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An den Ufern der Kolyma

Ha – ha – – ha! So hab' ich doch lange nicht gelacht. Eben war Ivan Ivanowitsch bei mir und unterbreitete das Programm für den demnächst stattfindenden Maskenball. Man denke, über dem Polarkreise ein Maskenball! Die Leute haben Unternehmungsgeist. Übrigens Sredne Kolymsk ist gar nicht so übel, wie ich dachte. Die täglichen Zusammenkünfte mit den vier Kaufleuten bieten immer noch eine gute Zakuska (Imbiß) und einen wasserhellen Schnaps erster Qualität. Auch fürs geistige Wohl ist gesorgt. In der Bibliothek der Verbannten finden wir über 2000 Bände; im Laufe der Jahre zusammengetragen und von Kunst und Wissenschaft anfangend bis zum letzten Hintertreppenroman. Jedem steht diese Stätte geistiger Erholung offen, obwohl sie lediglich Eigentum der »politischen« ist. Die Polizei kümmert sich um die aus allen Teilen Rußlands hergesandten Staatsverbrecher absolut nicht. Warum auch, das würde ja nur Arbeit verursachen, und wozu arbeiten, wenn man's nicht nötig hat? – Bis zum lieben Gott ist's weit und bis zum Zaren ebenso. – Nirgends wird dieser Wahlspruch der Sibiriaken mehr befolgt als im Bereich des Präfekten (Bezirksvorstehers) von Sredne Kolymsk. Wie könnte es sonst vorkommen, daß aus den Holzspeichern der Regierung, vor welchen Kosaken beständig Wache halten und in denen die Staatsgelder aufbewahrt werden, eines schönen Tages plötzlich 24 000 Rubel (12 000 Dollars) verschwinden und man des Täters bis heute nicht habhaft werden konnte! Ein Bericht über die unliebsame Sache an den Herrn Gouverneur von Jakutsk und von dessen Seite ein höchst ungnädiger Brief mit der Drohung, die Angelegenheit bis ins kleinste untersuchen zu lassen, – damit ist die Geschichte aus der Welt geschafft, und dem Gouverneur bleibt nichts anderes übrig, als wiederum für 24 000 Rubel Sorge zu tragen.

Fast jeder Einwohner ist »Hausbesitzer« und ist darauf nicht wenig stolz. Die Preise für die Bauten schwanken zwischen 15 und 1000 Dollars. Mein augenblickliches Heim ist Eigentum der Staatsgefangenen und wäre für 20 Dollars leicht zu erstehen.

Ein großer Backofen, einige handfeste Stühle, ein ebensolcher Tisch und ein großes, hölzernes Bett bilden seine ganze innere Einrichtung. Zwei Jakutenmädchen warten auf. Für Ungeziefer in der Bettstelle ist ebenfalls bestens gesorgt. Mein Keller, in dem ich meine Vorräte aufzubewahren pflege, liegt hinter dem Hause; er besteht lediglich aus einer Schneegrube von 1½ Fuß Tiefe. Besuch gibt's jeden Tag. Neulich war die ganze » haute-volée« bei mir zu Gaste. Der Herr Präfekt geruhte im Waffenrock zu erscheinen, am Halse irgend einen kleinen russischen Orden. Die Unterhaltung war recht lebhaft. Meine beiden Hausgeister hatten aufs beste für Speise und Trank gesorgt. Ich konnte ja freigebig sein, denn die Kaufleute hätten sich darin überboten, mir ihr Warenlager für meine Bedürfnisse unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, und ich wiederum war frei genug, von diesem freundlichen Anerbieten Gebrauch zu machen, wodurch sich jene nicht wenig geschmeichelt fühlten. Natascha hatte einen recht hübschen Speisezettel zusammengestellt: Rindfleischsuppe mit grünen Bohnen, Fisch, Ochsenbraten. Nach dem Essen wurde mit Kaffee und Papyrossen (russischen Papierzigarren) aufgewartet. Für die Damen gab's als Nachtisch noch Harz – von Fichtenbäumen. Selbstverständlich konnte bei Beginn der Mahlzeit »Wodka« nicht fehlen.

Auch ich war oft genug Gast in den verschiedensten Haushaltungen. Bald luden mich die »Politischen«, die übrigens ein Leben für sich führen, bald die Vertreter der »hohen« Regierungsbehörden zu Tisch. Man bewegte sich stets ganz zwanglos. Auf Toilette wurde im allgemeinen wenig gesehen. Jeder kam so, wie er es für gut hielt. Die russischen Feiertage (und deren gibt's ja bekanntlich nicht wenige) wurden streng eingehalten. Sie begannen morgens mit den kirchlichen Zeremonien und endeten für gewöhnlich am Abend mit einer tüchtigen Kneiperei, nach welcher zuweilen selbst der Herr Präfekt von sich singen konnte: »Straße, wie wunderlich siehst du mir aus.«

Ich habe mich mehrere Tage hindurch bemüht, irgendein Geräusch zu erfassen, das auf eine arbeitende Stadt schließen ließe. Nichts dergleichen. Vom Dezember bis zum Tag meiner Abreise, – Mitte Februar – dieselbe fürchterliche Ruhe. Kaum hie und da ein Hammerschlag. Auf den Straßen vielleicht zuweilen eine Kuh oder ein Pferd, die sich unter dem tiefen Schnee die kümmerlichen Strohreste hervorsuchten. – Einst am Abend erlebte ich eine unangenehme Überraschung. Ich hatte vergessen, einen Sack mit gefrorener Milch in den Keller schaffen zu lassen, und als ich von der Jagd nach Hause kam, waren gerade sechs Vierfüßler damit beschäftigt, die Milch in ihren Hundewagen verschwinden zu lassen. Eine gehörige Tracht Prügel gab ihnen meinen Dank für die geleistete Arbeit kund. –

Wir hatten dort auch täglich ein Konzert, das fast mit der Sekunde, sechs Uhr des Abends, begann. Musiker waren zahlreiche Mitglieder der gesamten hochwohllöblichen Hundewelt. Wenn man sich auf seinen täglichen Spaziergängen befindet und aus der Entfernung diesen eigenartigen Kunstgenuß anhört, nimmt man unwillkürlich an, daß irgendwo eine Katastrophe eingetreten ist, und daß eine große Menschenmenge jammert und wehklagt. Ich habe nie in meinem Leben ein ähnliches Heulen von Hunden vernommen. Man denke sich ein solches »Borstenvieh«, möchte ich fast sagen, mit seinem ekelhaften Fischgeruch und mit der Begierde, in unbewachten Augenblicken zu stehlen; mit den grünen Wolfsaugen; man zähle noch etwa 400 von diesen lieblichen Geschöpfen hinzu, und man hat ungefähr eine Ahnung dessen, was man empfindet, wenn man bei Nacht die nur vom Polarlicht erhellten Straßen durchmißt. Und man ist gezwungen, bei Nacht unterwegs zu sein, denn am Abend beginnt erst das gesellschaftliche Leben, und am Tage schläft man. Die Gleichgültigkeit der Russen und ihre täglichen Gewohnheiten haben auch hier vollkommen Platz gegriffen. Man raucht vom frühen Morgen bis zum späten Abend Papyrossen und trinkt bis zur Unvernunft Tee.

Die wenigen Kaufleute schließen mit ihren Geschäften recht gut ab, obwohl alle Waren von Jakutsk über Land herbeigeschafft werden müssen, was für Karawanen oft eine Reise von sage und schreibe 150 Tagen erfordert. Die Fracht stellt sich trotz alledem nicht auf mehr als 1 Dollar 50 Cents pro Pud, d. i. 40 Pfund. Die Waren werden meist von Jakutsk bis zum Fluß Aldan mit Pferden oder mit dem Dampfer und von dort mit Renntieren bis Sredne Kolymsk gebracht, was nur im Winter geschehen kann, da sich das Land im Sommer in einen gewaltigen Morast verwandelt, und jedweder Verkehr naturgemäß unterbrochen ist. Es trifft während des Sommers auch nur eine Post in Sredne Kolymsk ein, die sich mit Pferden durch die Sümpfe hindurcharbeitet und die auch oft vier Monate unterwegs ist. Bezahlt wird teilweise mit russischer Münze, teilweise mit Fellen. Die Jakuten ziehen die letztere Zahlungsart vor. Für ein Hermelinfell gibt man ganz verschieden. Der Preis für ein solches war vor einigen Jahren bis auf 2½ Cents gesunken. Heute zahlt man bereits wieder 75 Lents pro Stück. Die Preise für die Fuchsfelle bleiben sich fast immer gleich. Ein Rotfuchs bringt 2 Dollars, ein Weißfuchs 2-4 Dollars, je nach der Güte, und ein Silberfuchs 20-30 Dollars. Für ein Zobelfell vom Anadyr wurden 125-150 Dollars gegeben. Man kann freilich auch irgend welche andere Sachen an den Mann bringen. Fast jedwedes Ding aus der Zivilisation hat Wert und wird gut bezahlt. Ich hatte beispielsweise einen alten Revolver, den ich irgendwo an der Lena für weniges Geld erstanden hatte, er brachte mir netto 30 Rubel (15 Dollar) und den Dank des neuen Besitzers.

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Sredne Kolymsk an der Kolyma

»Gepumpt« wird selbstverständlich auch dort oben. Das Konto des Geistlichen zeigte bei einem Kaufmann allein das runde Sümmchen von 500 Rbl. Das hinderte aber nicht, daß Kaufmann und Seelsorger kameradschaftlich verkehrten und daß der Kaufmann, trotzdem er sich sagen mußte, daß eine solch hohe Summe von dem schmalen Gehalte des Geistlichen niemals beglichen werden könnte, unbekümmert weiter Kredit gab.

Auch ein Bad ist in Sredne Kolymsk. Es ist ein in einem Blockhäuschen auf die notdürftigste Weise hergestelltes Dampfbad, in welchem es derart schmutzig ist, daß man nach der Reinigung von einer förmlichen Rußkruste überzogen zu sein scheint. Für dieses »Vergnügen« hat man die Kleinigkeit von 1 R. 50 Kop. (75 Cents) zu zahlen. Und die Sache lohnt sich. Das Bad ist an jedem Samstag überfüllt. Männlein und Weiblein ziehen sich der Reihe nach aus und kriechen in den brennend heißen Raum, in dem man gerade aufrecht stehen kann. Man nimmt dann einen Eimer Wasser und beginnt mit einem nassen Badequast aus Birkenreisig den ganzen Körper so lange zu bearbeiten, bis er rot wird und der Schweiß auszubrechen beginnt. Wird die Hitze unerträglich, so flüchtet man einfach, unbekleidet wie man ist, ins Freie, gießt sich draußen einen Kübel eiskalten Wassers über den Kopf und stürzt sich dann von neuem ins Vergnügen.

Wir hatten auch sehr oft Gäste aus der Taiga, dem Urwald. Meist waren es Tungusen, Lamuten und Jukagiren. Die Lamuten führen von den drei Volksstämmen wohl das armseligste Leben. Sie gehen unter. Nicht ihre Gutmütigkeit, ihre interessanten Gebräuche und die wohlklingenden Lieder schützen sie vor ihrem Schicksal. Sie legen sich tatsächlich in ihren Zelten hin, um zu sterben, Vater, Mutter und die Kinder. Ich hatte Gelegenheit, mit einem alten Lamuten-Häuptling zusammen zu kommen. Wie der alte Mann in meinem Stübchen da vor mir saß und mit Hilfe eines Dolmetschers von den Leiden seines Volkes erzählte, traten mir unwillkürlich Tränen in die Augen. Das war keine Effekthascherei, das kam aus einfachem, treuem, aber blutendem Herzen.

»Ich bin nicht zu Dir gekommen, Barin (gnädiger Herr), damit Du mir irgendein Geschenk machen sollst«, so hub er an, »ich kam nur, um Dich zu bitten, für uns ein warmes Wort beim Isprawnik (Gebietschef) einzulegen, was sollen wir tun? Unsere wenigen Renntiere hat die Seuche hinweggerafft, und ohne sie können wir nicht leben. Der Schnee ist in den Wäldern so tief, daß wir unmöglich zu Fuß gehen können. Dabei geht unsere Munition zu Ende, und wenn wir keine Eichkätzchen schießen können, ist uns unser Verdienst genommen, wir haben in den letzten zwei Wochen mehr denn hundert unserer Stammesgenossen zu Grabe getragen, und viele von unseren Brüdern sind nicht in die Zelte zurückgekehrt. Sie sind offenbar ebenfalls umgekommen, in Eis und Schnee vielleicht, was weiß ich.

Meine Familie zählt 18 Köpfe, und als ich unsere Zelte verließ, um, wenn möglich, Rettung zu bringen, lag mein kleinster Knabe im Sterben. Noch im Todeskampfe verlangte er nach Nahrung, und wir hatten nur noch alles in allem drei Fische im Hause.« Es war entsetzlich, wie er mir all die Bilder ausmalte. Seine Worte fingen Leben, und ich sah bei der hereinbrechenden Dämmerung all die kraftlosen Gestalten, zu Skeletten abgemagert, wie sie mit lallender Zunge sich auf ihr ärmliches Lager legten, um dem neuen Morgen nicht mehr entgegenzusehen.

Trotz seines Widerspruchs packte ich dem Alten eine gute Portion Fische ein, gab ihm auch ein Schwarzbrot mit auf den Weg und versprach, seine Wünsche der Präfektur vorzutragen.

Andern Tags machte ich mich denn auch auf den Weg und begab mich ins Amtshaus. Es war in den Bureaus dumpf und schwül. Große Messingleuchter mit brennenden Kerzen gaben ihnen ein feierlich-düsteres Aussehen.

Ein Staatsgefangener, der mir wohlbekannte Dr. P., in dessen Hause ich gern gesehener Gast war, und der in seiner Eigenschaft als Distriktsarzt ebenfalls in der Polizei-Verwaltung zu tun hatte, kam mir mit leuchtenden Augen entgegen, und, mir die Hand schüttelnd, sagte er in gebrochenem Deutsch: »Nun, was wollen Sie? Haben wir nicht schon ein kleines Konstitution (Verfassung); aber es wird mehr, sehr, sehr viel mehr.« Und das sagte er vor all den Dienern der Regierung. Niemand schien sich um seine Worte zu kümmern. Jedenfalls sind die Leute da draußen an der Kolyma trotz ihres armseligen Lebens in politischer Hinsicht besser dran, als in Rußland selbst. Ich habe in Sibirien Beamte angetroffen, die Revolutionäre vom reinsten Wasser waren. Es ist darum einfach lächerlich, wenn immer und immer wieder behauptet wird, daß die Staatsgefangenen in den sibirischen Exilen grausam behandelt werden. Es kümmert sich einfach niemand um sie. Sie erhalten an jedem Ersten des Monats für ihren Lebensunterhalt 18 Rbl. (9 Doll.), und damit ist man die »Unzufriedenen« wieder für 30 Tage los.

Genau 11 Uhr wurde ich vorgelassen. Iwan Petrowitsch, der Präfekt, kam mir mit gewohnter Liebenswürdigkeit entgegen, bat mich, im Ledersessel Platz zu nehmen und reichte Zigaretten. Nach gegenseitigen Höflichkeitsphrasen trug ich ihm mein Anliegen vor und erhielt die Versicherung, daß unverzüglich Notstandsmaßregeln getroffen werden würden.

Es kamen denn auch tatsächlich noch am selbigen Tage 20 Renntiere und ca. 500 Fische an die erschienenen Vertreter der Lamuten zur Verteilung. Wie ich später erfuhr, haben die Regierungsbehörden verschiedentlich versucht, das überaus traurige Los der Leute zu mildern, indem man ihnen Nahrungsmittel anfangs kostenlos, später leihweise überließ. Der Versuch schlug fehl. Man wollte dann die Lamuten zum Fischfang bewegen und sie von ihren Wohnplätzen in der Tundra hinweg an die Ufer der Flüsse verpflanzen. Es war das ein ebenso eitles Beginnen, da sich fast der ganze Stamm weigerte, von alten Traditionen abzulassen. Sie wollten lieber Hungers sterben, als sich in neue Gewohnheiten einleben. – So ist denn das Schicksal dieser interessanten Leutchen besiegelt – infolge ihrer eigenen Starrköpfigkeit. Die Jukagiren und Tungusen werden folgen. Und wenn sie verschwunden sind, werden die Ethnographen unersetzlichen Verlust zu beklagen haben.

Fast alle Frauen im Ort sind schwermütig. Es mag dies die Folge vom andauernden Fischgenuß sein. Ein ziemlich gut eingerichtetes Hospital außerhalb der »Stadt« bürgt für sorgfältige Behandlung in Fällen der Not. Allen Unbemittelten wird Medizin und ärztlicher Rat auf Kosten der Regierung zuteil. Ein Arzt und mehrere Heilgehilfen geben sich die denkbar größte Mühe, ihrer viel Hingebung fordernden Arbeit gerecht zu werden.

Auch eine Schule ist in der unteren Stadt vorhanden. Sie wird meist von Jakuten-Kindern besucht. Der Prozentsatz der Russen und Kosaken ist zu gering. Wenn man in die Augen dieser kleinen, pausbäckigen Rangen sieht, möchte man wohl glauben, daß sie ernstlich bemüht sind, etwas zu lernen.

Eine Lehrerin und zwei Lehrer erteilen den Unterricht. Mit der Schule ist gleichzeitig ein Pensionat verbunden, in welchem Schüler gegen eine jährliche Pauschalsumme von 120 Rubel Unterkommen finden. Freilich ist das Erziehungshaus recht dürftig eingerichtet; denn die Schulzimmer werden gleichzeitig als Schlafstuben benutzt, und die jugendlichen Kostgänger erhalten selten andere Speisen als Fisch, und zu den Feiertagen Pferdefleisch. Die Kinder sehen trotz alledem wohl und munter aus.

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Die »Babys« der Nomaden

Eines Tages beehrten mich der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister von Sredne Kolymsk wiederum mit ihrem Besuche. Der Polizei-Gewaltige im Paraderock mit großen Stulpstiefeln und martialischem Schnurrbart. Der Herr Bürgermeister im verschlissenen Pelzrock und mit verkniffenen hinterlistigen Raubtieraugen. Man sagt, daß er 200 000 Rubel in der Truhe liegen hat, trotzdem er wie der armseligste Bauer einherschleicht. Er hat sein Geld in einem Jahre gewonnen, als der Preis für ein Hermelinfell auf 2½ Cents sank. Auch heute noch liegt er eifrig dem Pelzhandel ob, und trotz seiner 65 Jahre läßt er sich's nicht nehmen, regelmäßig den Jahrmarkt von Pantelëicha zu besuchen, was eine Reise von 5-6 Tagen bei ungünstiger Witterung bedeutet.

Der Herr Präfekt verfügt über ein Gebiet, etwa 6-mal so groß wie Frankreich. Freilich kennt er seinen Dienstbezirk auch nur auf der Karte, denn er wird sich schwer hüten, bei arktischem Klima draußen herumzukutschieren, wo er's daheim viel angenehmer haben kann. Sein Vertreter, der Herr Sasedatel, läßt sich ebenso sehr schwer dazu bewegen, auch nur die kleinste Dienstreise anzutreten, es müßte denn sein, daß er an irgend welchen Punkten, die er dabei zu berühren hätte, eine gehörige Menge Schnaps wittert. Das läßt die Sache dann in anderem Lichte erscheinen. Die beiden Herren fanden in den 4 Jahren, die sie nun in Sredne Kolymsk stationiert sind, noch nicht einmal Zeit, den durch den Handel mit den Tschautschus und Lamuten äußerst wichtigen Jahrmarkt von Pantelëicha zu besuchen, dabei existiert eine Vorschrift, die streng gebietet, daß der Gebietschef persönlich dem Jahrmarkt beizuwohnen hat. Zum Teufel mit all' den Gesetzen und Vorschriften; man setzt dem Herrn Gouverneur gelegentlich einen Floh ins Ohr, und damit ist die Sache erledigt. Es müssen schon Fälle sehr schwerwiegender Natur vorliegen, ehe der Gebietschef vor den gestrengen Herrn Gouverneur befohlen wird.

Ein gutes Kartenspiel ist den Leuten immer noch mehr wert, als das langweilige Studium all' der Gesetze. Trotzdem, alles in Ehren, immer liebenswürdig, auffallend liebenswürdig, d. h. nur gegen die » haute-volée«. Die armen Jakuten, die dann und wann in der Präfektur zu tun haben, werden oft in brutalster Weise behandelt, und so kauern sie dann meistens wie geprügelte Hunde in dem Korridor umher, bis sie vor dem »Barin« – gnädigen Herrn – erscheinen dürfen, um ihre verschiedensten Anliegen vorzubringen. Der Herr Polizeichef ist nämlich zugleich auch Standesbeamter, Straf- und Friedensrichter.

Eine Kaste für sich bilden die Kosaken, die freiwillig oder unfreiwillig in Diensten des Staates stehen, d. h. nur der männliche Teil derselben. Vom 16. Jahre an ist jeder dienstpflichtig, und die Regierung kann ihn 25 Jahre lang beschäftigen, ohne daß sie später bei vorgerücktem Alter für ihn zu sorgen hat. Man darf nun nicht glauben, daß die Leute dort oben irgendwie militärisch ausgebildet werden. Mit der Büchse und dem Pferde weiß ja ohnedies jeder, der in der Wildnis lebt, umzugehen. Sie haben Wachen zu stellen und begleiten bei etwaigen Reisen Beamte, Verbannte, Kaufleute und Expeditionen.

Jeder Kosak bezieht dafür im Winter pro Monat 1 Pud (40 Pfund) Roggenmehl und ein Pud Reis, welche Naturalien den Regierungs-Speichern entnommen werden. Im Sommer empfängt er für seine Dienste bare Münze, doch nicht mehr als 4 Dollars pro Monat.

Wird dem Kosaken ein Kind männlichen Geschlechts geboren, so bezieht der Säugling ebenfalls vom Tage seiner Geburt an Einkünfte aus der Kasse der Regierung; und zwar gibt man ihm vom 1. bis 7. Jahre pro Monat 1 Pud und von da weiter 2 Pud Mehl, resp. 1 Pud Mehl und 1 Pud Reis. Bei der Geburt eines Mädchens zahlt die Regierung nichts, da sie auf ein Amazonen-Heer Verzicht leistet. Es gibt daher auch unter den Kosaken Reichtum und Armut, da der Storch in vielen Familien nur Knaben und in anderen Haushaltungen nur Mädchen bringt. – Ich kannte einen Kosaken, der sieben kraftstrotzende Töchter hatte und sich trotzdem mit 1 Pud Mehl und 1 Pud Reis durchschlagen mußte. Für solche Leute heißt's dann eben, im Sommer fleißig Fische zu fangen und sich der Vogeljagd zu widmen; denn wilde Gänse und Enten, die allerdings einen fischartigen Beigeschmack haben, gibt's in den Sümpfen zu Tausenden. Im Sommer ist Sredne Kolymsk fast ausgestorben, denn man flüchtet vor den Moskitos und vor dem entsetzlichen Staube an die Ufer der Kolyma, wo man meist Vorrat für den Winter sammelt. Die ganze 250 engl. Meilen lange Strecke von Sredne Kolymsk bis Nishny Kolymsk ist dann bevölkert. Überall kann man die Laubhütten und Zelte der Sommerfrischler sehen. Auch die Hunde haben während des Sommers Ferienzeit und sorgen für ihr Futter selbst, indem sie einfach auch auf den Fischfang gehen. Die Sonne steht dann während 38 Tagen dauernd am Zenith, und fröhliches Leben und Treiben entwickelt sich dort, wo im Winter der Tod sein Arbeitsfeld aufschlägt.

Auch die Verbannten teilen sich im Sommer in zwei Abteilungen. Die eine Hälfte hat Fische zu fangen und Vögel zu erlegen, die andere Hälfte bringt auf einem Pawosk (überbautes Frachtfloß) Mehl und andere Naturalien für die Kaufleute auf dem Flusse nach Nishny Kolymsk, und kehrt von dort in kleinen Ruderbooten zurück. Alle Einnahmen werden gleichmäßig unter die Genossen verteilt, und meist trägt es jedem von ihnen 30-40 Dollars; außerdem erheben sie noch das ausgesetzte Kostgeld der Regierung im Betrage von 9 Dollars pro Monat.

Sobald sich die Mückenschwärme verlieren und mit nur kurzem Übergang der Herbst mit seinen Schneestürmen einbricht, ist alles wieder in der Stadt, um dem süßen Nichtstun zu frönen. –

Ich hatte während meiner Fahrt als Postillon von Werchojansk nach Sredne Kolymsk irgendwo in den Schneefeldern einen mir gehörigen Sack mit Lebensmitteln im Werte von ungefähr 1 Doll. 50 Cts. verloren. Das Gepäckstück wurde von Eingeborenen aufgefunden, an die Präfektur in Werchojansk abgeliefert und mir vom Polizeichef durch Sonderkurier kostenlos nachgesandt. Der Mann, der 23 Tage unterwegs war, lieferte den Sack wohlbehalten bei mir ab. Auch eine Depesche, welche ich zur nächsten Telegraphenstation, Jakutsk, einem Wege von etwa 1800 engl. Meilen, befördert haben wollte, wurde ebenfalls von dem diensthabenden Beamten unentgeltlich zur Weitersendung angenommen.

Auch die in der Taiga (Urwald) hausenden Aussätzigen habe ich besucht. Es war während der Weihnachts-Feiertage. Der Kosakenkommandeur holte mich schon am frühen Morgen mit seinem einfachen Bauernschlitten ab. Er hatte alles Mögliche aufgeladen: große Pakete Eßwaren, alte Renntierröcke, warme Pelzkappen und dergleichen. Unter dem dumpfen Dröhnen der Weihnachtsglocken zog das zottige Steppenpferd an. Es wußte wohl, wohin es uns bringen sollte, denn es war sonst nicht seine Art, mit hängendem Kopf dem Ziel zuzustreben.

Ich empfand nicht die fürchterliche Kälte, nahm auch kaum von den tausend und abertausend Eiskristallen Notiz, die uns in kurzer Zeit in eine silberne schimmernde Eiskruste einhüllten.

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Lamuten-Familie

Erst das lange Band der Kolyma, dann die gefrorenen Sümpfe und zuletzt die Taiga – der Urwald. Lärchenbäume, Birken und Erlen in bunter Reihenfolge. Zwischendurch verkrüppelte Weiden und am Boden die verschiedensten Moosarten.

Es war sehr schwer, durchzukommen, denn wo die von den Jakuten geschaffenen Pfade bereits wieder überwuchert waren, mußte mit der Axt nachgeholfen werden. An einzelnen lichten Stellen galt es, haushohe Schneewehen zu überwinden. Schritt für Schritt ertrotzten wir uns den Weg. Endlich, wir mochten bereits drei Stunden unterwegs sein, die ersten Laute. Wir waren in der Nähe der Leprakranken.

Eine lichte Rauchwolke zog in wunderlichen Krümmungen über die verkrüppelten Bäume hin, in regelmäßigen Zwischenräumen fiel etwas Hartes auf das Erdreich, doch konnten wir vorerst noch nicht unterscheiden, was das für Schläge waren, die in unmittelbarer Nähe menschlicher Behausungen in gleichen Abständen auf den gefrorenen Boden niederfielen.

Man mochte unser Kommen bemerkt haben, denn die Schläge verlangsamten sich, die Rauchwolke wurde stärker, und schon schlängelten sich einige Funken durch das mit Schnee reich beladene Geäst der Baumkronen.

Mein Führer hielt es nun für angebracht, unser Kommen anzumelden. Ein lautes »Dorowa« – Guten Tag, – das von der anderen Seite mehrstimmig, aber müde und tonlos beantwortet wurde.

Die Stimmen im nahen Lager dämpften sich zum Flüstertone. Die Kranken hatten sich um etwas gruppiert, was wir jetzt, da wir die letzten Bäume hinter uns ließen und auf eine kleine Lichtung traten, als einen Leichnam erkannten, der, nur mit einigen elenden Fellfetzen bedeckt, ausgestreckt auf dem Schnee lag. Ihm hatten auch die Schläge gegolten, die schon drei Tage lang gleichmäßig auf das Erdreich fielen, um eine Grube auszuwerfen, in die man den von seinen Leiden erlösten Kameraden betten konnte.

Es waren alles mit Aussatz im vorgeschrittensten Stadium behaftete Jakuten; achtzehn Personen im ganzen, Frauen, Männer und junge Mädchen; auch ein Säugling.

Sie wagten nicht, uns anzuschauen. Mit über der Brust gefalteten Händen erwarteten uns die Unglücklichen. Die Haare hingen ihnen wirr um die Stirn; ihre Blößen nur eben bedeckt mit einigen notdürftig zusammengestoppelten Lumpen. Einige kauerten am Boden, die übrigen, denen die unteren Gliedmaßen noch nicht verfault waren, lehnten sich an die Wand ihrer Behausung. Welch ein Anblick! Das Haus, die Wohnstätte für achtzehn Personen, aus in den Schnee gesteckten Baumzweigen hergestellt, hoch genug, um gerade darin sitzen zu können. Mitten drin ein Feuerchen, nicht genügend, um die erstarrten Hände erwärmen zu können. An den Wänden, durch die ungehindert Schnee und Kälte ihren Einzug halten, Moos und Fetzen von allerlei Fellen. Die Lagerstätten aus Zweigen und halbverfaulten Renntier-Fellen. Neben dem Feuer einige zerbrochene Kochgeräte aus Holz und ein schmutziger Eisenkessel. Fischreste zeugen von der letzten Mahlzeit.

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Lamuten auf Renntieren reitend

Und draußen, vor der Hütte, der Bruder, der Leidensgenosse, der ausgerungen hatte und dem man nun mit ungenügendem Werkzeug, fast mit den Fingernägeln, das Grab schaufelte.

Diese demütigen, bittenden Blicke, die auf uns haften, und die uns anzuflehen scheinen, wenigstens Linderung für ihre entsetzlichen Qualen zu schaffen! Könnte man ihnen allen doch den Tod als Erlösung geben, den Tod, der ja ohnedies kommt, für diese Unglücklichen aber oft nur zu lange auf sich warten läßt, und der seine Opfer der langsamen Fäulnis preisgibt, ehe er sie endgültig für sich beansprucht!

Wir verteilten die Weihnachtsgaben, Tee, Zucker, Brot, Fische, Kleider und Felle. Nur Blicke dankten uns. Aber diese Blicke werden mich begleiten durch mein ganzes Leben. Diese Blicke aus den erloschenen, trüben Augen. Wir hatten es mit Lebenden zu tun, aber der Schatten des Todes umgab uns.

Nur mildern könnte man, und auch das nur unter größten Schwierigkeiten, da sich diese Kranken, von allen gefürchtet und gemieden, wie scheues Wild in den undurchdringlichen Urwald zurückziehen und dort schlimmer als Tiere hausen. –

Mit Kasimirs Hilfe bestatteten wir den Toten. Ohne Sarg. Ohne Blumen. Nur Eisschollen deckten ihn. Ein kurzes Gebet, dann trat oder rutschte jeder Kranke an den Hügel, bekreuzigte sich, und mit den Worten: » Gaspodine pamiluj« – Herr, erbarme Dich! – zog er sich zurück, wieder das alte Leben aufnehmend.

Ja, denen leuchtet keine Sonne. Für sie gibt es keinen Feiertag. Und doch war es Weihnachten, als wir zu ihnen kamen. Aber sie wußten es ja nicht. Kannten nichts als ihr Leid und ihre Qualen. –


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