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Herein!«
Draußen stand eine Ordonnanz des Gouverneurs von Jakutsk.
»Seine Exzellenz lassen bitten.«
Der Kosak legte die Hand an die Mütze und verschwand, Was mochte der alte Herr von mir wünschen? War ein Ausweisungsbefehl für mich eingelaufen, weil ich den »Politischen« ein etwas zu reges Interesse entgegengebracht hatte, oder %hellip; oder wollte Exzellenz mir wirklich die Fortsetzung meiner Reise nach dem Norden gestatten? Nun, einerlei, was da kommen mochte. Ich suchte mein bestes Feiertagskleid heraus, eine Kamelhaarjacke und russische Pluderhosen aus schwarzem Samt; stutzte mit Hilfe einer verrosteten Schere den Backenbart, verlieh mittels einiger Brotkrumen dem Stehkragen neue Weiße und stülpte dann die Mütze aus Bärenfell auf den Kopf, nachdem ich vorher noch die Walinski (Filzstiefel) genügend mit Stroh und Heu ausgepolstert hatte. Dann setzte ich mich äußerst würdevoll in Bewegung.
Es war erst gegen 3 Uhr am Nachmittag. Aber die Polarnacht hatte bereits ihre schwarzen Fittiche über die Straßen ausgebreitet. Dunkle Schatten huschten an mir vorüber. Hunde kläfften mir entgegen. Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht. Ich tastete mich an den Häusern entlang und folgte mehr instinktiv als orientiert dem Wege. Dann tauchte aus Nacht und Stille ein Komplex von Gebäuden auf. Inmitten der Gouverneurspalast. Beamte vom Dienst erwarteten mich, und ich wurde ohne weiteres vorgelassen, eine breite Treppe hinaufgeleitet und oben vom Vizegouverneur begrüßt.
Kaum hatte ich Zeit, den Schnee von mir abzustäuben, da stand ich auch schon im Allerheiligsten, dem Kabinett Seiner Exzellenz des Herrn Gouverneurs von Jakutsk, eines Mannes, der fast unumschränkte Gewalt über ein Gebiet hat, das den Umfang von Europa – Großbritannien und das europäische Rußland ausgeschaltet – noch übertrifft. Seine Exzellenz waren überaus liebenswürdig. Schon die äußere Erscheinung wirkte ungemein sympathisch. Nicht gerade eine Aristokratenfigur wie mein Dolmetscher, der Vizegouverneur, sondern eher der Typ eines Tschinowniks, eines russischen Subalternbeamten. Er saß bei meinem Eintritt in einfacher Joppe am purpurrot beschlagenen Diplomatenschreibtisch, von dem zwei silberne Armleuchter mit je sechs Kerzen ein warm anheimelndes Licht verbreiteten. Kam mir jedoch mit ungeheuchelter Freude sofort entgegen und versuchte sogar, mir den Willkomm in deutscher Sprache auszudrücken. Dann setzten wir uns, und bei Tee und Zigaretten eröffnete mir der alte Herr, daß es mir gestattet sei, den Polizeimeister von Werchojansk, Herrn Kotscherowski, der sich augenblicklich auf einer Dienstreise befinde und demnächst von Jakutsk aus die Rückreise nach seinem Bezirk antrete, zu begleiten, und zwar in amtlicher Eigenschaft – als Konvoi (Polizeibegleiter).
Nun hieß es, sich in aller Eile für die große Fahrt fertigzumachen; 48 Stunden nur blieben mir bis zur Abreise. Auch jetzt bewies sich wieder die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Russen und Sibiriaken. Eines der größten Kaufhäuser übernahm es sofort, mich gegen einen ganz geringen Betrag auszurüsten. Die Sache war bereits am nächsten Morgen geregelt. Blieb also noch die Versorgung mit Lebensmitteln. In die Erledigung dieser Aufgabe teilten sich meine persönlichen Freunde.
Zwei Pud Rindfleisch – etwa 80 Pfund – wurden zu »Hamburger Steak« verarbeitet. Die Frau eines Kasaken kochte 100 Teller Suppe à la Julienne, die sie einzeln vor die Tür ihres Hauses stellte, wo sie innerhalb einiger Minuten zu einer festen Masse gefror und danach in einem Sack untergebracht werden konnte. Eine zweite Dame stellte mir große, gefrorene Stücke Milch zur Verfügung, die ich ebenfalls in Säcken unterbrachte, und von anderer Seite erhielt ich 150 Pfund Roggenbrot, 60 Pfund Weizenbrot, Tee, Kaffee, Schokolade, Zucker und einige 20 Pfund russischen Blättertabak. Meine Kleidung bestand aus einem Anzug von Kamelhaaren, darüber eine Kuklanka aus Renntierfell (eine Art Doppelpelz in Form eines Hemdes), drei Paar warmen Strümpfen aus Katzenfell, bis an die Knie reichenden Stiefeln aus Renntierfell mit Innenfütterung sowie ein Paar Handschuhen aus dem Fell von Wolfsfüßen mit einer Einlage von Lammfell und einer Mütze aus Renntierfell, mit Biber gefüttert. Als Waffe wählte ich einen Sechsschußrevolver, und zum persönlichen Gebrauch nahm ich noch ein Jakutenmesser mit einfachem Holzgriff mit auf die Reise. Als ich so mit allem versorgt war, begab ich mich nach dem Hause meines neuen Chefs, um mich dort zum Dienst zu melden, und nach einem sehr ausgedehnten Umtrunk im Kreise seiner Familie und im Beisein unserer beiderseitigen Freunde bestiegen wir unsere Pferdeschlitten, um 1200 Kilometer in die nordsibirische Wildnis vorzudringen.
Ich habe nie ein größeres Gefühl der Erleichterung erfahren als an jenem Tage, da ich, ledig aller Sorgen, in die weite weiße, lockende Ferne zog. Bis hierher wirkten nicht die Ränke der Menschen; alle Kleinlichkeit war aus unserm Leben ausgeschaltet. Mit jeder Werst (russisches Wegemaß), die wir hinter uns ließen, kamen wir der Natur in ihrer Ursprünglichkeit näher. Losgelöst von allem, was hinter uns lag, horchten wir nur auf die Stimmen der Wildnis. Wir fuhren Schritt, und der Wind spielte mit uns, strich sacht über unsere Wangen und kuschelte sich in unsere Kleider. Wir jagten über die Tundra, und hinter uns her heulte der Sturm, in einer Mächtigkeit, als wollte er Menschen, Pferde und Schlitten mit sich in die Lüfte entführen. Dort sprang ein Häschen auf, und hinter einem Weidengestrüpp flog erschreckt ein Vogel von dannen. Dann kamen die Wälder, die schweigend durchquert wurden, und schließlich erreichten wir die weißflimmernden Seen, die sich zwischen Tundra und Gebirge auf Meilen und Meilen erstrecken.
Plötzlich taucht in der Einsamkeit, fern am Horizont, ein Glimmen auf. Gleich einem Irrlicht tanzt es auf dem Schnee. Bald hierhin, bald dorthin. Wir halten darauf zu. Es spielt mit uns, verschwindet bald und zeigt sich ebenso schnell wieder. Da, plötzlich ist es unsern Augen ganz entrückt. War es Selbsttäuschung? Nein, denn es bewegt sich flirrend schon wieder am Horizont. Diesmal nur stärker. Und zu dem Lichtgeflimmer gesellt sich langsam ein verworrenes Geräusch. Klagend, herzzerreißend. Unwillkürlich fährt man mit der Hand zum Herzen; will sprechen, und das Wort bleibt in der Kehle stecken. Es ist, als stiege Blut zum Mund auf. Man läßt den Gaul die Peitsche fühlen; will vorwärts, schreien und Hilfe bringen. Und kann nicht mehr, die Willenskraft erlahmt; schlaff liegt der Zügel in der Hand. Das Pferd ist jetzt der Herr und Gebieter.
Da geht hinter Wolken der Mond auf. Die Szene ist plötzlich verändert. Was bis nun in Nacht und Dunkel getaucht war, erscheint jetzt im flackernden Silberlicht. Und vor uns, schon in greifbarer Nähe, liegt ein Häuschen, eingebettet in dichtem Schnee, und eine Meute Polarhunde stürzt uns bellend entgegen. Der Bann ist von uns gewichen, wir sind wieder unter Menschen. Kein Irrlicht war's und kein Wehklagen. Das Licht der Hütte zeigte uns auf Meilen den Weg, und das Gekläff der Hunde wurde uns durch den Sturm als Groteske entgegengetragen. Wir sind in Sicherheit; im Reich der Jakuten, Lamuten, Tungusen und Jukagiren.
Nun ist Wassil, unser Diener, in seinem Element. Er kennt sie alle, die Jäger und Fischersleute, die hier ein einsames Dasein fristen und sich nichts anderes zu geben vermögen als die Liebe. Und die doch, trotz aller Armut, ein reiches und schönes Leben führen.
Es ist Nacht, wie wir ankommen, und doch sind sie alle sofort auf den Beinen, ob mancher von ihnen auch ein schweres Tagewerk hinter sich hat. Und ihre Hütte ist bescheiden; aber was sie bietet, ist unser. Alles ist unser – auch ihr Herz. Sie helfen uns aus den Schlitten, spannen die Pferde aus und versorgen sie aufs beste. Dann geleiten sie uns zum Haus, und eine wohlige Wärme schlägt uns entgegen. Und sie halten unsere Hände und drücken ihre welken Lippen darauf. Sind wie glückliche Kinder. Daß wir nicht noch weiterfahren, ist ihnen ganz selbstverständlich. Schon haben sie in aller Eile die Ruhestatt für jeden von uns bereitet – ihre eigene Ruhestatt. Sie selbst begnügen sich mit dem gefrorenen Lehmboden. Fragen nicht, woher und wohin. Sind glücklich schon in dem Gedanken, daß wir bei ihnen sind, und wär' es auch nur für eine Nacht. Das Feuer flammt auf, und im rußigen Eimer kochen Fleisch und auch Fische. Wir geben ihnen von unsern Vorräten: Brot, Tee, Zucker und Tabak, und sie sind ordentlich beschämt, weil sie uns nur so wenig zu bieten vermögen. Kennt ihr eigener Gaumen doch nur Pferdefleisch und Fische. Ich strecke mich auf dem Lager aus; einige Strohbündel und darüber weiche, warme Felle, und man blendet sofort das Licht ab, deckt mich fürsorglich zu und schaut besorgt die eisglitzernden Wände entlang, ob nicht etwa der Wind an einer Stelle unbemerkt Einlaß fände. Und wer gibt ihnen etwas? Niemand, niemand! Heiß ringen sie um ihr armselig Leben, bis sie den Kampf mit der Natur ausgerungen haben. Bis ein anderer an ihre Stelle tritt und beim Morgengrauen hinauszieht, um Eichhörnchen und Hermeline, Füchse, Wölfe und Bären zu jagen. Bis ein anderer den wertvollen Zobel heimbringt, der sie auf Monate hinaus reich erscheinen läßt. Ihnen ist's gleich, ob der Frühling ins Land zieht oder der Winter gekommen ist. Tag für Tag und Jahr um Jahr kennen sie nur das eine Wort: »Arbeit«. –
*
Tage liegen hinter uns, Wochen sind gegangen, seit die Glocken der Kathedrale von Jakutsk uns durch die schweigende Winternacht Valet gesagt. Fern wölbt sich der Horizont, und jenseits der Berge, die in Schnee gebettet, liegt das Leben. Längst haben wir unsere Zottelpferdchen gegen Renntiere eingetauscht, und eilenden Laufes ziehen sie unsere Schlitten über den knirschenden, funkelnden Damast. Jetzt kommen die letzten Bäume, die noch im Rauhreif prangen, dann wieder die Tundra, noch eine kleine Kette von Hügeln, mit Birkenstämmchen und Weidengestrüpp, und wir halten nun vor der meteorologischen Station von Werchojansk, dem asiatischen Kältepol. Sind Gäste Jung-Rußlands. Die rote Fahne der Sozial-Revolutionäre begrüßt uns; wie Blut ergießt sie sich in die schimmernde Weiße des kältestarrenden Morgens. Nicht anders in der Bauart als die übrigen armseligen Häuschen aus Eis und Schnee, zeigen nur die Flügel des Windmessers und der Trichter des Regenmeßapparates, die sich auf dem flachen Dach befinden, den Sitz der Wissenschaft an. Und dreimal innerhalb zwölf Stunden kommt Tag für Tag, Jahr um Jahr, gebückt und schwerfällig ein seit langer Zeit hier in der Verbannung lebender Genosse, lehnt das gebrechliche Leiterchen an die Rückwand des Hauses, verschwindet oben auf dem Dach und trägt mit stetig gleichbleibender Gewissenhaftigkeit seine Beobachtungen über das Wetter ins Journal ein. Und drinnen, in der heißen Atmosphäre eines elenden Kämmerchens hocken auf harten Schemeln seine Freunde und harren seiner Wiederkehr. Denn er ist das geistige Oberhaupt dieser kleinen Gemeinde von Jung-Russen. Er ist ihnen Lehrer und Vater. Für das kleine Honorar von monatlich zwanzig Mark, das ihm für seine Beobachtungen von der Zentralstelle des russischen Wetterdienstes bewilligt ist, ersteht er durch Mittelspersonen stets die neuesten Schriften der Lehren seiner Partei, und im flackernden Kerzenschein doziert er aus ihnen im Kreise der Genossen. Sie sitzen dann im Halbdunkel, den Kopf tief in die Handflächen gestützt, bei Tee und Zigaretten um den aus Kistendeckeln roh gezimmerten Tisch und hören ganz begeistert auf die Stimme ihres Lehrers, der vom fernen Leben da draußen und vom Sonnenschein kommender Tage spricht.