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Vom Ufer der Kolyma zum Jahrmarkt in Pantelëicha

Dort, wo sich die Polarnacht über bläulich schimmernde Eisfelder ausbreitet, wo das Nordlicht mit seiner zuckenden Farbenpracht hoch über die Kronen der Föhren aufsteigt, liegt, in Schnee gebettet, ein einsamer Häuserzug. Keine Straße weist uns den Weg zu diesem einsamen Erdenwinkel, kein Glockenton ladet je zur Einkehr und zum Verweilen ein. Nur der tobende Sturm und wuchtig niederbrechende Eismassen unterbrechen die endlose Stille. Es ist Nishny Kolymsk, Rußlands letzte Wacht jenseit des Polarkreises und die erste Station auf dem Wege zum Schattenreich, wo gebleichte Gebeine uns zu den verwehten Friedhöfen der Nomaden weisen, und wo der Flugschnee mit der Asche von Menschen spielt, denen allen ein nimmermüdes Herz geschlagen, und die doch dazu verdammt waren, vom ersten bis zum letzten Atemzuge nicht etwa dem Leben, sondern nur dem Tode zu dienen.

Zwölftausend Kilometer haben Wünsche und Gedanken zu durcheilen, ehe sie den heimischen Herd der Moskowiter erreichen, und nur das Echo fand vielleicht zurück zu den verschollenen, nach denen es nun zitternd fragt stromauf, stromab die Kolyma.

Zu den Verschollenen! Mein Schlitten bog um die letzte Kurve, die mich noch von ihnen trennte; 50 Tage, wohl ebensoviele Nächte war ich vom Ufer der Lena mit Pferden, Renntieren und Hunden, oft unter Einsetzung des eigenen Lebens, über die Tundra und durch die Wälder gezogen, um bei ihnen Rast zu halten, ehe ich jenseit des Pantelëicha-Berges meine Füße auf heidnische Erde setzte und inmitten auf- und niederwogender Nebelschwaden als Nomade mein Dasein fristete.

Nun trippelten meine Hunde die Häuserzeile entlang, und lautlos glitt mein Schlitten hinter ihnen her. Sie wandten nicht mehr die klugen Köpfe, das kta, kta (rechts) und Hug, Hug (links) erwartend, wie sie es zur Orientierung des Leithundes so oft von mir während der Fahrt über die Tundra gehört hatten. Als wüßten sie, daß hier und nicht anderswo mein Ziel liegen könne, bogen sie plötzlich von der Straße nach einem Seitengehöft ab und legten sich dann ruhig vor die Tür einer geräumigen Blockhütte, damit andeutend, daß ich in diesem Hause willkommen wäre. Ehe ich noch Zeit gefunden, mich meiner Decken zu entledigen und den schweren Pelz abzuwerfen, legte sich schon eine vor Freude zitternde Hand in die meine und drückte sie lange und herzlich. Es war Popoff, der russische Regierungsvertreter und Polizeichef des Kreises Nishny Kolymsk. Meine Ankunft war ihm schon vor einigen Tagen als bevorstehend durch Kosaken gemeldet worden, und er wollte der erste sein, der mich in seiner schneeumfriedeten Residenz begrüßte. Für den Abend hatte Popoff eine kleine Gesellschaft geladen, und als die zwei sechsarmigen Lichtkandelaber entzündet waren, sah ich einige recht interessante Näpfe aus der Dunkelheit sich abheben. Da war zunächst ein alter, aristokratischer Herr, der sich vor langen, langen Jahren in Petersburg an einem Attentat gegen den Zaren beteiligt hatte und dafür auf Lebenszeit in die Eiswüste Nordostsibirens verschickt wurde. Im Laufe der Jahre war aber aus dem fanatischen Anhänger der Revolution ein guter Patriot geworden, der sogar das autokratische Regierungssystem verteidigte. Er war längst begnadigt, hatte aber nicht mehr das Bedürfnis, in die »Welt« zurückzukehren. Eine zweite Persönlichkeit fand ich in einem emeritierten Lehrer, der hier in Nishny Kolymsk provisorisch das Amt des Popen (Priesters) versah.

Ich hatte mich für ein halbes Stündchen von der Gesellschaft empfohlen, um allein einen Rundgang durch Nishny Kolymsk zu unternehmen. So stapfte ich durch den Schnee von Haus zu Haus. Des Himmels Sternenpracht wies mir den weg. Im Hintergrund die dunkeln Föhren, seitwärts die Tundra, über deren glitzernde Fläche dunkle Schatten, wohl Wölfe, huschten, und vor mir diese winzigen Häuschen, die nicht einmal den Luxus eines Fensters kannten, dessen Stelle eine Eisplatte vertrat. Und drinnen, in den Stuben, da sitzen auf harten, selbstgeschnitzten Bänken Menschen, denen das Leben an Enttäuschung nichts mehr zu geben vermag, und für die das Wort »Glück« nur ein leerer Begriff ist. Zu ihnen kommt alle zwei Jahre nur ein einziger Gast: die Hungersnot! Dann hören sie auf, Fische zu braten und Fische zu kochen, die sonst, in guten Zeiten, ihr tägliches Brot bilden, starren mit roten Rügen und eingesunkenen Wangen in die leeren Töpfe und warten auf Hilfe, die ihnen die Negierung gewähren soll, vergessen dabei, daß sie am Ende der Welt wohnen, und wundern sich, oft noch im Sterben, daß diese Hilfe meist zu spät kommt.

Während des Winterhalbjahres kommt einmal im Monat die Post auf Hundeschlitten nach Nishny Kolymsk und bringt auf dem Umwege über Jakutsk, Werchojansk und Sredne Kolymsk Nachrichten aus der Zivilisation. 3500 Kilometer hat der Postillon auf Schlitten zurückzulegen, ehe er vom Ufer der Lena zum Ufer der Kolyma kommt, Tag und Nacht in der Wildnis, bei Temperaturen von –30 bis –58° R. für sage und schreibe 60 Mark Monatslohn. Im Sommer ist Nishny Kolymsk von der Außenwelt vollkommen isoliert. Taiga und Tundra werden morastig, entsetzlich heiße Tage kommen, und Stechmücken machen das Leben unerträglich. So bleibt denn auch die Post aus, und ab und zu nur kommen in kleinen Booten und auf Flößen verbannte aus Sredne Kolymsk die Kolyma stromabwärts, um den Kaufleuten neue Waren zuzuführen. Die ganze Bevölkerung, es sind kaum 200 Seelen, finden wir in dieser Zeit beim Fischfang. Erst mit Eintritt des Spätherbstes ziehen alle in die Stadt zurück, vergraben ihren Proviant an Fischen in der gefrorenen Erde und warten auf den Winter. Dann werden die Häuschen in Schnee eingepackt, um sie warm zu halten, der Kamin wird mit frischem Lehm und Renntierhaaren neu verkleidet, und rings um die Hütten, an Pflöcken festgebunden, finden die Schlittenhunde ihre Lagerstatt, die sich im Schnee bald behaglich fühlen, den Schwanz über die Schnauze legen und sich vollkommen einschneien lassen. Kommt dann die lange Polarnacht mit ihrer Kälte und mit ihren Stürmen, so findet sie nur noch einige Kühe und Pferde, die nicht, wie bei uns, an Ställe gewöhnt sind und sich unter dem Schnee einige kümmerliche Reste von vertrockneten Binsen als Futter suchen. Die Menschen selbst aber haben sich in ihren Häusern eingekapselt und leben im doppelten Sinne der – Macht der Finsternis. Erst in den letzten Tagen des Februar wird es in Nishny Kolymsk wieder lebendig, man rüstet sich für den Jahrmarkt in Pantelëicha, der acht Tage währt, und bei dem sich die Jäger und Fischersleute aus Taiga und Tundra dort ein Rendezvous mit den Nomaden aus den Bergen der Tschuktschen-Halbinsel geben. So packte auch ich denn wieder meinen Schlitten und zog sechzig Kilometer weiter gen Nordosten – nach Pantelëicha.


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