Victor Hugo
1793
Victor Hugo

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Siebentes Buch.
Mittelalter und Neuzeit

I.
Der Ahnherr

Auf einer Steinplatte des Gefängnisses, neben der viereckigen Oeffnung des unterirdischen Verließes, brannte eine Lampe; weiter hinten war auch der Wasserkrug mit dem Kommisbrod und das Bündel Stroh. Da der Kerker in den Felsen gehauen war, wäre der Einfall, dieses Stroh in Brand zu stecken, dem Insassen übel bekommen, denn er hätte, ohne den geringsten Schaden anrichten zu können, unfehlbar im Rauch ersticken müssen.

Im Augenblick, wo sich die Thür in den Angeln drehte, schritt der Marquis in seinem Gefängniß auf und nieder, mit der mechanischen Unruhe des Löwen im Käfig. Beim Geräusch der auf- und zugehenden Pforte erhob er den Kopf, und die Lampe zwischen Gauvain und ihm leuchtete den Beiden von unten ins Gesicht. Sie schauten einander an, mit einem Blick, vor dem Jeder erstarrte. Dann brach Lantenac in schallendes Gelächter aus und rief: – Guten Tag, mein Herr. Es sind nun schon hübsch viele Jahre, daß mir das Glück nicht mehr zutheil geworden, mit Ihnen zusammen zu treffen. Sie haben die Gewogenheit, mir einen Besuch abzustatten. Ich danke Ihnen. Es kommt mir ganz erwünscht, ein klein wenig zu plaudern, denn ich war bereits auf dem besten Weg, mich zu langweilen. Ihre guten Freunde vergeuden die Zeit mit allerlei Weitschweifigkeiten, mit Feststellungen der Identität und Kriegsgerichten. Ich ginge rascher zu Werk. Bemühen Sie sich nur ganz herein – ich bin hier zu Hause. Nun, was sagen denn Sie zu Allem, was sich jetzt abspielt? Recht originell, nicht wahr? Es war einmal ein König und eine Königin; der König war der König; die Königin war Frankreich. Den König hat man enthauptet und die Königin mit Robespierre vermählt; dieser Herr und diese Dame haben eine Tochter bekommen, die man die Guillotine heißt und deren Bekanntschaft ich allem Anschein nach morgen früh machen werde. Es soll mir ein Vergnügen sein, gerade so vorzüglich, mein Herr, wie das, Sie hier bei mir zu sehen. Führt Sie etwa diese Angelegenheit her? Wären Sie wohl gar zum Henker avancirt? Wenn Sie mir hingegen einen bloßen Freundschaftsbesuch zugedacht haben, so bin ich unendlich gerührt. Sie wissen vielleicht nicht mehr, was ein Edelmann ist. Nun wohl, hier steht Einer: ich. Sehen Sie sich das sonderbare Ding nur an; das glaubt Ihnen an Gott; das glaubt an Althergebrachtes, glaubt an die Familie, an seine Vorfahren, an das Beispiel seines Vaters, an die Loyalität, an die Treue gegen den Landesherrn, an die Achtung vor den überlieferten Gesetzen, an eine Tugend, an eine Gerechtigkeit und das würde Sie mit Freuden füsiliren lassen. Aber bitte, gefälligst Platz zu nehmen, auf dem Stein zwar, denn in diesem Salon kann ich Ihnen keinen Fauteuil anbieten; doch wer im Unrath lebt, kann sich auch am Boden niedersetzen. Glauben Sie ja nicht, daß ich mit dieser Aeußerung eine beleidigende Absicht verbinde, denn was wir den Unrath nennen, das nennen Sie die Nation und von mir werden Sie doch schwerlich verlangen, daß ich mitrufe: Freiheit, Gleichheit, Verbrüderung. Wir stehen hier in einem alten Gemach meines Hauses; vor Zeiten sperrten die Herren die Hintersassen, jetzt sperren die Hintersassen die Herren hinein. Dergleichen Albernheiten heißt man eine Revolution. In sechsunddreißig Stunden soll mir auch, so scheint es, der Hals abgeschnitten werden. Ich sehe nicht ein, was ich daran aussetzen sollte. Nur hätte man wenigstens so höflich sein können, mir meine Dose herunterzuschicken, die ich droben im Spiegelzimmer ließ, wo Sie als kleines Kind oft gespielt haben und auf meinen Knieen geritten sind. Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen auch mittheilen, daß Sie den Namen Gauvain führen und daß sonderbarerweise edles Blut in Ihren Adern fließt, ja weiß Gott, dasselbe Blut wie in den meinen, und daß dies Blut aus mir einen Mann von Ehre macht und aus Ihnen etwas Anderes. Jeder hat seine Eigenheiten. Sie werden mir vielleicht bemerken, das sei nicht Ihre Schuld; nun, meine ist es auch nicht. Mein Gott, man kann ja ein Uebelthäter sein, ohne es zu wissen; das liegt an der Luft, in der man lebt, und in Zeiten, wie wir sie jetzt haben, ist man für sein Handeln keineswegs verantwortlich; die Revolution, die nimmt jede einzelne Nichtswürdigkeit auf ihre Kappe, und all Ihre großen Verbrecher sind die leibhaftige Unschuld. Einfaltspinsel sind's! Sie zu allermeist. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Bewunderung ausspreche. Ja, ich bewundere einen Jungen, der wie Sie, von hoher Geburt, eine hervorragende Stellung im Staat einzunehmen und ein edles Blut zu vergießen hat für eine edle Sache, einen Vikomte von La Tour-Gauvain, einen bretonischen Fürsten, der von rechtswegen Herzog und von erbschaftswegen Pair von Frankreich sein könnte, so ziemlich Alles, was ein vernünftiger Mensch hienieden verlangen dürfte, und der seinen Spaß daran findet, dem, der er ist, zum Trotz der zu sein, der Sie sind, so daß er schließlich seinen Feinden als ein Bösewicht und seinen Freunden als ein Dummkopf erscheinen muß. Da fällt mir eben ein, empfehlen Sie mich doch auch dem Herrn Abbé Cimourdain.

Der Marquis sprach behaglich und gelassen, ohne irgend etwas besonders zu betonen, mit einer Salonstimme, mit klarem, ruhigem Blick und mit den Händen in den Westentaschen. Nachdem er innegehalten, um aufzuathmen, begann er wieder: – Ich will Ihnen nicht verschweigen, daß ich Alles aufgeboten habe, um Ihnen das Leben zu nehmen. Wie Sie mich hier sehen, habe ich zu dreien Malen, ich selber, eigenhändig eine Kanone auf Sie abgefeuert, ein unfeines Verfahren, ich gebe es zu, aber es hieße von einer irrigen Voraussetzung ausgehen, wenn man sich einbilden wollte, daß in Kriegszeiten der Feind bemüht sei, sich Einem gefällig zu erweisen, und wir führen ja Krieg, Herr Neffe, mit Feuer und Schwert, und es läßt sich auch nicht in Abrede stellen, daß der König hingerichtet worden ist. Ein anmuthiges Jahrhundert das!

Er schwieg abermals und hob dann wieder an: – Wenn man bedenkt, daß dies Alles unterblieben wäre, hätte man nur Voltaire gehenkt und Rousseau auf eine Galeere gesetzt! O die geistreichen Männer, welch ein Krebsschaden! Ei, zum Teufel, was können Sie ihr denn vorwerfen, dieser Monarchie? Sie hat allerdings den Abbé Pucelle in seine Abtei von Corbigny zurückgeschickt mit der freien Wahl der Fahrgelegenheit und der Bewilligung einer beliebigen Reisedauer, und was Ihren Herrn Titon anbelangt, der mit Verlaub ein rechter Wüstling war und bei den Dirnen vorsprach, eh er dem wunderthätigen Diakonus Paris nachlief, so wurde er vom Schloß von Vincennes nach dem Schloß von Ham in der Picardie übergeführt, welches, ich leugne es nicht, allerdings ein ziemlich garstiger Aufenthaltsort ist. Das waren die Beschwerdepunkte; ich erinnere mich noch ganz gut; ich habe meiner Zeit auch mitgeschrieen; ich bin so einfältig gewesen wie Sie.

Der Marquis griff an seine Tasche, als wolle er die Tabaksdose herausnehmen und fuhr fort: Aber so bösartig nicht. Man redete, um eben zu reden. Es wurde auch Unfug getrieben mit den Untersuchungen und Eingaben, und nachher kamen die Herren Philosophen; statt der Verfasser hat man ihre Schriften verbrannt; die Hofintriguen haben mitgespielt; dann kamen auch alle die Dummköpfe wie Turgot, Quesnay, Malesherbes, die Physiokraten und Konsorten, und die Hetzerei ging los. Die Schmieranten und Versifexe haben den ganzen Wirrwarr in Szene gesetzt. Die Encyclopädisten! Diderot! d'Alembert! O über die nichtsnutzigen Tröpfe! Daß ein anständiger Mann wie jener König von Preußen sich in dergleichen verrennen konnte. Wie hätte ich an seiner Stelle die Tintenkleckser sammt und sonders aus dem Weg geschafft! Ha, wir Andern, wir wußten noch mit der Rechtspflege umzugehen. Hier diese Mauer mit den Räderspuren erzählt noch davon. Wir machten Ernst. Nein, nein, fort mit dem Schreiberpack! So lange es noch Leute giebt wie einen Arouët, wird es auch Leute geben wie Marat; so lange noch Krakehler Papier verkratzen, werden Spitzbuben morden; so lange die Tinte fließt, werden die schwarzen Flecken nicht ausbleiben, und so lange eine Menschenpfote einen Gänsekiel halten wird, werden die frivolen Albernheiten in niederträchtige Albernheiten ausarten. Die Verbrechen werden durch die Bücher in die Welt gesetzt. Das Wort Chimäre hat einen doppelten Sinn: es bezeichnet einen Traum und bezeichnet ein Ungeheuer. Wie bereitwillig giebt man sich mit leeren Redensarten zufrieden! Was faselt ihr mir da vor von Rechten? Von Menschenrechten, Volksrechten! Läßt sich etwas Hohleres, etwas Stupideres, etwas Unmöglicheres, etwas Inhaltloseres aushecken? Ich, wenn ich sage: Havoise, die Schwester Conans II., brachte dem Grafen Hoël von Nantes und Cornouailles die Grafschaft Bretagne mit in die Ehe; von diesem vererbte sich die Krone auf Alain Fergant, den Oheim von Bertha, welche sich mit dem souveränen Herrn zu La Roche-sur-Yon, Alain dem Schwarzen, vermählte und ihm Conan den Kleinen, den Ahnen von Guy oder Gauvain von Thouars, dem Gründer unseres Stamms, gebar, – wenn ich so spreche, so spreche ich eine bestimmte Thatsache aus und leite ein bestimmtes Recht davon ab. Auf welche Rechte aber berufen sich Ihre Strolche, Ihre Gaudiebe, Ihre Hungerleider? Auf die Gotteslästerung und auf den Königsmord. Und das soll nicht niederträchtig sein? O welche Hallunken! Es thut mir leid für Sie, mein Herr, aber Sie sind aus jenem stolzen bretonischen Geschlecht; Sie wie ich stammen von Gauvain von Thouars ab, auch von jenem großen Herzog von Montbazon, der französischer Pair und Großkreuz des königlichen Hausordens war, der die Vorstadt von Tours stürmte, im Gefecht von Arques verwundet wurde und in seinem sechsundachtzigsten Lebensjahr als Oberstjägermeister von Frankreich auf seinem Schloß von Couzières in der Touraine verstarb. Ich könnte Ihnen ferner noch vom Herzog von Laudunois, dem Sohn der Freifrau von La Garnache, erzählen, von Claude von Lothringen, Herzog von Chevreuse, und von Henri von Lenoncourt und von Françoise von Laval-Boisdauphin; aber wozu? Der junge Herr haben die Ehre, ein Simpel zu sein, und wollen durchaus mit meinem Stallknecht rangiren. Ich sage Ihnen nur so viel, daß ich schon ein betagter Mann war, als Sie noch in den Windeln lagen. Ich habe Ihnen oft das Rotznäschen geputzt und möchte es wieder thun, denn Sie haben das Kunststück geliefert, mit den Jahren kleiner zu werden. Seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben, ist Jeder von uns seiner Wege gegangen, ich den rechtschaffenen, Sie den entgegengesetzten. Wozu das Alles führen wird, weiß ich zwar nicht, aber das weiß ich, daß Ihre Herren Freunde famose Schurken sind, O ja, es ist Alles recht schön und gut; ich muß es loben; der Fortschritt ist kolossal; in der Armee hat man die Strafe des dreitägigen Wassertrinkens für die Säufer abgeschafft; man hat das Maximum, den Konvent, den Bischof Gobel, die Herren Chaumette und Hébert und rottet die ganze Vergangenheit mit Stumpf und Stiel aus, von der Bastille bis herab zum Kalender, in dem die Heiligen durch Gemüsesorten ersetzt werden. Schön, Ihr Herren Bürger, herrscht nur zu, regiert, macht es Euch bequem, thut Euch gütlich, genirt Euch nicht. Dafür bleibt die Religion doch die Religion; dafür füllt das Königthum doch fünfzehn Jahrhunderte in unserer Geschichte aus; und dafür steht der alte französische Adel doch über Euch, auch wenn Ihr ihn köpft. Und über Eure Nörgeleien am historischen Recht der Dynastien zucken wir nur die Achseln. Hilperich war blos ein Mönch Namens Daniel und wurde durch Rainfried untergeschoben, um Karl Martell zu ärgern; das Alles wissen wir so gut wie Ihr. Aber darum handelt sich es nicht; es handelt sich darum, ein großes Reich zu sein, das alte Frankreich, dieses herrlich organisirte Land: an der Spitze die geheiligte Person des Monarchen, dann die Prinzen, dann die Würdenträger der Krone für den Krieg zu Land und zu See, für die Artillerie, für die Oberleitung und Pflege der Finanzen, dann die souveräne und subalterne Justiz, dann das Steuerwesen und die Staatseinnahmen und zuletzt die drei verschiedenen Abstufungen der Königlichen Polizei. Das war schön und vornehm angeordnet; Ihr habt es zerstört, habt die Eintheilung der Provinzen zerstört, Ihr jämmerlichen Ignoranten, ohne auch nur zu ahnen, was die Provinzen bedeuten sollten. In Frankreichs Genius konzentrirte sich der Genius des ganzen Kontinents und jede französische Provinz vertrat eine europäische Tugend, die Pikardie die deutsche Offenherzigkeit, die Champagne die schwedische Großmuth, Burgund den holländischen Gewerbefleiß, das Languedoc die polnische Rührigkeit, die Gascogne den spanischen Ernst, die Provence die italienische Klugheit, die Normandie den griechischen Scharfsinn, das Dauphiné die schweizerische Treue. Von dem Allen habt Ihr nichts gemerkt; Ihr habt zerbrochen, zertrümmert, zerschmettert, niedergerissen, in aller Seelenruhe, wie die Bestien. Ah, Ihr wollt keinen Adel mehr? Nun gut, Ihr sollt auch keinen mehr haben. Ergebt Euch denn darein; verzichtet nur gleich auf die Paladine, auf die Helden; gute Nacht, du alte Größe! Zeigt mir heut zu Tage einen d'Assas! Ihr seid Alle besorgt um Eure Haut; es ist vorbei mit jenen ritterlichen Kämpfern von Fontenoy, die den Feind grüßten, ehe sie losschlugen, vorbei mit den Heroen in seidenen Strümpfen, die bei der Belagerung von Lerida gefochten, vorbei mit jenen stolzen Schlachten, wo die Federbüsche wie Meteore einherstürmten; Ihr seid ein bankrott gewordenes Volk; Ihr werdet die Nothzucht der Invasion über Euch ergehen lassen, und wenn ein zweiter Alarich kommt, wird er keinen zweiten Klodwig finden; wenn Abderrahman wiederkehrt, wird kein Karl Martell, wenn die Sachsen wiederkehren, wird kein Pipin da sein. Ihr werdet kein Agnadel, kein Rocroy, kein Lens, Staffarde, Neerwinden, Steinkirchen, La Marsaille, Rocoux, Laufeld, Mahon mehr erleben, kein Marignan mit seinem Franz I., kein Bouvines mit seinem Philipp August, der mit der einen Hand den Grafen Renaud von Boulogne und mit der anderen den Grafen Ferrand von Flandern gefangen nimmt. Nur zu einem Azincourt werdet Ihr es bringen, aber ohne dabei einen Oriflammenträger zu haben wie den edlen Herrn von Bacqueville, der sich, in seine Fahne gewickelt, niederhauen läßt. Aber geht, geht nur immer Eures Wegs und seid die Männer der Neuzeit und werdet klein.

Der Marquis machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: – Aber uns laßt groß bleiben. Bringt die Könige um, die Edelleute, die Priester, zerstört, verheert, guillotinirt, tretet mit Füßen Alles, setzt Eure Stiefelsohlen auf die Ueberlieferungen der Vergangenheit, trampelt auf dem Thron herum, stampft die Altäre nieder, schmettert Gott in den Staub und tanzt darüber hinweg! Das ist Eure Sache. Ihr seid Verräther und Feiglinge, unfähig, Euch für etwas hinzugeben und aufzuopfern. Ich bin zu Ende. Jetzt lassen Sie mich guillotiniren, Herr Vikomte. Ich habe die Ehre, Ihr Allergehorsamster zu sein.

Und er setzte noch hinzu: Nicht wahr, ich habe Ihnen die Leviten gelesen? Warum sollte ich nicht? Ich bin ja todt.

– Sie sind so frei, sagte Gauvain. Und er trat auf den Marquis zu, knöpfte den Mantel auf, warf ihm denselben über die Schultern und zog ihm die Kapuze über die Stirn. Sie waren Beide in einer Größe.

– Ei, was thust Du denn da? fragte der Marquis.

– Lieutenant! schließen Sie auf! rief Gauvain mit lauter Stimme. Die Thür wurde geöffnet.

– Riegeln Sie die Thür gleich wieder hinter mir zu! befahl Gauvain und stieß den staunenden Marquis zum Kerker hinaus.

Der ebenerdige Saal, der jetzt eine Wachtstube war, hatte, wie man sich erinnern wird, keine andere Beleuchtung als die einer Hornlaterne, die Alles ganz trübe erscheinen ließ und mehr Nacht verbreitete als Licht. In diesem verschwommenen Dämmerdunkel sahen die noch wach gebliebenen Soldaten einen hochgewachsenen Mann in dem Mantel und der Kapuze des Kommandanten dem Ausgang zu vorüberschreiten und salutirten. Langsam trat der Marquis zur Bresche und durch diese, nicht ohne sich mehrmals die Stirn anzurennen, vor den Thurm hinaus. Dort präsentirte ihm die Schildwache, welche Gauvain zu erkennen glaubte, das Gewehr. Als er draußen war, auf dem Grasplatz, zweihundert Schritte vom Wald, mit dem unbegrenzten Raum und der Nacht und der Freiheit und dem Leben vor sich, stand er eine Weile regungslos, wie Einer, dem ohne sein Zuthun etwas durch Ueberraschung aufgenöthigt worden und der nun nach Benutzung der offenen Thür, mit sich selbst im Unklaren, zaudert und, bevor er weitergeht, erst seine Gedanken sammelt. Nach einigen Momenten aufmerksamer Ueberlegung, erhob er die rechte Hand, drückte den Mittelfinger gegen den Daumen und sagte, indem er ein Schnippchen schlug: Meinetwegen!

Als er den Wald betrat, war der Kerker, in welchem Gauvain zurückgeblieben, schon längst wieder verriegelt.

II.
Das Kriegsgericht

In der damaligen Militärjustiz herrschte so ziemlich die Willkür. Dumas hatte wohl in der gesetzgebenden Versammlung Grundzüge zu einem Kodex für die Kriegsgerichte entworfen und seine Arbeit war auch durch Talot im Rath der Fünfhundert wieder aufgenommen worden, aber die endgiltige Gesetzgebung für die Armee ist das Werk des Kaiserreichs. So war zum Beispiel zur Revolutionszeit den Kriegsgerichten noch nicht vorgeschrieben, beim Einsammeln der Stimmen mit der untersten Charge zu beginnen. Im Jahre 93 vereinigten sich so gut wie alle Befugnisse eines solchen Gerichtshofs in der Person des Präsidenten; er wählte die Votanten, bestimmte die beizuziehenden Chargen, entschied über den Abstimmungsmodus, kurz war Machthaber und Richter in einer Person.

Zum Sitzungslokal war durch Cimourdain der ebenerdige Saal ausersehen, wo die Barrikade gestanden hatte und wo sich jetzt der Wachtposten befand. Alles sollte möglichst abgekürzt werden, sowohl der Weg vom Gefängniß zur Verhandlung, wie von dieser zum Schaffot. Hier hatte sich das Gericht, Cimourdain's Anordnung zufolge, um zwölf Uhr Mittags versammelt. Die ganze äußere Ausstattung bestand aus drei Strohsesseln, einem Tisch aus Tannenholz, darauf zwei brennende Lichter und dahinter ein hoher Schemel: die Sessel für die Richter, der Schemel für den Angeklagten. An jedem Ende des Tisches stand noch ein anderes Tabouret für den Auditor, der ein Fourier, und für den Schriftführer, der ein Korporal war. Auf dem Tisch befand sich ferner noch eine Stange von rothem Siegellack, ein kupfernes Amtssiegel, zwei Tintenfässer, Schreibpapier und zwei ihrer ganzen Größe nach entfaltete gedruckte Plakate, das eine mit der Bekanntmachung, daß Lantenac außer dem Gesetz stehe, das andere mit der Verordnung des Konvents. Ueber dem mittleren Stuhl erhoben sich ein paar dreifarbige Fahnen. In diesen prunklos derben Zeiten verlor man mit der Ausschmückung nicht viel Zeit und konnte im Handumdrehen eine Wachtstube in einen Gerichtssaal umwandeln. Der mittlere Sessel, der Präsidentenstuhl, war der Kerkerthür zugewendet. Soldaten bildeten das Publikum, und hinter dem für den Angeklagten bestimmten Schemel standen zwei Gensdarmen.

Cimourdain saß auf seinem Platz, zu seiner Rechten den Hauptmann Guéchamp als ersten Richter und als zweiten zur Linken den Sergeanten Radoub. Er hatte einen Hut mit dreifarbigem Federbusch auf, seinen Säbel an der Seite und in der Schärpe seine zwei Pistolen. Der grimmige Ausdruck seines Gesichts wurde durch die hochrothe Narbe noch gesteigert.

Radoub, der sich schließlich hatte verbinden lassen, trug ein Tuch um den Kopf gewickelt, auf dem ein Blutflecken zu sehen war, welcher allmälig um sich griff.

Die Sitzung hatte noch nicht begonnen. Beim Gerichtstisch stand eine Staffette, deren Pferd man draußen scharren hörte, und Cimourdain schrieb folgende Worte nieder: »Bürger und Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, Lantenac ist gefangen und wird morgen guillotinirt.« Er setzte das Datum hinzu, unterschrieb die Depesche, faltete und versiegelte sie und reichte sie dann dem Boten, der sich damit entfernte. Hierauf sagte Cimourdain mit lauter Stimme: Man öffne das Gefängniß.

Die zwei Gensdarmen schoben die Riegel zurück, schlossen auf und traten hinein. Cimourdain hob den Kopf in die Höhe, verschränkte die Arme, schaute nach der Thür und rief: Man führe den Gefangenen vor.

Da erschien unter der Wölbung der Thür zwischen den zwei Gensdarmen ein Mann.

Cimourdain zuckte zusammen, als er ihn erblickte: Gauvain! rief er aus und setzte dann hinzu: Den Gefangenen will ich haben.

– Der bin ich, sagte Gauvain.

– Du?

– Ich.

– Und Lantenac?

– Ist frei.

– Frei?

– Ja.

– Ausgebrochen?

– Ausgebrochen.

Zitternd stammelte jetzt Cimourdain: Allerdings dies Schloß hier ist ja sein; er kennt alle Schliche; sein Gefängniß hat wohl einen geheimen Ausgang; daran hätte ich denken sollen; es wird ihm eben gelungen sein, zu entrinnen, ohne irgend welcher fremden Hilfe zu bedürfen.

– Ihm ward geholfen.

– Zur Flucht?

– Zur Flucht.

– Und wer verhalf ihm dazu?

– Ich.

– Du?!

– Ja, ich.

– Du sprichst im Traum!

– Ich bin zu ihm in den Kerker gegangen, war dort mit ihm allein, habe meinen Mantel von den Schultern genommen und um die seinen geworfen; habe ihm die Kapuze über das Gesicht zurückgeschlagen, dann hat er sich statt meiner entfernt; ich bin statt seiner geblieben, und hier stehe ich.

– Das hast Du nicht gethan!

– Ich habe es gethan.

– Es ist rein unmöglich.

– Es ist so.

– Bringt mir Lantenac!

– Er ist schon weit. Die Soldaten, die ihn im Kommandantenmantel sahen, haben ihn für mich gehalten und an sich vorübergehen lassen. Es war noch Nacht.

– Du redest irre.

– Ich rede die Wahrheit.

Nach einer Pause stotterte Cimourdain: Aber dann verdienst Du ja . . .

– Den Tod, sagte Gauvain.

Cimourdain's Gesicht war blaß geworden wie ein abgeschnittener Kopf; er saß regungslos da, wie vom Blitz gerührt. Es war, als athme er nicht mehr, und Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Endlich sprach er mit etwas festerer Stimme: Man lasse den Gefangenen niedersitzen.

Gauvain nahm seinen Platz auf dem Schemel ein.

– Gensdarmen, hob Cimourdain wieder an, zieht die Säbel.

Es war dies die gebräuchliche Form, wenn Jemand eines Verbrechens angeklagt war, das durch den Tod bestraft wurde.

Die Gensdarmen zogen blank. Cimourdain's Stimme hatte ihre ganze gewohnte Festigkeit wiedergewonnen. Angeklagter, sagte er, stehen Sie auf.

Er redete Gauvain nicht mehr mit Du an.

III.
Die Abstimmung

Gauvain erhob sich.

– Wie heißen Sie? fragte Cimourdain.

– Gauvain.

Nun nahm das Verhör seinen weiteren Verlauf.

– Wer sind Sie?

– Ich bin Oberkommandant der Streifkolonne vom Departement Côtes-du-Nord.

– Sind Sie mit dem flüchtig Gewordenen blutsverwandt oder verschwägert?

– Ich bin sein Großneffe.

– Sie haben Kenntniß von der Verordnung des Konvents?

– Dort liegt sie gedruckt auf dem Tisch.

– Haben Sie betreffs dieser Verordnung etwas zu bemerken?

– Ich habe zu bemerken, daß ich sie mit unterzeichnete, daß ich die Vollstreckung in Aussicht stellte und daß ich selber das von mir unterschriebene Plakat anschlagen ließ.

– Wählen Sie sich einen Vertheidiger.

– Ich werde mich selber vertheidigen.

– Sie haben das Wort.

Cimourdain beherrschte sich wieder; nur glich diese Selbstbeherrschung weniger der Seelenruhe eines Menschen als der Starrheit eines Felsens. Gauvain blieb eine Weile stumm und in sich gekehrt.

– Was können Sie zu Ihrer Vertheidigung vorbringen? mahnte Cimourdain.

Langsam erhob Gauvain das Haupt und antwortete, ohne Jemand anzublicken: Dies Eine: mich hat ein Umstand verhindert, einen anderen in Betracht zu ziehen; eine gute That, allzusehr in der Nähe beschaut, hat mir hundert Missethaten verdeckt; ein Greis einerseits und andererseits die Kinder, das Alles hat sich zwischen mich und meine Pflicht gedrängt. Ich habe die eingeäscherten Dörfer vergessen, die verwüsteten Felder, die erschossenen Gefangenen, die niedergemachten Verwundeten, die hingerichteten Weiber, habe das an England verrathene Frankreich vergessen und den Mörder des Vaterlandes in Freiheit gesetzt. Ich bin schuldig. Indem ich also spreche, könnte man vielleicht glauben, ich spräche gegen mein Interesse, aber das wäre ein Irrthum: ich rede mir selber das Wort, denn wenn der Schuldige seine Schuld erkennt, so rettet er das Einzige, was zu retten sich der Mühe verlohnt, die Ehre.

– Ist das Alles, was Sie zu Ihrer Vertheidigung zu sagen haben? fragte Cimourdain.

– Ich füge noch hinzu, daß, wie mir als dem Kommandanten obgelegen hätte, mit gutem Beispiel voranzugehen, Ihnen als den Richtern jetzt ein gleiches obliegt.

– Worin soll das gute Beispiel bestehen?

– In meinem Tod.

– Sie finden ihn also gerechtfertigt?

– Und nothwendig.

– Setzen Sie sich.

Nun erhob sich der Fourier und verlas in seiner Eigenschaft als Auditor erstens den Beschluß, der den vormaligen Marquis von Lantenac in die Acht erklärte, zweitens die Verordnung des Konvents, welcher über Jeden die Todesstrafe verhängte, welcher einem gefangenen Rebellen zur Flucht verhelfen würde, und schloß mit den der Verordnung beigefügten wenigen Zeilen, durch welche, gleichfalls bei Todesstrafe, strengstens verboten wurde, dem obengenannten Rebellen Beistand und Vorschub zu leisten, und welche die Unterschrift trugen: »Der Kommandant der Streifkolonne, Gauvain.«

Nachdem dies geschehen, setzte sich der Auditor wieder. Cimourdain schlug die Arme über einander und sagte: Angeklagter, merken Sie wohl auf, und Ihr Anwesenden hört, schaut und schweigt. Jetzt waltet das Gesetz. Ich lasse abstimmen. Die einfache Majorität soll entscheiden. Der Reihe nach und in Gegenwart des Angeklagten, denn die Gerechtigkeit hat nichts zu verheimlichen, werden die Richter ihr Urtheil fällen. Ich ertheile dem ersten Richter das Wort; Hauptmann Guéchamp, reden Sie.

Der Hauptmann Guéchamp schien weder Cimourdain noch Gauvain zu sehen; seine gesenkten Wimpern versteckten seine unbeweglichen Augen, die zu dem Plakat des Konvents hinüberstarrten, als starrten sie in einen Abgrund: Der Wortlaut des Gesetzes, sagte er, ist klar. Ein Richter aber ist mehr und weniger als ein Mensch, weniger, denn er darf kein Herz haben, und mehr, denn er führt das Schwert. Im Jahr 414 der römischen Zeitrechnung ließ Manlius seinen eigenen Sohn das Verbrechen, ohne seinen Befehl gesiegt zu haben, mit dem Leben büßen. Die verletzte Disziplin erheischte diese Sühne. Im vorliegenden Fall nun ist das Gesetz verletzt worden und das Gesetz steht noch über der Disziplin. Das Vaterland schwebt in Folge einer Anwandlung von Mitleid wieder in Gefahr. Auch das Mitleid kann zum Verbrechen anwachsen. Der Kommandant Gauvain hat dem Rebellen Lantenac zur Flucht verholfen. Gauvain ist schuldig. Ich stimme für Todesstrafe.

– Schriftführer, sagte Cimourdain, nehmen Sie zu Protokoll: »Hauptmann Guéchamp Todesstrafe.«

Während der Korporal schrieb, erhob Gauvain die Stimme und sprach: Sie haben ein gerechtes Urtheil gefällt, Guéchamp, und ich danke Ihnen dafür.

– Jetzt hat der zweite Richter das Wort, begann wieder Cimourdain. Reden Sie, Sergeant Radoub.

Radoub stand auf und wendete sich gegen Gauvain.

Radoub stand auf, wendete sich gegen Gauvain und machte vor dem Angeklagten die Honneurs; dann rief er: Ja, wenn das so ist, so köpft mich mit, denn hier lege ich bei allen Himmeldonnerwettern mein heiligstes Ehrenwort darauf ab, ich möchte gehandelt haben erstens wie der Alte und zweitens wie mein Kommandant. Als ich sah, wie sich der achtzigjährige Patron ins Feuer warf, um die drei Thierchen zu retten, da habe ich gesagt: Weißkopf, Du bist ein braver Kerl! Und wenn ich jetzt erfahre, daß durch meinen Kommandanten der Alte Eurer dummen Guillotine aus dem Rachen gerissen worden ist, Gott verdamm mich, da muß ich sagen: Kommandant, Sie sollten mein General sein, denn Sie sind ein ganzer Mann, und hol mich der Teufel! Ihnen würde ich das Ludwigskreuz anhängen, wenn es noch Kreuze und heilige Ludwige und dergleichen gäbe. Ja Wetter! Soll etwa von nun an der höhere Blödsinn Trumpf sein? Wenn dafür die Schlacht von Valmy und die Schlacht von Jemappes und die Schlacht von Fleurus und die Schlacht von Wattignies gewonnen worden sind, so muß man's nur gleich heraussagen. Wie! da ist der Kommandant Gauvain, der seit vier Monaten all die royalistischen Kaffern nach Noten zu Paaren treibt und der die Republik mit seinem Säbel aus dem Gedränge heraushaut und der das Dol ins Werk gesetzt hat, wozu doch wahrhaftig eine gewisse Pfiffigkeit gehörte, und wenn man einmal einen solchen Mann hat, so giebt man sich alle Mühe, ihn wieder loszuwerden, und will ihm, anstatt ihn zum General avanciren zu lassen, gar noch die Gurgel abschneiden? Da möchte man doch gleich kopfüber über das Geländer vom Pont-Neuf springen; Ihnen aber, Bürger Gauvain, meinem Kommandanten, sage ich, daß, wenn Sie, anstatt mein General zu sein, mein Korporal wären, ich Ihnen sagen würde, daß Sie vorhin strohdummes Zeug gesagt haben. Der Alte hat wohl daran gethan, die Kinder zu retten; Sie haben wohl daran gethan, den Alten zu retten; und wenn man die Leute für jede gute That guillotinirt, dann soll das Donnerwetter dreinfahren; dann weiß ich nicht mehr, was die Uhr geschlagen hat, dann sehe ich nicht ein, wo man aufhören soll. Ja, ist das Alles denn auch wirklich wahr? Man muß sich wirklich zwicken, um zu sehen, daß man nicht träumt. Mir steht der Verstand still. Hätte vielleicht der Alte die kleinen Dinger bei lebendigem Leibe verbrennen und mein Kommandant dem Alten den Hals entzweischneiden lassen sollen? Nun gut, schneidet den Hals auch mir entzwei; mir kann es schon recht sein. Noch Eins: nehmen wir an, die Kleinen wären umgekommen, so war das Bataillon Bonnet-Rouge entehrt. Wäre das etwa in der Ordnung gewesen? Nun dann fressen wir einander nur gleich auf dem Kraut! In der Politik weiß ich ebenso gut Bescheid wie Sie Alle und habe oft genug im Klub vom Bezirk Les Piques gesessen. Hol es der Teufel! Wir gehen nachgerade den Krebsgang. Kurzum, mir ist Alles zuwider, was den Nachtheil hat, zu bewirken, daß man sich schließlich garnicht mehr zurechtfinden kann. Warum, zum Henker, lassen wir uns denn umbringen? Damit man uns unseren Kommandanten umbringt? Nichts da, Frau Tante. Meinen Kommandanten will ich zurückhaben; ich muß ihn haben meinen Kommandanten; heute gefällt er mir noch immer besser als gestern. Den auf die Guillotine schicken – lächerbar! Von dem Allem wollen wir ein für allemal nichts wissen; ich habe herumgehorcht, und was auch gesagt werden mag, Punktum, aus der Geschichte wird nichts.

Und Radoub setzte sich. Seine Wunde hatte sich wieder geöffnet und von der Stelle, wo ihm das Ohr abgeschossen worden, rann ihm das Blut tropfenweise durch die Binde am Hals herab.

– Sie stimmen also für Freisprechung des Angeklagten? fragte ihn Cimourdain.

– Ich stimme dafür, daß er zum General ernannt werde, antwortete Radoub.

– Ich will wissen, ob Sie für seine Freisprechung stimmen?

– Ich stimme für seine Ernennung zum obersten Posten der Republik.

– Sergeant Radoub, stimmen Sie, Ja oder Nein, für Freisprechung des Kommandanten Gauvain?

– Ich stimme dafür, daß man mir an seiner Stelle den Kopf abschneide.

– Freisprechung, sagte Cimourdain. Schriftführer, nehmen Sie zu Protokoll: »Sergeant Radoub Freisprechung.«

Nachdem der Korporal geschrieben, bemerkte er: Die Stimmen sind also getheilt.

Nun kam die Reihe an Cimourdain. Er stand auf, nahm seinen Hut ab und legte ihn auf den Tisch. Er war weder bleich noch fahl mehr; sein Gesicht war erdfarbig geworden. Wenn alle Anwesenden in Leichentüchern da gelegen hätten, es hätte keine tiefere Stille geherrscht als jetzt. Mit feierlicher, gedehnter und fester Stimme sagte Cimourdain: Angeklagter, die Verhandlung ist geschlossen. Im Namen der Republik und mit zwei Stimmen gegen eine . . .

Er stockte und hielt inne; zauderte er, sich für den Tod, oder zauderte er, sich für das Leben zu erklären? Alles stand athemlos. Jetzt fuhr er fort: Verurtheilt Sie das Kriegsgericht zum Tod.

Auf Cimourdain's Gesicht malte sich die Marterqual des düsteren Triumphes. Als Jakob sich durch den Engel, den er in der Finsterniß überwunden hatte, segnen ließ, zuckte wohl solch ein entsetzliches Lächeln über sein Antlitz. Nur dies eine flüchtige Aufblitzen und Cimourdain's Züge erstarrten wieder zu Marmor; er setzte sich, bedeckte sich und fügte hinzu:

– Gauvain, die Hinrichtung wird morgen bei Sonnenaufgang vollzogen.

Gauvain erhob sich, grüßte und entgegnete: Ich spreche dem Gerichtshof meinen Dank aus.

– Man führe den Verurtheilten zurück, befahl Cimourdain. Auf seinen Wink hin that sich die Kerkerthür wieder auf; Gauvain trat ein und die Thür ging zu. Die Gensdarmen blieben mit blankem Säbel rechts und links als Schildwachen davor stehen. Radoub wurde ohnmächtig fortgetragen.

IV.
Nach dem Richter Cimourdain Cimourdain der Gebieter

Ein Lager ist ein Wespennest, zumal in Revolutionszeiten. Gern und rasch tritt der dem Soldaten innewohnende Stachel des Bürgersinns hervor und trägt kein Bedenken, sich, nachdem der Feind verjagt worden, am eigenen Anführer zu vergreifen. Im Hin- und Hersummen der tapferen Schaar, die La Tourgue eingenommen hatte, machten sich verschiedene Strömungen geltend; die erste richtete sich gegen den Kommandanten Gauvain, als Lantenac's Flucht bekannt wurde. Der Augenblick, da man Gauvain aus dem Kerker treten sah, in dem man den Marquis festzuhalten glaubte, wirkte wie ein elektrischer Funke, denn im Nu hatte sich im ganzen Lager die Nachricht davon verbreitet und durch das kleine Heer zog ein brummend Geflüster: Jetzt gehen sie mit Gauvain wohl ins Gericht, aber sie machen uns nur blauen Dunst vor. Da traue Einer den Junkern und Pfaffen! Erst haben wir gesehen, wie ein Vikomte einem Marquis das Leben gerettet hat, und nun werden wir sehen, wie der Priester den Vikomte freispricht. Als man aber Gauvain's Verurtheilung erfuhr, erhob sich ein anderes Murren. Das ist doch etwas stark! Unser Chef, unser wackerer Chef, unser junger Kommandant, ein Held! Er ist Vikomte, allerdings; aber deshalb sind seine Verdienste um die Republik gerade um so höher anzuschlagen. Was? ihn, den Befreier von Pontorson, von Villedieu, von Pont-au-Beau, den Sieger von Dol und von La Tourgue, den Mann, dem wir unsere Unüberwindlichkeit verdanken, den rechten Arm der Republik in der Vendée, den Feldherrn, der seit fünf Monaten die Chouans in Schach hält und alle Böcke von Léchelle und Konsorten wieder gut macht, den wagt dieser Cimourdain zum Tode zu verurtheilen? Und warum? Weil er einen Greis rettete, der drei Kinder gerettet hat? Ein Soldat, der von Priesterhand fällt, ist das nicht unerhört?

In diesen und ähnlichen Worten machte sich der Mißmuth der siegreichen und unzufriedenen Truppe Luft. Cimourdain war von einem finstern Grollen umgeben. Viertausend Mann gegen einen einzigen, man sollte meinen, das sei ein wirksames Gegengewicht, aber nein: diese Viertausend waren blos eine Menschenmenge, und Cimourdain war ein Wille. Man wußte, daß sich Cimourdain's Stirn gar leicht in Falten zog, und das genügte, um das Armeekorps in Respekt zu halten. In jenen strengen Zeiten brauchte sich hinter Jemand nur der Schatten des Wohlfahrtsausschusses zu erheben, um ihn bedrohlich erscheinen zu lassen und die Verwünschungen zu einem Geflüster zu dämpfen und das Geflüster zum Schweigen zu bringen. Nach wie vor diesem Gemurmel blieb Cimourdain der unumschränkte Gebieter über Gauvain's wie über aller Anderen Schicksal. Man wußte, daß man von ihm nichts fordern durfte und daß er lediglich auf die übermenschliche, ihm allein verständliche Stimme seines Gewissens hören werde. Von ihm hing Alles ab. Er allein konnte das Urtheil, das er als Präsident des Kriegsgerichts gefällt hatte, als Zivilkommissär wieder umstoßen. Ihm allein stand das Recht der Begnadigung zu. Kraft seiner unbegrenzten Vollmacht bedurfte es nur eines Winks von ihm, und Gauvain war frei; Cimourdain war der Herr über Leben und Tod; ihm nur gehorchte die Guillotine, und in dieser tragischen Situation war er der Mann der Entscheidung.

Der Tag ging bereits zur Neige. Man konnte nur abwarten, was der nächste Morgen bringen würde.

V.
Im Kerker

Aus dem Gerichtssaal war wieder eine Wachtstube geworden, in welcher wie am Abend zuvor, ein doppelter Posten aufzog, und vor der Kerkerthür schritten zwei Schildwachen auf und nieder.

Gegen Mitternacht kam ein Mann mit einer Laterne in der Hand her, gab sich zu erkennen und ließ sich das Gefängniß aufschließen. Er trat hinein, und die Thür blieb hinter ihm zugelehnt.

Dunkel und still war's im Kerker. Cimourdain that einen Schritt vorwärts in diese Finsterniß, stellte die Laterne auf den Fußboden hin und blieb unbeweglich. Die gleichmäßigen Athemzüge eines Schlafenden drangen an sein Ohr durch die Schatten der Nacht und sinnend lauschte er dem friedlichen Hauch Gauvain's, der an der Rückwand des Kerkers auf dem Bündel Stroh in tiefem Schlummer lag. So geräuschlos wie möglich schlich er sich dicht an ihn heran und betrachtete ihn mit einem Blick so zärtlich und so unaussprechlich, wie ihn nur eine Mutter haben kann, wenn sie ihren Säugling anschaut. Dieser Blick war wohl stärker als er, denn er drückte sich, wie oft Kinder thun, beide Fäuste gegen die Augen und rührte sich nicht. Nachdem er eine Weile so gestanden, kniete er nieder, nahm Gauvain's Hand und führte sie zu seinen Lippen. Gauvain machte eine Bewegung, schlug staunend die Augen auf wie Jeder, der nicht von selber aufwacht, und erkannte beim trüben Schein der Laterne Cimourdain. – Sieh da, sagte er. Sie sind's, mein Lehrer. Mir träumte, fügte er hinzu, meine Hand küsse der Tod.

Cimourdain empfand jene Erschütterung, mit der uns zuweilen das plötzliche Hervorbrechen einer Gedankenfluth durchzuckt, und diese Fluth geht hier und da so stürmisch hoch, daß sie die Seele zu ertränken droht. Dem tiefsten Herzen Cimourdain's konnte sich nur ein einziger Laut entringen: Gauvain!

Und beide blickten einander in die Augen, Cimourdain mit jenen Flammen darin, welche die Thränen verbrennen, Gauvain mit seinem sanftesten Lächeln.

– Diese Narbe hier auf Ihrer Stirn, sagte Gauvain, indem er sich auf den Ellenbogen stützte, ist der Säbelhieb, den Sie für mich aufgefangen haben. Gestern noch standen Sie neben mir und mir zulieb im Kugelregen, und wenn die Vorsehung Sie nicht an meine Wiege gestellt hätte, wo wäre ich jetzt? Mitten in Finsternissen. Daß ich jetzt einen Begriff habe von der Pflicht, verdanke ich Ihnen allein, denn in Banden war ich geboren, in Banden des Vorurtheils, und Sie haben mich davon befreit, haben meinem Wachsthum Spielraum gegeben und haben aus etwas, das schon eingepfercht war wie eine Mumie, wieder ein Kind gemacht. In eine Seele, die sonst hätte verkrüppeln müssen, haben Sie ein Gewissen gepflanzt. Ohne Sie hätte ich mich zum Zwerg entwickelt. Durch Sie lebe ich. Ich war nur ein Vikomte und Sie haben mich zum Bürger herangezogen; ich war nur ein Bürger und herangezogen haben Sie mich zu einem Geist; durch Sie bin ich als Mann für die Existenz auf Erden und als Seele für die im Himmel reif geworden. Sie haben mir, um in das Menschliche einzudringen, den Schlüssel der Wahrheit, und um einzudringen ins Übermenschliche, den Schlüssel des Lichts gegeben. O mein Lehrer, wie dank ich Ihnen, daß Sie mein Schöpfer gewesen!

Cimourdain setzte sich neben ihn auf das Strohlager und sagte: Laß uns zu Nacht essen mit einander.

Gauvain brach sein schwarzes Brod und reichte es Cimourdain, der die eine Hälfte davon nahm; dann hielt er ihm den Wasserkrug hin.

– Trink Du zuerst, sagte Cimourdain.

Gauvain gehorchte und gab dann den Krug an Cimourdain. Er hatte blos einen Schluck gethan; Cimourdain hingegen trank in langen Zügen. Ueberhaupt war bei diesem Liebesmahl Gauvain der Hungrige und Cimourdain der Durstige, ein Beweis für die Ruhe des Einen und die fieberhafte Aufregung des Andern.

Nun verbreitete sich in diesem Kerker eine geheimnißvolle Verklärtheit. Die beiden Männer unterhielten sich mit einander:

– Die großen Dinge sind im Werden, sagte Gauvain. Die jetzige Thätigkeit der Revolution ist eine räthselhafte, und hinter dem sichtbaren Werk geht das unsichtbare seinen Gang; das eine verdeckt das andere. Das sichtbare Werk ist grausam, das unsichtbare erhaben. Das Alles leuchtet mir ein in diesem Augenblick. Ein seltsames, herrliches Schauspiel. Freilich hat man sich mit dem vorgefundenen Material behelfen müssen; daher dieses außergewöhnliche 93. Unter einem Gerüst von Barbarei wird der Humanität ein Tempel aufgebaut.

– Jawohl, erwiderte Cimourdain. Aus diesem Uebergangszustand wird sich der endgiltige entwickeln, das heißt ein Parallelismus von Recht und Pflicht, verhältnißmäßig gesteigerte Besteuerung, obligatorischer Kriegsdienst, eine Ausgleichung ohne Ausnahmen, und über Allen und Allem die gerade Linie des Gesetzes, die logische Republik.

– Die ideale Republik, entgegnete Gauvain, wäre mir die liebste. Und nach einer Pause fuhr er fort: O mein Lehrer, wo findet in Allem, was Sie da erwähnt haben, die Hingebung, die Aufopferung, die Selbstverleugnung, die großmüthige Verkettung der wohlwollenden Gefühle, mit einem Wort die Nächstenliebe ihren Platz? Ein allgemeines Gleichgewicht ist viel werth, noch mehr aber die allgemeine Harmonie. Ueber der Wage steht doch noch das Saitenspiel. Durch Ihre Republik wird der Mensch gemessen, eingetheilt, geregelt; meine trägt ihn zum blauen Himmel empor; beide unterscheiden sich gerade so von einander wie ein mathematischer Lehrsatz und ein Adler. – Du verlierst Dich in den Wolken. – Und Sie verlieren sich in der Berechnung. – Diese Harmonie versteigt sich ins Reich der Träume. – Das thut die Algebra auch. – Durch einen Euklid möchte ich den Menschen konstruirt wissen. – Und ich, meinte Gauvain, durch einen Homer.

Cimourdains strenges Lächeln schien Gauvain Halt gebieten zu wollen:

– Dichterphantasien! Durch die Poeten laß Dich nicht bestechen.

– O ich kenne das. Laß Dich durch keinen Lufthauch bestechen, nicht bestechen durch Alles, was strahlt, durch Alles, was duftet, durch die Blumen, durch die Sternbilder. – Von dergleichen läßt sich auch nicht leben. – Wissen Sie das so genau? Auch die Ideen sind in ihrer Art eine Speise; eine Hälfte unseres Wesens nährt sich von Gedanken. – Nur keine Utopien. Die Republik ist ein Einmaleins, und wenn ich Jedem gegeben, was ihm unbedingt zukommt . . . – Sind Sie Jedem noch das schuldig, was ihm nicht unbedingt zukommt. – Was meinst Du damit? – Damit meine ich die unendliche Reihe von gegenseitigen Konzessionen, zu welchen Alle gegen jeden Einzelnen verpflichtet sind und auf denen das ganze soziale Leben beruht. – Außerhalb des strengbegrenzten Rechts giebt es nichts mehr. – Oder Alles. – Ich sehe nur Eins vor mir, die Gerechtigkeit. – Und ich sehe höher. – Was stände wohl noch über der Gerechtigkeit? – Die Billigkeit.

Zuweilen hielten Beide inne, als folgte ihr Blick einem vorüberschwebenden Leuchten. – Drücke Dich bestimmt aus, hob Cimourdain wieder an; ich wette, Du vermagst es nicht. – Wohlan. Sie erstreben den obligatorischen Kriegsdienst. Gegen wen? Gegen Mitmenschen. Ich strebe ihn nicht an, weil ich den Frieden anstrebe. Sie wollen den Elenden geholfen, ich aber will das Elend abgeschafft wissen. Sie verlangen die fortschreitende Besteuerung; ich bin jeder Besteuerung abgeneigt und möchte die allgemeinen Ausgaben auf ein Minimum zurückführen, das durch den sozialen Ueberschuß gedeckt würde. – Was willst Du damit wieder sagen?

– Weiter nichts, als schafft vor Allem das Berufsparasitenthum ab, den Priester, den Richter, den Soldaten. Beutet ferner Eure Reichthümer aus; leitet den Dünger statt in die Kloake auf die Felder; drei Viertel des Bodens liegen brach; macht Frankreich einmal urbar; bebaut die nutzlosen Triften; vertheilt die Gemeindegründe; gebt jedem Menschen einen Acker und jedem Acker einen Menschen. Im Augenblick, wo wir sprechen, gewinnt der französische Bauer der Erde nur die Möglichkeit ab, sich vier Mal des Jahres mit Fleisch zu nähren, und dieselbe Erde könnte, bei einer praktischeren Verwendung, dreihundert Millionen Menschen, ja ganz Europa erhalten. Zieht doch Nutzen aus der urkräftigen, unbeachteten Bundesgenossin, aus der Natur. Macht Euch jeden Windhauch dienstbar, jeden Wasserfall, jede magnetische Strömung. Unser Planet ist von einem Netz von unterirdischen Adern durchwoben, und in diesen Adern fließt Wasser, Oel und Feuer die Menge; diese Adern schneidet auf und verwerthet das Wasser für Eure Brunnen, das Oel für Eure Lampen, das Feuer für Euren Herd. Vertieft Euch in die Schwankungen der Wellen, in die Ebbe und die Fluth, in dieses gewaltige Hin- und Herwogen. Was ist der Ozean Anderes als eine ungeheure verlorene Kraft? Wie thöricht ist es doch von der Erde, daß sie das Meer nicht für sich arbeiten läßt! – Da segelst Du schon mitten im Traum. – Das heißt mitten in der Wirklichkeit.

– Und das Weib, fuhr Gauvain fort, was macht Ihr aus dem? – Was es ist, antwortete Cimourdain, die dienende Gefährtin des Mannes.

– Einverstanden, aber unter einer Bedingung. – Welche? – Daß der Mann seinerseits der dienende Gefährte sei des Weibes.

– Bist Du bei Sinnen? rief Cimourdain; der Mann und dienen? Nimmermehr. Der Mann ist der Herr; ich erkenne nur eine Oberherrschaft an, die am häuslichen Herd; dort ist der Mann ein König. – Einverstanden, aber unter einer Bedingung. – Und die wäre? – Daß die Frau dort eine Königin sei. – Du begehrst also für den Mann und für das Weib . . . – Gleichberechtigung. – Gleichberechtigung? Weißt Du denn auch, was Du sprichst? Zwei grundverschiedene Wesen! – Darum habe ich Gleichberechtigung gesagt, nicht absolute Gleichheit.

Wieder entstand eine Pause, etwas wie eine Waffenruhe für diese zwei aufeinanderblitzenden Geister; dann brach Cimourdain das Schweigen: Und das Kind, wem gehört das? – Zuerst dem Vater, der es zeugt, dann der Mutter, die es zur Welt bringt, dann dem Lehrer, der es unterrichtet, dann der Heimath, die es zum Mann erzieht, dann der Mutter im höheren Sinn, dem Vaterland, und endlich der Mutter im allerhöchsten Sinn, der Menschheit. – Und Gott übergehst Du? – Jede dieser Bildungsstufen, Vater, Mutter, Lehrer, Heimath, Vaterland, Menschheit ist ja eine Sprosse der Himmelsleiter, die zu ihm emporsteigt.

Cimourdain verstummte und Gauvain setzte hinzu: Wer die letzte Sprosse erreicht hat, ist bei der Gottheit angelangt, die sich dann vor ihm aufthut und ihn in sich aufnimmt.

Cimourdain machte die Geberde, mit der man einen Andern aus der Ferne zu sich nimmt: Kehre auf die Erde zurück, Gauvain. Das Mögliche wollen wir verwirklichen. – Drum sorgt vor Allem dafür, daß es unten Euren Händen nicht zum Unmöglichen werde. – Verwirklichen läßt sich das Mögliche immer. – Immer nicht. Wenn man mit der Hoffnung zu derb umgeht, so tödtet man sie. Nichts ist wehrloser als das werdende Ei. – Aber man muß die Hoffnung immerhin anfassen und sie durch das kaudinische Joch der Wirklichkeit treiben und dem Rahmen der Thatsachen anbequemen. Der abstrakte Begriff muß zu Fleisch und Blut werden; was er an Schönheit und Größe einbüßt, gewinnt er dafür an Nützlichkeit und an Gehalt. Das Recht muß sich in das Gesetz hineinzwängen, und ist dies einmal geschehen, dann wohnen auch dem Gesetz die ewigen Eigenschaften des Rechts inne, und dann ist das erreicht, was ich das Mögliche nenne. – Das Mögliche reicht auch weiter. – So, nun ergehst Du Dich schon wieder in Träumen. – Das Möglichste ist ein geheimnißvoller Adler, der stets über den Menschen kreist. – Diesen Adler muß man einfangen. – Aber lebendig. Ich denke so, fuhr Gauvain fort: Nur immer voran. Wenn Gott gewollt hätte, daß der Mensch zurückschreite, hätte er ihm die Augen nicht vorn in den Kopf gesetzt. Richten wir nur immer den Blick dem Morgenroth, dem Aufblühen, dem Werden zu. Jedes Abfallen bedingt ein Hervorkeimen, und das Aechzen des absterbenden Baumes ruft dem Samenkorn entgegen: Sprieß auf! Jedes Jahrhundert wird sein Werk vollbringen, heute noch das staatliche, morgen das allgemein menschliche. Heute handelt es sich um das Recht; morgen wird sich's um den Lohn handeln. Lohn und Recht sind im Grunde genommen eins. Der Mensch lebt nicht, um leer auszugehen, denn indem Gott Leben schafft, übernimmt er eine Verpflichtung; das Recht ist der angeborene Lohn und der Lohn das zur Geltung gekommene Recht.

Gauvain sprach mit der Innigkeit eines Propheten und Cimourdain lauschte; die Rollen waren vertauscht; jetzt schien der Schüler der Lehrer zu sein.

– Deine Gedanken fliegen rasch, murmelte Cimourdain. – Weil ich wohl etwas eilen muß, sagte Gauvain mit einem Lächeln. – Mein theurer Lehrer, begann er wieder, der Unterschied zwischen unseren beiden Träumen liegt darin, daß Ihnen die obligatorische Kaserne, mir die Schule vorschwebt; Ihr Ziel ist der Soldat und meines ist der Bürger; Sie streben den furchteinflößenden Menschen an, ich den sinnenden; Sie gründen die Republik des Schwertes; ich gründe . . . . Das heißt, unterbrach er sich, gründen würde ich eine Republik der Geister.

Cimourdain senkte den Blick auf die Steinplatten des Kerkers und sagte: Und bis dahin, was willst Du haben? – Was schon ist. – Du klagst also die Gegenwart nicht an? – Nein. – Weshalb nicht? – Weil sie ein Sturm ist und ein Sturm immer weiß, was er thut; für einen Eichbaum, den er entwurzelt, braust er vielen Wäldern ein frischeres Leben zu. Die menschliche Kultur litt an einer Pest und dieser Orkan befreit sie davon. Vielleicht ist er nicht wählerisch genug, aber wie wäre das auch möglich bei einer solchen Reinigungsaufgabe? Von so verderblichen Dünsten ist die Luft geschwängert, daß ich die Wuth der Windsbraut wohl begreife. Uebrigens, fuhr Gauvain fort, was kümmert mich der Sturm, wenn ich einen Kompaß, was kümmern mich die Ereignisse, wenn ich mein Gewissen habe! Und mit jener gedämpften Stimme, die oft die feierlichste ist, setzte er hinzu: Es lebt Jemand, den man unter allen Umständen walten lassen soll. – Wer? fragte Cimourdain. Gauvain deutete nach oben, und Cimourdain, dessen Blick die Richtung des erhobenen Fingers verfolgte, glaubte durch das Gewölbe des Kerkers hindurch den Sternenhimmel leuchten zu sehen.

Abermals schwiegen Beide.

– Was Du herbeisehnst, begann dann Cimourdain, ist größer, als es die Natur zuläßt. Ich wiederhole es: Du greifst über das Mögliche hinaus; das sind Utopien. – Nein, das ist der Endzweck. Wenn nicht, wozu das gesellschaftliche Zusammenleben? Warum dann nicht ganz bei der Natur bleiben, im Zustand der Wildheit? Otahiti ist ein Paradies, aber ein Paradies, in dem nicht gedacht wird, und solch einem stumpfsinnigen Paradies würde ich eine geistig thätige Hölle noch vorziehen. Doch nein, fern sei uns auch solch eine Hölle! Lassen Sie uns eine menschliche Gesellschaft werden, die über die Schranken der Natur hinauswächst! Wenn zum Naturzustand nichts Weiteres hinzukommen sollte, weshalb aus ihm heraustreten? Dann begnügt Euch mit der Arbeit wie die Ameise und mit dem Honig wie die Biene und entscheidet Euch für die fleißige Thierheit statt für die gebietende Intelligenz. Sobald Ihr der Natur etwas beifügt, werdet Ihr nothwendigerweise größer als sie, denn beifügen heißt mehren und mehren heißt vergrößern. Die Gesellschaft ist die sublimirte Natur und ich beanspruche für sie Alles, was dem Bienenkorb, Alles, was dem Ameisenhaufen fehlt, die Prachtbauten, die Künste, die Poesie, die Helden der That und die Helden des Gedankens. Der Mensch kann unmöglich dazu verurtheilt sein, ewig Lasten zu tragen. Nein, nein, fort mit den Parias, mit den Sklaven, mit den Galeerenruderern, mit den Verdammten! Jedes Attribut des Menschen sei ein Sinnbild der höhern Kultur und ein Gefäß des Fortschritts! Freiheit für die Geister, Gleichheit für die Herzen, Verbrüderung für die Seelen! Kein Joch mehr, nein! Um Schwingen auszubreiten und nicht um Ketten zu schleppen sind wir geschaffen. Darum nicht weiter gekrochen am Boden! Ich verlange, daß sich die Larve zum Schmetterling verkläre, daß sich der Wurm in eine lebendige, davonfliegende Blume verwandle, verlange . . . .

Er hielt inne. Sein Auge glühte; seine Lippen bewegten sich noch, aber er sprach nicht mehr.

Durch die nur angelehnte Thür drang das Geräusch der Außenwelt bis in den Kerker. Erst vernahm man gedämpfte Trompetenklänge, wahrscheinlich die Reveille, dann das Dröhnen von Gewehrkolben: draußen wurden die Schildwachen abgelöst; und endlich entstand, ziemlich nah beim Thurm, eine Bewegung, die man, soweit man sich in der Dunkelheit davon Rechenschaft zu geben vermochte, für ein Hin- und Herschieben von Brettern halten konnte, welches von regelmäßigen dumpfen Hammerschlägen begleitet war.

Cimourdain erblaßte und lauschte hin, aber Gauvain sah und hörte nicht. Immer tiefer war er in seine Träumerei versunken. Er schien nicht einmal mehr zu athmen, so war er in den Anblick dessen verloren, was aus der visionenerfüllten Wölbung seiner Stirn vor ihm aufstieg. Zuweilen durchzuckte ihn ein seliges Aufschauern und immer glänzender strahlte das Morgenleuchten seines Auges.

Nachdem die Beiden geraume Zeit stumm dagesessen, fragte Cimourdain: Woran denkst Du?

– An die Zukunft, sagte Gauvain und sank in seine Betrachtungen zurück. Er bemerkte nicht, daß Cimourdain sich vom Strohlager erhob, auf das dieser sich neben ihm niedergelassen hatte; Cimourdain aber bewegte sich rücklings, den Blick bis zu Ende auf den sinnenden Jüngling zärtlich geheftet, langsamen Schritts der Thür zu und entfernte sich so aus dem Kerker, der gleich darauf wieder geschlossen wurde.

VI.
Bei Sonnenaufgang

Es dauerte nicht mehr lange, so graute der Morgen und mit dem Morgengrauen tauchte über dem Wald von Fougères, auf dem Plateau vor La Tourgue, etwas Seltsames, Unbewegliches, Befremdendes auf, das die Vögel des Himmels hier noch nie gesehen hatten. Es war über Nacht aufgebaut oder besser aufgepflanzt worden und sein Profil hob sich vom Horizont in lauter harten, geraden Linien ab, die an die Form eines hebräischen Buchstabens oder einer Hieroglyphe aus dem alten egyptischen Räthselalphabet erinnerten. Der erste Begriff, den dieses Ding im Beschauer weckte, war der der Zwecklosigkeit. Man fragte sich, wozu es dort auf jener Fläche von glühendem Haidekraut stand. Dann aber überlief Einen ein Schauder. Man hatte ein auf vier Posten ruhendes Podium vor sich. An dem einen Ende dieses Podiums ragten zwei lange Pfähle hoch aufgerichtet in die Luft und an dem Querbalken, der sie oben mit einander verband, hing ein rechtwinkeliges Dreieck, das im blauen Morgenhimmel schwarz erschien. Am anderen Ende war eine Leiter angebracht. Am Podium zwischen den beiden Pfählen, also unter dem Dreieck, gewahrte man eine Art Riegelwand, aus zwei beweglichen Hälften bestehend, die zusammen, wenn die obere auf der unteren ruhte, ein rundes, dem Umfang eines menschlichen Halses so ziemlich entsprechendes Loch bildeten. Die obere Hälfte griff rechts und links in eine Fuge an die Pfähle ein und konnte so hinaufgezogen und heruntergelassen werden. Dermalen waren die beiden Hälften mit ihren halbkreisförmigen Einschnitten von einander getrennt. Am Fuß der zwei Pfähle mit dem Dreieck bemerkte man ferner ein Brett mit Scharnieren, das sich schaukelförmig heben und senken ließ. Neben diesem Brett stand ein langer und zwischen den beiden Pfählen, gegen den Rand des Podiums zu, ein viereckiger Korb. Das Ganze war, mit Ausnahme des eisernen Dreiecks, von Holz und roth angestrichen. Man sah ihm an, daß es von Menschenhand gezimmert worden, so häßlich, kleinlich und armselig war es, und dennoch schaute es so entsetzlich drein, daß es verdient hätte, durch Rachegenien hergetragen worden zu sein. Dies ungestaltete Balkenwerk war die Guillotine. Ihr hart gegenüber ragte aus der Schlucht ein anderes Ungeheuer, La Tourgue; das steinerne Ungeheuer bildete die Folie zum hölzernen. Es läßt sich fast behaupten, daß Holz und Stein, wenn vom Menschen einmal gestaltet, aufhören, Holz und Stein zu sein und etwas vom Wesen ihrer Bearbeiter annehmen. Ein Gebäude ist zugleich auch ein Grundsatz und eine Maschine eine Idee. La Tourgue war jenes verhängnißvolle Ergebniß der Vergangenheit, welches in Paris die Bastille hieß, in England der Londoner Tower, in Deutschland der Spielberg, in Spanien das Eskurial, zu Moskau der Kreml und das Kastell Sant'-Angelo zu Rom. In La Tourgue hatten sich fünfzehnhundert Jahre zusammengedrängt, das ganze feudale Mittelalter mit seinem Lehenswesen und seiner Leibeigenschaft; in der Guillotine verkörperte sich das eine Jahr 93, und diese zwölf Monate hielten jenen fünfzehn Jahrhunderten die Wage. La Tourgue war die Monarchie; die Guillotine war die Revolution. Welch tragisches Gegenüber! Auf der einen Seite die Schuld, auf der anderen die Verfallzeit, hier die unentwirrbare soziale Verwickelung, Hörige und Herren, Sklaven und Gebieter, Bürgerthum und Adel, eine Unmasse von Gesetzbüchern, jedes abgezweigt in eine andere Unmasse Gewohnheitsrechte, das Bündniß des Richters und des Priesters, die zahllosen Unterbindungen aller Lebensadern, der Fiskus, die Salz- und Kopfsteuer, die todte Hand, die Ausnahmestellungen, die Privilegien, der königliche Vorbehalt des Bankrotts, das Szepter, der Thron, die Willkür, das Gottesgnadenthum; dort ein einfaches Fallbeil. Dem Knoten gegenüber das Schwert. Wie lange hatte La Tourgue in dieser Einsamkeit gebieterisch gewaltet! Da stand es noch mit seinen Mauervorsprüngen, aus denen einst siedendes Oel und brennendes Pech und geschmolzenes Blei hinabströmte, mit seinem Verließ voll Gebeinen, mit seiner Folterkammer, mit der ungeheuren Tragik seines Vorlebens, eine unselige Gestalt, die im Schatten dieses von ihr beherrschten Waldes fünfzehn Jahrhunderte wilder Ruhe genossen; für die ganze Umgegend war dieser Thurm die einzige Macht, die einzige Respektsperson, der einzige Schrecken gewesen; er hatte regiert, barbarisch und unumschränkt, und sah nun plötzlich etwas, nein mehr als etwas, Jemand vor sich und gegen sich aufstehen, der ebenso gräßlich war, die Guillotine. Dem Stein scheint zuweilen ein räthselhaftes Schauen innezuwohnen, als könne die Statue beobachten, der Thurm lauern, der Palast betrachten. So war es jetzt auch, als ob La Tourgue, die Guillotine mit den Augen verschlingend, an sich selber die Frage richte, was das sei. Jenes Etwas schien aus der Erde herausgewachsen zu sein, und so verhielt es sich auch in der That; aus dieser verhängnißvollen Erde war ein verhängnißvoller Baum aufgeschossen; aus diesem Boden, den so viel Schweiß, so viele Thränen, so viel Blut gedüngt hatte, aus diesem Boden, in den so viele Gruben und Gräber, Höhlen und Fallen gegraben worden, aus diesem Boden, in dem alle Opfergattungen jeder Gattung von Tyrannei moderten, aus diesem Boden, der auf so vielen Abgründen lag und in den so manche Unthaten wie ebensoviel fruchtbare Samenkörner versenkt waren, aus diesem tiefdurchfurchten Boden war zur gegebenen Stunde jene unbekannte Rächerin, jene blutdürstige schwertführende Maschine emporgestiegen, und 93 hatte zu der alten Welt gesagt: Da bin ich. Mit vollem Recht konnte die Guillotine dem Thurm zurufen: Ich bin Deine Tochter. Und der Thurm seinerseits fühlte – denn dergleichen lebt ein dunkles Räthselleben –, daß ihm diese seine Tochter das Leben nahm. Wie verstört blickte er zu der drohenden Erscheinung hinüber, man hätte fast meinen können, er fürchte sich davor. Seine ungeheuerliche Granitmasse war in ihrer majestätischen Verruchtheit durch jene zwei Balken mit dem Dreieck überboten und mit Abscheu bebte die gestürzte vor der neueingesetzten Allmacht zurück. Die Kriminalgeschichte und die Geschichte der Feudaljustiz starrten einander an. Die Gewaltthätigkeit von ehemals verglich sich mit der jetzigen und die alte Festung, das alte Gefängniß, die alte Herrenburg, die einst vom Geheul entzweigerissener armer Sünder widerhallte, der kampfunfähig und nutzlos gewordene, geschändete, entwaffnete, seiner Krone beraubte Krieg- und Mordbau, dieser Steinhaufen, der nun gerade so viel werth war wie ein Häuflein Asche, dieser abscheuliche, imponirende Leichnam, in dem noch die Seelenschwingungen greuelvoller Jahrhunderte nachzitterten, sah jetzt mit Grauen die gegenwärtige Stunde an sich vorüberziehen. Dem Gestern schauderte vor dem Heute; die alte Grausamkeit erkannte und erduldete das Entsetzen der Neuzeit; das schon ins Nichts Hinschwindende riß vor dem Werkzeug der Schreckenstage seine Geisteraugen auf und das Phantom betrachtete das Gespenst.

Die Natur ist unbarmherzig; sie übt die Gnade nicht, vor den menschlichen Freveln mit ihren Blumen, ihrem Wohllaut, ihren Strahlen und Düften zurückzuhalten, und erdrückt den Menschen lieber unter dem Kontrast ihrer göttlichen Pracht und seiner sozialen Häßlichkeit; sie erläßt ihm auch nicht einen Schmetterlingsflügel, auch nicht einen Vogeltriller; mitten im Mord, mitten in der Rache, mitten in der Barbarei, muß er den Anblick der heiligen Dinge ertragen und darf sich nicht dem unendlichen Vorwurf der allgemeinen Milde und dem unerbittlich heitern Blau des Himmels entziehen.

Mitten im blendenden Glanz der Ewigkeit muß die Mißgestalt der menschlichen Satzungen sich in ihrer ganzen Nacktheit bloßstellen. Der Mensch zerbricht und zermalmt; der Mensch zerstört und tödtet, aber der Sommer bleibt der Sommer, die Lilie bleibt Lilie, das Gestirn Gestirn.

Nie war die frische Morgensonne lieblicher aufgegangen als an diesem Tag. Ein lauer Wind wiegte die Grashalmen hin und her; weich schmiegten sich Dunstflocken durch die Zweige und ganz durchweht vom Athemhauch der Quellen dampfte der Wald von Fougères wie ein großer duftender Altar. Das blaue Firmament, die weißen Wolken, das klare, durchsichtige Wasser, das Grün der Blätter, jene harmonische Farbentonleiter, die vom Aquamarin aufsteigt bis zum Smaragd, die brüderlichen Baumgruppen, die Rasenteppiche, die tiefgedehnten Landflächen, das Ganze war von jener Reinheit durchdrungen, mit der die Natur dem Menschen von Ewigkeit her ins Gewissen redet. Und unter dem Allem machte sich des Menschen verruchtes Treiben schamlos breit; aus dem Allem erhoben sich die Festung und das Schaffot, der Krieg und das Hochgericht, die Verkörperungen des blutgierigen Zeitalters und der blutigen Minute, die Nachteule der Vergangenheit und die Fledermaus der Zukunftsdämmerung. Der leuchtende Himmel aber, der im Angesicht der blühenden, duftenden, liebenden und liebenswerthen Schöpfung auch La Tourgue und die Guillotine in Morgenstrahlen badete, schien den Menschen zu sagen: Da seht, was ich thue und was Ihr thut. So kann ein gewaltiger Mahnruf oft hervorklingen aus dem Licht der Sonne.

Dieses Schauspiel hatte zahlreiche Zuschauer. Die viertausend Mann der kleinen Expeditionsarmee standen in Schlachtordnung auf dem Plateau, zu drei Seiten der Guillotine, um die sie, um uns bildlich auszudrücken, die Figur eines lateinischen großen E beschrieben, in dessen längerer Linie die Batterie die Mitte einnahm. Die rothe Maschine war zwischen den drei Fronten, diesen Mauern von Soldaten, die sich zu zwei Seiten bis zum Rande des Plateaus ausdehnten, wie eingesperrt; nur die vierte Seite, die der Schlucht und dem Thurm zugekehrte, war frei. Das Ganze bildete also ein längliches Viereck, in dessen Zentrum sich das Schaffot erhob. Je höher die Sonne stieg, desto mehr verkürzte sich der Schatten, den die Guillotine warf. Die Kanoniere standen mit glimmender Lunte bei ihren Geschützen. Aus der Schlucht qualmte ein sanfter bläulicher Rauch, das letzte Lebenszeichen der hinsterbenden Feuersbrunst. Dieser Rauch umschwamm, ohne ihn jedoch zu verschleiern, den Thurm von La Tourgue, dessen ragende Plattform den ganzen Horizont beherrschte. Plattform und Guillotine waren nur durch die Breite der Schlucht von einander getrennt, so daß man hüben und drüben mit einander sprechen konnte. Auf diese Plattform hatte man den Gerichtstisch und den Sessel mit den dreifarbigen Fahnen geschafft und am immer sonnigeren Hintergrund hob sich die Steinmasse der Festung und oben drüber auf dem Präsidentenstuhl und unter den Trikoloren die Gestalt eines mit verschränkten Armen dasitzenden Mannes schwarz ab, Cimourdain's Gestalt. Er war wie am Abend zuvor als Zivilkommissar gekleidet und trug den Hut mit dreifarbigem Federbusch, an der Seite einen Säbel und im Gürtel seine Pistolen. Er schwieg. Es schwieg Alles. Mit gesenktem Blick standen die Soldaten Gewehr bei Fuß, so dicht neben einander, daß sie einander mit den Ellenbogen berührten, aber dennoch flüsterte keiner mit seinem Nebenmann. In dumpfem Hinbrüten ließen sie diesen ganzen Krieg vor ihrem Geist vorüberziehen mit all seinen Kämpfen, mit den kugelsprühenden Hecken, die sie so muthig angriffen, mit den Schwärmen von anstürmenden Bauern, die ihre Tapferkeit zurückgeworfen, mit den eroberten Festungen, den gewonnenen Schlachten, den Triumphen allen, und jetzt ward ihnen, als verkehre sich in Schande ihr ganzer Ruhm. Eine düstere Erwartung schnürte jede Brust zusammen. Auf der Plattform der Guillotine sah man im wachsenden Morgenglanz, der sich majestätisch über den Himmel ausbreitete, den Henker auf- und niederschreiten.

Plötzlich vernahm man den gedämpften Schall von umflorten Trommeln, ein schauerliches Wirbeln, das immer näher kam. Die Front that sich auf und ließ einen Zug durch, der sich nach dem Blutgerüst bewegte, voran die verschleierten Trommeln, dann eine Kompagnie Grenadiere mit umgekehrtem Gewehr, dann ein Peloton Gendarmen mit blankem Säbel, dann der Verurtheilte, Gauvain, der frei einherschritt, ohne Fesseln, in kleiner Uniform, den Degen an der Seite, und endlich ein anderes Peloton Gendarmen. Gauvain's Antlitz war noch von jener sinnigen Glückseligkeit umflossen, die ihn verklärt hatte, als er zu Cimourdain gesagt: »Ich denke an die Zukunft,« und es ließ sich nichts Erhabeneres denken als dieses fortleuchtende Lächeln. Sein erster Blick, als er die düstere Stätte erreichte, galt, die Guillotine verschmähend, der Plattform des Thurms, denn er wußte, daß Cimourdain es für seine Pflicht halten werde, der Hinrichtung beizuwohnen. Ihn suchte sein Auge und fand ihn auch dort oben.

Cimourdain ward erdfahl und eisstarr. Die neben ihm Stehenden konnten seinen Athemzug nicht vernehmen.

Als er Gauvain ankommen sah, war auch nicht das leiseste Zucken an ihm zu bemerken gewesen.

Unterdessen ging Gauvain auf die Guillotine zu, schaute aber, während er so dahinwandelte, immer noch zu Cimourdain hinüber, der auch ihn unverwandt anschaute. Es war, als stütze sich Cimourdain auf diesen Blick.

Nun war Gauvain am Fuße des Schaffots angelangt und bestieg es, gefolgt von dem Offizier, der die Grenadiere befehligte. Er schnallte den Degen los und überreichte ihn dem Offizier; dann nahm er die Halsbinde ab und reichte sie dem Henker. Nie war er so schön gewesen; er strahlte wie ein Traumbild. Seine braunen Locken flatterten im Wind; damals war es nicht Brauch, dem Verurtheilten das Haar abzuschneiden, sein Nacken war lieblich anzusehen wie der eines Weibes und sein Blick heldenmüthig und erhaben wie der eines Erzengels. So stand er traumhaft auf dem Blutgerüst. Auch diese Stätte ist ein Gipfel, und auf diesem Gipfel thronte Gauvain befriedet und von der Sonne wie mit einem Glorienschein umwoben.

Gnade! Gnade! rief es von allen Seiten.

Nun trat der Henker mit einem Strick in der Hand an ihn heran, um ihn zu binden, und jetzt, im Augenblick, wo sie ihren jungen Führer wirklich dem Beil verfallen sahen, hielten es die Soldaten nicht länger aus; den Kriegern sprengte diese Minute das Herz, und man hörte etwas Unerhörtes, das Aufschluchzen einer Armee. – Gnade! Gnade! rief es von allen Seiten. Einige fielen auf die Knie; Andere warfen ihre Gewehre weg und erhoben die Arme zur Plattform des Thurms nach Cimourdain. – Nimmt man denn für das Ding da keine Ersatzmänner an? schrie ein Grenadier, indem er auf die Guillotine deutete; hier bin ich! Und wie außer sich riefen Alle wieder: Gnade! Gnade! und selbst Löwen hätten bei diesem Anblick der Rührung und des Schreckens sich nicht erwehrt, denn es ist etwas Furchtbares um die Thränen eines Soldaten. Selbst der Henker hielt inne und stand rathlos. Da sprach vom Thurm herab eine abgebrochene, leise Stimme, deren Worte doch Jedermann vernahm:

– Dem Gesetz die Ehre!

Jetzt kannte man den Ausspruch der Unerbittlichkeit. Cimourdain hatte entschieden. Der Armee überlief ein Schauder. Der Henker zögerte nicht länger; er trat näher.

– Warten Sie, sagte Gauvain. Und gegen Cimourdain gewendet, winkte er ihm mit seiner freigebliebenen Rechten einen Scheidegruß zu; dann ließ er sich binden. – Pardon, noch eins, sagte er, als dies geschehen war, zum Henker, und rief mit lauter Stimme: Es lebe die Republik!

Dann wurde er auf das Schaukelbrett gelegt; der verruchte Ring schloß sich hinter seinem anmuthigen stolzen Haupt; sanft hob ihm der Henker das Haar vom Nacken und drückte an der Feder. Das eiserne Dreieck löste sich vom Querbalken und glitt erst langsam, dann blitzschnell herab; ein gräßlich Dröhnen und . . .

In demselben Augenblick dröhnte es ebenso gräßlich von drüben her. Dem Dröhnen des Fallbeils antwortete das Dröhnen eines Schusses. Cimourdain hatte eine der Pistolen aus seinem Gürtel gerissen und jagte sich, im Moment, da Gauvains Kopf in den Korb rollte, eine Kugel durch das Herz. Aus seinem Mund brach ein Blutstrom und er sank todt in den Sessel zurück.

So entschwebten sie denn miteinander, diese zwei Seelen, tragisch verschwistert und so innig in einander hinschmelzend, daß der Schatten der einen im Licht der anderen zerfloß.

Ende.


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