sich Feuer zu verschaffen.

Erst schlug er sich, nacheinander, jeden Gedanken daran aus dem Kopf, es von andern zu erhalten. Das Nächstliegende war ja, heimzuschleichen und sich Feuer von einem der Holzstöße zu erbitten oder zu stehlen; aber das war das letzte, was er getan hätte. Weniger unmöglich schien es, einen Brand vom heiligen Feuer der Garminger selbst zu holen, während eines offiziellen Besuchs mit Harpune und Beil und so weiter; aber – nein, Hvidbjörn konnte nicht. Wenn Ildgrim und sein Geschlecht das Feuer geerbt hatten, so gehörte es ihnen und keinem andern. Lange weilten seine Gedanken bei dem geheimnisvollen Feuerstein, den Ildgrim, wie er wußte, in Allvaters Grab aufbewahrte. Wenn man eines Nachts dort einbrach und ihn holte? Dreng der Alte war ja selbstverständlich nicht mehr lebendig dort unten; das war ein Aberglaube. Höchstens daß seine Gebeine im Grab lagen und moderten, und die würden einem nichts tun. Aber der Alte hatte doch einmal gelebt und seinem Geschlecht das Feuer gegeben; es war wohl am besten, alles, was ihn anging, zu lassen wie es war. Dem Urvater zu nahe zu treten, war unerhört, solang sich noch ein anderer Ausweg denken ließ. Und es war ja immer noch der Ausweg da, selber Feuer zu finden. Und das nahm Hvidbjörn sich vor. Selbstverständlich. Er trug Brennmaterial von dem Kieferngestrüpp auf der Insel zusammen und legte es in Form eines Holzstoßes zurecht. So weit kam er in diesem Winter.

Das Jahr darauf wanderten sie aus. Den Sommer über blieben sie noch auf dem Felsen wohnen; es war ein denkwürdig heißer, gewalttätiger Sommer mit stechender Sonne und fast täglichen Gewittern, der ganz sichtbar am Gletscher zehrte. Der eisfreie Raum auf dem Felsen erstreckte sich doppelt so weit, wie gewöhnlich, und auch die umliegenden Inseln waren viel größer. Der Gletscher blinkte mit seinen grünen Abgründen unter den Blitzen in den hellen Nächten. Wenn nicht gerade der Regen niederrauschte, standen die Wolken himmelhoch und weiß wie Glut, seltsam lebendig, wuchsen in leuchtendem Schwellen, im Sonnenglanz aus sich selbst heraus, bis sie sich wieder zusammengeschlossen hatten und einen warmen Guß über den Gletscher strömen ließen. Die Blitze schlugen ins Eis und sprengten es bis auf den Grund, das Donnerkrachen hallte in den triefenden Klüften wieder. Es war ein wildes Wetter. Weder Hvidbjörn noch Vaar vermißten diesen Sommer das Feuer. Aber Hvidbjörn hatte den Winter nicht vergessen; am tiefsten Herzen fraß es ihm noch, daß er Vaar hatte leiden sehen. Er fühlte, Feuer mußte beschafft werden.

Der wilde Sommer verstrich ohne wesentliche Veränderung in der Höhle, als daß ein Wunder von einem Jungen ihnen geboren ward, den Hvidbjörn, jauchzend vor Glück, hinauftrug in den Regen. Er kam mit zwei Zähnen auf die Welt und ward von dem entzückten Vater zu großen Dingen bestimmt. Jedenfalls war er ein großer Esser.

Aber als zum zweitenmal auf dem Felsen die Luft kalt zu werden begann, ward Hvidbjörn unruhig. Er hatte ja kein Feuer hergeschafft. Die Nächte wurden erst blau und dann schwarz. Hvidbjörn stöhnte im Schlaf, wenn er nicht wach lag und grübelte. Eines Nachts nahm er Vaar in seine Arme, und sie hörte, daß er geweint hatte, während er ihr anvertraute, daß er kein Feuer finden könne. Ob sie meine, sie sollten wandern? Ja! Vaar würde mit ihm gehen bis ans Ende der Welt. Damit war es entschieden. Hvidbjörns Plan war, südwärts zu ziehen. Wenn er kein Feuer beschaffen konnte, so mußten sie ihren Aufenthaltsort wechseln. Fern im Süden – das hatte er gehört – hörte der Gletscher auf, und dort sollte ein warmes Land sein mit großen Wäldern, bewohnt von nackten, wilden Menschen; dorthin zu kommen mußte man versuchen.

Es war schon tief im Spätjahr, als die kleine Familie aufbrach. So spät es auch war im Jahr, so bereitete das Gewitter ihnen noch einen Abschied mit Donner und strömendem Regen und Blitzen, unter denen abgrundgrün der Gletscher leuchtete. Hvidbjörn sah sich um. Blitz auf Blitz, über den ganzen Himmel hin, die ganze Welt voll Feuer, und für ihn nicht ein einziger Funke! Er lächelte. Aber es war ein altes, müdes Lächeln, das mit den tiefen Furchen in seinem Gesicht zusammenlief. Dann zogen sie aus, und nicht ein einziges Mal wandten sie sich um, um zurückzublicken.

Eine kleine Herde halbzahmer Renntiere und ein Haufen Felle zu Zelt und Kleidung war alles, was die Familie besaß, außer Hvidbjörns Waffen und Vaars Körben mit allerhand Kleinkram darin; und so ausgerüstet machten sie sich auf den Weg nach Süden. Der Winter holte sie ein, und er war streng. Aber es erleichterte die Wanderung, daß der Gletscher sich mit Schnee bedeckte, der zusammenfror zu meilenweiten Schneefeldern, über die es sich leichter ging als über das zerklüftete Eis.

Den ganzen Winter wanderten sie, ohne besonders weit zu kommen; und Hvidbjörn dünkte es, als würde er ein alter Mann. Bis ins Mark strengte er sich an, während der Wanderung die Not von dem kleinen Zelt im Schnee fernzuhalten. Oft mußte er eine Spur Tage und Nächte lang verfolgen, eh er mit einem Wild zurückkehren konnte: und er wußte – inzwischen waren die beiden im Zelt so ziemlich schutzlos. Vor ihm das flüchtige Tier, das sich nicht fangen lassen wollte, und hinter ihm die Angst, die sich schwer an seine Fersen heftete; und doch mußte er vorwärts, um wieder umwenden zu können. Wenn er heim kam, fand er das Zelt verschneit und die paar zahmen Renntiere trippelten mit gefesselten Vorderbeinen in einer zerstreuten Herde im Schnee umher und atmeten Reif aus.

An ihnen vergriff Hvidbjörn sich nicht, so schwer es auch war, Fleisch aufzutreiben; ihre Milch war Vaars Zuflucht, wenn er vom Zelt fort war, und sie bildeten in sich selbst einen Vorrat, der nur in der äußersten Not angegriffen werden durfte. Vaar sammelte Moos und Flechten für sie von den losen Steinen und Felsblöcken, die auf dem Gletscher zerstreut lagen, und verteidigte sie gegen die Wölfe, wenn Hvidbjörn mit den Hunden auf der Jagd war. Wenn er dann ein tüchtiges Stück Wild erlegt hatte, brachen sie das Zelt ab und zogen weiter.

Wenn Schneestürme kamen, gab es keine andere Rettung, als in einer Höhle unterzukriechen und das Unwetter über sich rasen zu lassen. Auf diese Weise verbrachten sie Wochen in ununterbrochener Dunkelheit, in der sie fast die Sprache verloren. Sie erduldeten Härten, wie sie sich später dem Gedächtnis überhaupt nicht mehr zurückrufen lassen, weil sie die Seele lähmen und ihre eigene Spur auslöschen. Der Winter war so lang und bitter, daß er die beiden Menschen wie mit einem Nebel umhüllte, und sie sich zuletzt nicht mehr erinnerten, daß sie auf der Wanderschaft waren oder wo sie hin wollten oder wer sie überhaupt waren. Es mochten ebensogut Jahrtausende sein, die vergingen. Das Nordlicht reckte sich in stummem Wahnsinn am Himmel und begann wie eine nahe und doch ferne Ewigkeit zu Häupten der Familie ohne Feuer zu gespenstern, die sich da im Schnee und auf der Wanderschaft verlor.

Und doch war dieser Winter kürzer als gewöhnlich; das Tauwetter kam frühzeitig und mit Macht. Aber solang sie auf dem Schnee wanderten, half es Hvidbjörn nichts. Sie waren in der letzten Zeit rascher voran gekommen, denn Hvidbjörn hatte das Fahren eingeführt – etwas, was später zum Schlittenfahren werden sollte. Anstatt die Renntiere das Zelt und die übrigen Lasten tragen zu lassen, war er darauf verfallen, sie das Gepäck schleifen zu lassen, indem er Birkenstämme, die er als Zeltstangen brauchte, unterlegte, so daß es leichter auf dem Schnee weiterglitt. Die Renntiere konnten mehr ziehen, als tragen, und es dauerte nicht lange, so setzten Hvidbjörn und Vaar sich aufs Gepäck und ließen sich mitschleppen. Das war eine große Verbesserung und brachte die Renntiere und die Familie einander noch näher als bisher. Hvidbjörn freute sich über den Schlitten und fand bald eine Form, bei der er, als der besten, blieb. Mehr als zwei Birkenstämmchen brauchte er nicht unter das Gepäck zu legen, aber sie mußten gebogen sein, damit sie nicht im Schnee stecken blieben und damit die Verschnürungen nicht zerrissen. Damit das Gepäck nicht am Boden schleifen sollte, legte er gebogene Zweige quer über die Kufen und schnürte sie fest, und damit war der Schlitten fertig. Hvidbjörn hatte Hände, und die Not tat das übrige.

Bei gutem Wetter, wenn die Sonne auf den knirschenden Schneefeldern schimmerte, schlug Hvidbjörn einen Trab an und jauchzte den Renntieren lustig zu; dann war es, als ob er und Vaar erwachten und ihre durchfurchten, geliebten Gesichter wiedererkennten. Die Strapazen konnten sie in eine Art seelischen Blindheitszustandes einlullen, in dem sie das Bewußtsein der Zeit verloren; aber eigentlichen Kummer kannten sie nicht. Im Sonnenschein fanden sie sich wieder, wenn sie im Schlitten über den Frostschnee glitten, voran die starken, schnaubenden Renntiere, zur Seite die lustig wedelnden Hunde! Hei! Der Junge steckte den Kopf aus dem Sack auf Vaars Rücken und rollte seine großen Traumaugen über die Welt, die sich um den Schlitten drehte. So gings voran. Und so kamen sie ans Meer. Hvidbjörn hatte seinen Kurs gen Süden gesteuert, war aber östlich, gen Sonnenaufgang, abgewichen, und das brachte ihn vom Gletscher herab an die Küste des Hochlands. Als der Schnee, der auch südlich vom Gletscher das feste Land deckte, im Frühjahr taute, sah Hvidbjörn, daß sie in ein eisfreies Tiefland geraten waren, das von Seen, Sümpfen und Strömen durchzogen und voll von verstreuten Felszacken war, die sich in Klippen und Inseln bis ins Meer hinaus fortsetzten.

Der Gletscher lag weit im Norden; aber so gar lange her war es nicht, daß er auch hier gewesen und bis ins Meer hinausgegangen war. Die Küste und alle Klippen waren noch kahl und vom Eis ganz rund gescheuert; überall fand Hvidbjörn die Spuren des Gletschers. Weiter nördlich an der Küste streckte sich ein Arm noch durch einen Fjord ganz weit hinaus über den Strand, und Hvidbjörn hörte es von dort oben her donnern und ächzen, wenn das Eis im Meer barst und als Eisberge fortschwamm. Es dauerte freilich nicht viele Jahre, eh der Gletscher sich ganz von der Küste zurückzog; und die Eisberge, die man noch weit draußen im Meer schwimmen sehen konnte, kamen vom äußersten Norden. Wohl möglich, daß Hvidbjörns Nüstern sich weiteten, daß er witterte, wieder und wieder, als er die Bekanntschaft des Meeres machte. Es lag in seiner Seele etwas versteckt, etwas, was dieser Salzgeruch weckte, etwas, was er nicht verstand. Das war Drengs Sehnsucht nach dem Meer, die ihm im Blut lag! Der Traum vom Meer war ein Lieblingskind von Drengs Seele und lebte in all seinen Nachkommen als ein schlummernder Trieb, der bloß eines salzigen Hauches vom Strand her bedurfte, um zu erwachen. Und mit weiten, weitgeöffneten Nüstern trank Hvidbjörn die Meeresluft ein, und die See schloß ihn in ihre Arme.

Es äußerte sich darin, daß er augenblicklich weiter wollte. Er hatte bisher eine Reise vorgehabt, die dem Süden galt und den Wäldern; aber das wogende Wandern und Wandern des Wassers über die eigenen Grenzen fort packte ihn und wandelte sein ganzes Wesen in Sehnsucht. Hier, wo er nicht weiter konnte, war es, als ob er in Wahrheit erst anfinge. Das Meer hielt ihn auf; aber es sollte ihm zum Weg werden.

Sie ließen sich nieder hier im Tiefland, zwischen gestrüppumwachsenen Sümpfen und Seen, so weit südlich vom Gletscher, daß er nur wie ein grünliches Leuchten unter dem fernen Nordhimmel schimmerte. Auf der andern Seite war der Gesichtskreis von Schären und offenem Meer begrenzt. Wild genug gab es hier, und immer mehr kam, ganze Scharen von Wild, je mehr Tiere in das eisfreie Land einwanderten. Die Süßwasserseen und Wasserläufe im Land wimmelten von Fischen, – Lachs, Hechte und Aale, – die Hvidbjörn bald schätzen und mit einem krummen Wurm, in dem ein Haken saß, ans Land locken lernte. Und auch das Meer war wie ein blinkendes Feld von Fischen; der Wal jagte den Hering an den Strand, daß er so dicht lag, daß man watete darin. Ja, hier war Reichtum! Und Hvidbjörns Herz erstarkte daran, daß er nur um so heißer sich hinaussehnte. Seine Seele hing auf der Mondbrücke zwischen den Klippen, wenn das Meer stieg und das Weltall in seine sturmvolle, rauschende Unendlichkeit schloß.

Aber sie blieben da. Jahre vergingen, und immer noch hausten sie im Tiefland zwischen dem Gletscher und dem Meer. Vaar schenkte der Familie ein Kind ums andere. Obwohl sie nicht weiter konnten, war Hvidbjörn immer voll von Reiseplänen. Seine Gedanken drehten sich um nichts anderes, als um die Mittel, weiterzukommen. Im Winter hatte er ja wohl den Schlitten, mit dem er lange Fahrten auf den gefrorenen Seen ringsumher und zwischen den Klippen, manchmal sogar weit hinaus aufs Meer machte, wenn das Eis trug; aber weiter kam er doch nicht, als bis zum offenen Wasser, das ihm den Weg versperrte. Im Sommer stand der Schlitten müßig, und das Tauwetter verwandelte die Ebene oft in einen einzigen, hochgeschwellten See, der Hvidbjörn ebenso nachdrücklich einschloß, wie das Meer. Da mußte etwas geschehen …

Auf dem Gletscher war keine Gelegenheit zur Schiffahrt gewesen, wenn auch die Mammutjäger vielleicht die Kunst verstanden, im Frühling, mit einem Eisblock als Fähre, über einen oder den andern vom Tau geschwellten Gletscherstrom zu setzen. Es ging eine dunkle Sage, daß Allvater dereinst, im Urbeginn der Zeiten, über das Wasser gefahren war; vermutlich kam er so von Süden her – einige sagten auf einem Baumstamm, andere auf dem Rücken einer verzauberten Schildkröte – jedenfalls mit Hilfe von Kräften, die gewöhnliche Sterbliche nicht besaßen. Was hatte der Einäugige nicht können! Hvidbjörns Träume gingen keineswegs dahin, es Allvater in übernatürlichem Können gleichzutun. Er war bloß ein Mensch, der sich vorwärtstastete, da er nun doch einmal Hände hatte! Nichtsdestoweniger eignete Hvidbjörn sich kraft eigener Erfahrung diese Kunst an.

Viel Holz gab es nicht im Land. Aber daß einmal viel dagewesen war, davon konnte Hvidbjörn sich an hellen Tagen überzeugen, wenn die Sonne in die bräunlichen Sümpfe schien, in deren Tiefe ein schlammiger und versunkener Grund von umgestürzten Baumstämmen jeglichen Umfangs lag. Es war offenbar ein ertrunkener Wald, und Hvidbjörn machte sich allerhand Gedanken, wenn er so auf diese stille, versunkene Welt hinabblickte, die einer vergangenen Zeit angehörte. Über dem Wasserspiegel auf den tiefen Sumpfinseln lag mit schwindelnd fernen Wolken der Himmel, und bloß wo er sein eigenes Bild erblickte, das lebenstreu tief unter ihm im Wasser stand, ward dies so durchsichtig, daß der Grund und der versunkene Wald hervortraten. Seltsam … wenn er den versunkenen Wald sah, war er selber fort, und wenn er sich selber sah, schwanden die Bäume da drunten vor seinem Blick.

Wie es sich auch verhalten mochte mit dem Wald, der dereinst gewesen war – jedenfalls ein Wald war es, nach dem Hvidbjörn ausgezogen war. Aber lebendig sollte der sein – und weit im Süden sollte er liegen. Die Zukunft war es, der er nachstrebte! Eines Tages ließ er einen Riemen mit einer Schlinge um einen der großen, runden Baumstümpfe nieder, die so frisch aussahen und noch die Spuren davon aufwiesen, wo die Blätter gesessen hatten, und deren Rinde noch von Harz troff. Es war ihm der Gedanke gekommen, man könnte vielleicht den versunkenen Wald da drunten sich zunutze machen und sich aus ihm ein Fahrzeug gen Süden zimmern. Der Gedanke war auch gar nicht so dumm; aber der Stamm zerfiel in Moder, als er ihn emporzog, und ein Baumstumpf, den er wirklich heraufbrachte, war ganz schwarz inwendig und nichts als Schlamm. So versank vor Hvidbjörn der Wald in doppeltem Sinn.

Übrigens ging er schon wieder einer andern Spur nach, die zwar weniger stimmungsschwanger, aber desto zielbewußter war. Was Hvidbjörn wollte, das war, über das Wasser kommen. Das Meer lag zwischen ihm und dem Süden, und er wollte weiter. Ohne es zu wissen, hatte er im kleinen längst alle möglichen Fortschritte gemacht. Die Sümpfe und Moräste, die sich in der Ebene ausdehnten, waren mit verstreutem Unterholz von Birken, Espen, allerlei Zwergbäumen und -sträuchern bewachsen, von denen bloß die Birke eine mittelmäßige Größe erreichte, ohne doch zu wirklichem Holz zu werden. Hvidbjörn mußte sich alle Gedanken an Schiffahrt auf Baumstämmen aus dem Kopf schlagen. Die Schildkröten, auf die er stieß, waren nicht größer als eine Hand; wenn Allvater dereinst auf einer Schildkröte gefahren kam, so mußte Zauberei dabei im Spiel gewesen sein. Im übrigen – man konnte sich immerhin merken, daß eine leere Panzerschale der Schildkröte flott auf dem Wasser schwamm; sie war von einer Form, die gar nicht besser sein konnte. Aber natürlich einen Mann konnte sie nicht tragen.

Hvidbjörn war schwer, schwer, und merkte das auch täglich. Aber wenn er in dem nassen, von zahllosen Wasserläufen durchfurchten Sumpfland umherstrich, pflegte er die kleineren Flüsse zu überschreiten, indem er Sträucher und Zweige ins Wasser warf, bis sie eine Brücke bildeten. Und wenn das Wasser gar zu tief war, so band er Äste und ganze Bäume zusammen zu einem Floß und stakte sich mit einer Stange weiter. Damit das Floß nicht auseinandergehen sollte, band er es mit Riemen zusammen, und daraus ward mit der Zeit und in der Wiederholung ein Boot. Und der Bootsführer, das war Hvidbjörn.

Immer und ewig lag er auf dem Wasser und plätscherte mit neuen verbesserten Fahrzeugen darauf herum. Es ward ihm geradezu zur zweiten Natur. Alles mußte auf dem Wasser ausprobiert werden, ob es schwamm, ob es dicht war, ob es das Wasser gut durchschnitt und das Gleichgewicht hielt. Unaufhörlich war Hvidbjörn am Strand beschäftigt, mit nackten Beinen, versunken in feuchte Experimente, blau vor Nässe und mit triefender Nase. Über ihm kam und ging die Sonne. Er entwickelte sich zu einem großen Zimmermeister und wahren Wassermenschen. Und doch gab es, seltsam genug, nichts, was ihm solchen Schreck einjagte, wie eben die Nässe – ein angeborenes Grauen, unter dem der Riese, der sonst keine Furcht kannte, in Zuckungen verfiel und wie ein Eber brüllte, wenn er in tiefes Wasser kam. Hvidbjörn konnte nicht schwimmen. Er sah, daß alle Tiere fröhlich im Wasser stampften; aber seiner Gangart lag es nicht. Gerade wenn ihn die Tiefe trug, wenn er fühlte, wie die wiegende, schwere Macht seine Glieder in die Höhe hob, kam eine Art Wahnsinn über ihn, ein unmöglicher Kletterzwang, den er sein Lebtag nicht überwand. Seine Knaben dagegen waren die geborenen Schwimmer; sie schnellten ins Wasser und wieder heraus wie Ottern, sie waren immer ganz erstarrt und am ganzen Körper voller Runzeln vor lauter Baden und darauf im Regen am Land Herumspringen.

Alle Söhne Hvidbjörns waren hellfarbig, mit ganz haarloser, weißer Haut, die von der fortwährenden Nässe grob und wie gewalkt war. Im Sommer waren sie voller Sommersprossen, zur Erinnerung an das dunkle Blut, das die aus den Wäldern geholten Mütter in das Geschlecht gebracht hatten, an die durchsonnte Haut, die stellenweise immer wieder durchbrach. Sie waren blond, mit einem Stich ins Goldrote, als ahnte man noch das dunkle Haar, das der Norden gebleicht hatte. Die Augen hatten das Sommerflimmern des Gletschers. Sie sollten dereinst große Seefahrer werden.

Hvidbjörn, der im Wasser so hilflos war, hatte allen Grund, auf Dinge zu sinnen, die schwimmen und tragen konnten. Aber dahinter lag dabei stets der große Gedanke, dereinst übers Meer zu fahren, immer weiter und weiter, und dies Verlangen hinterließ er den Söhnen als Erbe.

Es ist keine Übertreibung, zu sagen, daß Hvidbjörn, solange sie an der Küste wohnten, auch nicht einen einzigen Tag lang eine bleibende Statt hatte, und doch hielt sich die Familie dort auf, bis die Kinder erwachsen waren. Die Knaben waren Männer geworden, mit geschickten Händen und scharfem Gedächtnis, die um die Wette mit dem Vater zimmerten und dachten. Das Werkzeug schuf Arbeit, und die Arbeit wiederum schuf das Werkzeug. Hvidbjörn und seine Söhne schliffen jetzt ihre Steinbeile und Meißel, zum Unterschied von ihren Vätern, die es bei dem rohen Zuhauen bewenden ließen. Es kostete viel Zeit und Mühe, eine harte Feuersteinaxt am Schleifstein zu glätten; aber dafür fuhr sie dann auch ins Holz wie sie sollte und verschimpfierte ihren eigenen Biß nicht. Hvidbjörn und seine Söhne verfielen immer auf Neues, und das Neue machte sie klug. Sie hatten den Dreng-Blick – die scharfen, nahe beieinander liegenden Augen, die unaufhörlich funkelnd über die Dinge hingingen, an denen sie arbeiteten; sie tranken Leben aus dem, was sie hervorbrachten. Und endlich waren sie soweit, daß das erste Schiff fertig am Strand vor der Wohnstatt lag.

Es war ein langes Holzfloß, aus schlanken Birkenstämmen zusammengestellt und -gebunden, mit gewölbtem Boden und zwischen den Stämmen mit Talg und Tierhaaren verdichtet, so daß es nicht nur schwamm, sondern auch innen einen trockenen Raum enthielt. Klein war es nicht, es konnte mehrere Männer tragen und lief vorzüglich. Die Stangen zum Vorwärtstreiben waren an den Enden abgeplattet, damit die Wirkung auf das Wasser eine bessere war, wenn es so tief wurde, daß man den Grund nicht mehr erreichte. Hvidbjörn und seine Söhne machten lange Ruderfahrten auf den Binnenseen und waren sehr zufrieden mit ihrem Schiff. Wenn sie mit dem Wind fuhren, hieben sie belaubte Äste ab und hielten diese in die Höhe, daß der Wind sie vorwärts blies, ohne daß sie die Ruder brauchten; ein Fell an einer Stange zog noch besser. Hvidbjörn beschattete die Augen mit der Hand und sah gen Süden, wo der Horizont zwischen Himmel und Meer verschwamm; jetzt ging's bald fort! Aber das Schiff mußte vergrößert werden, sonst war es nötig, mehrere zu bauen, um die ganze Familie mitführen zu können.

Vaar schwieg und sah ihren Gatten verlegen an, als er mit strahlenden blauen Augen und Geberden wie die eines flugbereiten Adlers erklärte, jetzt ging es fort! Das hatte ihr Mann schon so viele liebe Sommer lang gesagt, daß Vaars Kinder mittlerweile ebenso groß und – gewiß nicht im schlimmen Sinn – unberechenbar geworden wie ihr Vater. Vaar blickte mit tiefer Bewunderung zu ihrem Hvidbjörn auf, der noch immer strahlen und hoffen konnte, wie in ihrer ersten, grenzenlosen Jugend, obwohl keins von ihnen mehr jung war. Aber sie fürchtete seine Pläne und umfaßte ihr Heim mit dem Blick eines Menschen, der einen Schlag erhalten hat und sich nicht wieder erheben kann, als Hvidbjörn von der langen Reise fabelte. Vaar hatte viel zu verlieren.

Sie war nicht müßig gewesen in den langen Jahren, während Hvidbjörn tagtäglich sozusagen fort mußte. Sie hatte sich, während sie da wohnten, unverrückbar im täglichen Leben festgewurzelt und ihrem Haus vorgestanden. Für Vaar gab es keine Zukunft und keine himmelstürmenden Träume; aber sie war treu im Kleinen. Während Hvidbjörn sich, in leidenschaftlicher Vergessenheit alles Naheliegenden, mit seinen Fahrzeugen beschäftigte, schuf Vaar in treulichem Walten ein Hauswesen, das von äußerst wirklicher Natur war und mit den Jahren unter ihren Händen immer größer wurde. Nie ward sie leidenschaftlich, nie änderte sie – wenigstens nicht mit Wissen – ihre Gewohnheiten, und doch hatte sie gedankenlos, nach Frauenart, im Lauf der Jahre manche neuen und unentbehrlichen Dinge zum Guten hervorgebracht. Hvidbjörn beachtete vielleicht ihr tägliches Streben im Kleinen nicht besonders, ewig unruhig und von seinen Seefahrerträumen geblendet, wie er nun einmal war. Aber er sah sie selbst, wie sie war, in sich geschlossen, immer gleichmäßig weiterschreitend wie ein freundliches Schicksal, das sein, Hvidbjörns, Erhalter und zweites sammelndes Ich war. Immer war Vaar da, immer war sie dagewesen, sanft und heiter, das lange, lichte Haar im Regen über die Schultern fließend, immer mit einem Kind im Arm, immer innerhalb der engen Grenzen des Heims auf den Beinen, um zu nähren und zu beschützen. Ganz selten nur traf man sie weiter als auf Rufweite vom Lager entfernt, und das bedeutete dann immer ganz besonders seltene Gewürze zum Mittagsmahl.

Es gewitterte viel in diesem Jahr, und ein oder das andere Mal geschah es, daß Hvidbjörn in einem Blitz Vaar im strömenden Regen stehen sah, umgeben von ihren Kindern und Haustieren, still, mit ruhigen Augen im Unwetter in sich selbst ruhend, während alles ihrem Schutz zustrebte. Die Gewitter gingen über ihr Begriffsvermögen, wie alles, was der Große da droben und überhaupt die Männer vorhatten. Aber die Kinder und die Tiere kamen zu ihr, um der Ruhe teilhaftig zu werden, die von ihrem Herzen ausstrahlte. Und so sah Hvidbjörn sie später, als die Jugend entschwunden war, immer vor sich: auf der Zunge den Geschmack des Regens, wie von Wolken, den Feuerdunst des nahen Blitzes, und Vaar, die Haare über den Rücken hinabströmend, duftend wie der wilde Sommerflieder, der blühende Hände ausbreitet nach Sonne und Regen.

Aber jetzt war Vaar eine wettergebräunte, erfahrene Mutter, gewappnet mit Stillschweigen und mit einer Erfahrung, die sie gelehrt hatte, alles ruhig abzuwarten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sie lächelte jedesmal von Herzen, wenn Hvidbjörn alljährlich ein neues Schiff und die baldige Abreise verkündete; sie wußte ja, es mußte doch noch wieder verbessert und umgebaut werden. Bloß wenn er ganz bestimmt und ernsthaft vom Fortgehen sprach, so daß sie es nächstdem vor sich sah, ward sie ratlos und ließ den Blick verständnislos in der Wohnung umherlaufen, in der sie festgewurzelt war. Was wurde aus den Kühen? Sollten die auch mit aufs Schiff und segeln? Vaar hatte einen Acker mit Gerste und einen mit Flachs, und außerdem einen ganzen Küchengarten mit Erbsen-, Thymian-, Zwiebel- und Rübenbeeten. Konnte sie ihre Felder mitnehmen? Was redete er da?

Ja, Vaar hatte viel zu verlieren. Sie hielt Haustiere und trieb Ackerbau. Es war ganz von selber gekommen; erst, als sie kein Feuer hatten und die Not sie dazu zwang, sich auf alle nur mögliche Art zu helfen, und später, als sie wieder Feuer hatten und sich eben darum gar nicht absehen ließ, was alles sie vermochten. Die Kühe lagen ihr besonders am Herzen. Sie hatte sie sich angeschafft, als ihr Herd noch kalt war, und sie hatten ihr und den Kindern damals geradezu halbwegs das Leben gerettet. Nie hätte man die kalten Tage überstehen können ohne sie!

Das wilde Rind wanderte ins Tiefland ein, als der Gletscher wich, kleine, hirschähnliche, leichte Tiere mit großen, feuchten Augen und voller Neugier, wie in den ersten Tagen der Welt. Die kleinen neugeborenen Kälbchen, die, noch unsicher auf ihren Beinen, hinter der Mutter herliefen, sprachen zu Vaars unersättlichem Mädchenherzen. Sie hockte sich nieder und breitete die Hände aus, um sie an ihre Knie zu locken.

Im Anfang waren sie fast gar nicht scheu; sie wurden es erst, nachdem Hvidbjörn sie eine Zeitlang gejagt hatte, und auch dann noch konnten die Kühe in ihrer Unschuld manchmal in einer kleinen Entfernung im Halbkreis stehen bleiben, alle die gehörnten Köpfe und die Mäuler, in denen sie irgendeine Blume kauten, diesem Geschöpf zugewandt, das sie nicht kannten. Wenn er zu nah kam, trabten sie davon, mußten aber bald wieder umwenden und stehen bleiben und schauen – sich vorsichtig auf allen Vieren nach rückwärts stemmend, mit feuchten Nüstern und Augen, in denen es dunkelte wie Nacht. Eins oder das andere mußte, in unbezwinglicher Neugier, auch ein paar Schritte aus dem Kreis heraustreten und näherkommen, versuchte sogar, eine recht drohende Stellung einzunehmen, indem es das eine Vorderbein hob und es heftig und äußerst herausfordernd wieder niedersetzte; dabei schnaubte die Kuh tief auf; aber die frommen Augen standen in so gar keinem Verhältnis zu der kriegerischen Haltung, und die Kuh zog sich auch sehr bald ganz von selbst zurück, warf, mit zitternden, blinzelnden Wimpern, den Kopf zur Seite und machte kehrt.

Wenn es Zeit war, flog Hvidbjörns Speer, und eins von den Tieren blieb, sich wälzend, von der Waffe durchbohrt, liegen, während die übrige Herde davongaloppierte. Am liebsten erlegte er die großen Stiere, die der Jagd Reiz verliehen und manchmal sogar ihm selbst das Blut aufpeitschten durch ihr selbständiges, angriffsweises Vorgehen.

Es gab jetzt dichte Herden von Rindern in der Ebene. An sonnenhellen Tagen konnte man von einer Anhöhe aus über meilenweite Sümpfe und Weideplätze hinblicken, auf denen Schatten, die von den Wolken hoch oben übers Land fielen, sich mit Tierherden mischten, soweit das Auge reichte. Es war nicht bloß wildes Rind, was sich da zeigte, es waren ganze Herden von Auerochsen und Hirschen, Truppen von Wildschweinen brachen aus dem Gestrüpp und wieder zurück; auf den Inseln stapften Bären durchs Heidelbeerkraut und am Bach schnellte der Fuchs sich mit der Pfote eine Forelle ans Land. Das Elen lebte in großen Herden im jungen Birkenholz, die Zwergkiefern schienen, wenn man darauf hinblickte, sich zu beflügeln und gebaren den gewaltigen Auerhahn, die ganze Heide ward lebendig von Urvögeln, wohin man blickte, die nächste Nähe war voll von Getier, und in der Ferne verschwamm es in Herden zu nebelhaften Strichen, die sich im Horizont verloren und dahinter weiter fortsetzten. Es war leicht, Nahrung zu schaffen im Überfluß, und Hvidbjörn hatte mehr als genügend Zeit, seine Schiffsbauerei weiter zu betreiben, damit er fortkonnte.

Gleich im ersten Jahr bat Vaar Hvidbjörn, ihr ein paar lebendige Kühe zu fangen, die sie versuchen wollte zu zähmen. Die Renntiere kamen hier nicht gut weiter. Sie hatten Heimweh nach dem Gletscher und gaben keine Milch mehr. So kam Vaar zu ihren ersten Kühen. Und schon am ersten Tag, als sie eingefangen waren, fügten sie sich willig der Gefangenschaft und begannen mit tiefen, satten Augen wiederzukäuen. Sie gaben weit mehr Milch als die Renntiere und waren unendlich sanft. Sie wurden der Kinder beste Freunde. Vaar liebte sie. Sie waren ihre Lieblinge und Freundinnen. Sie unterhielt sich vertraulich mit ihnen; die Wärme ihrer blutreichen Hörner ging ihr auf dem Weg durch die Hände ins Herz. Sie rochen so gut nach dem Gras, das sie fraßen, und nach der Nahrung, die sie übrig hatten für andere.

Vaar ward eine Künstlerin in der Kuhmilch, die da über ihre kräftigen, mütterlichen Hände floß. Sie machte Käse. Ganz von selbst kam das. Vaar hatte immer einen Vorrat von Milch, den sie in einem großen Topf zu runden Kuchen preßte. Und wenn die Mannsleute vom Fischen und Schiffahren auf dem Meer heimkamen, waren sie der Mutter recht dankbar für eine Scheibe Käse.

Zum Entgelt machten ihr die Söhne Messer und Pfriemen aus Bein. Hvidbjörn interessierte sich für das Garn, das Vaar und die Töchter geduldig mit den Fingern drehten, besonders, nachdem er angefangen hatte, die Fische mit Angeln und Netzen zu fangen, und viel Garn brauchte. Wie gewöhnlich sann er auf einen Abkürzungsweg, und nachdem er seine Augen hatte funkeln lassen und einen Tag lang herumprobiert hatte, kam er und verehrte Vaar eine Spindel, die in der gleichen Zeit zehnmal so viel Flachs drehte. Es war ein kleiner Stab mit einer runden Scheibe daran, die man rasch umherzwirbelte, bis sie von selber, kraft ihrer eigenen Schnelligkeit, weiterlief und das Garn spann, daß es eine Freude war; was fest genug war, wickelte man um den Stab und konnte so immer weiter spinnen, ohne daß das Garn sich verwirrte. Die Spindel hatte großen Erfolg bei den Frauen und schnurrte von nun an unaufhörlich im Haus.

Später, als wieder Feuer kam und Vaar sich eine ganze große Ausstattung von Töpfen und Schüsseln brennen konnte, machte sie auch Butter. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, so gründete diese Erfindung sich auf Vaars persönliche Bedürfnisse, – die Lust, sich mit wohlriechenden Dingen zu salben. Sie und die Töchter schmierten sich im Anfang mit der Sahne ein, die sich so dick zu oberst auf die Milch setzte, daß man sie abnehmen konnte; die Salbe wurde noch stärker und durchdringender durchs Stehen, namentlich aber, wenn man sie kräftig im Topf schüttelte. Es war ein langwieriges Stück Arbeit, was sie da vorhatten; aber sie machten sich mit Eifer daran, bis endlich die Butter zum Vorschein kam und sie sich einschmieren konnten. Hvidbjörn fand ebenfalls Geschmack an der Salbe; aber als die derbere Natur zog er den inwendigen Gebrauch vor, und Vaar bereitete sie für ihn in größeren Portionen. Damit war mit der Zeit die Butter als Luxus und tägliche Abwechslung in der Lebensweise eingeführt.

Auch im Brotbacken hatte Vaar es weit gebracht. Aber alles, was mit Korn und dem Ackerbau verknüpft war, den sie eingeführt hatte, wurzelte in einem ganz besondern mystischen Pakt mit der Erde, in Vaars eigenster kleiner Religion, die zurückging bis zu jenem Frühjahr und Glückstag, als das Feuer wiederkam.


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