Victor Hugo
1793
Victor Hugo

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Drittes Buch.
Die Bartholomäusmetzelei

Die Kinder wachten auf.

I.
Die Bartholomäusmetzelei

Die Kinder wachten auf.

Zuerst die Kleine.

Das Erwachen eines Kindes ist das Aufgehen einer Blume; so ein frisches Seelchen atmet Duft.

Georgette, das Jüngste von den Dreien, das erst anderthalb Jahre alt, noch im Mai von der Mutter gestillt wurde, erhob das Köpfchen, setzte sich in der Wiege aufrecht, betrachtete seine kleinen Füße und fing zu plaudern an.

Beim Sonnenstrahl, der gerade auf die Wiege fiel, hätte es schwer gehalten, zu entscheiden, wer von beiden rosiger sei, Georgettes Füßchen oder der junge Morgen.

Die zwei anderen schliefen noch; freilich, kleine Mannsleute sind schwerfälliger; Georgette aber plauderte stillvergnügt vor sich hin.

René-Jean war braun, Gros-Alain etwas lichter und Georgette blond; bei Kindern hat oft jedes Alter seine Haarfarbe, die sich mit den Jahren ändert. Beide Fäuste gegen die Augenhöhlen gestemmt, lag René-Jean auf dem Bauch wie ein kleiner Herkules und Gros-Alain ließ im Schlaf seine Beinchen auf den Fußboden hinaushängen.

Alle Drei waren in Fetzen, denn die Kleider, die ihnen das Bataillon Bonnet-Rouge gegeben hatte, waren in die Brüche gegangen. Sie hatten kaum mehr Hemdchen an; die zwei Knaben waren halbnackt und Georgette steckte in einem zerlumpten Etwas, das einmal ein Röckchen gewesen und jetzt fast nur ein Leibchen war. Wer nahm sich dieser Kleinen an? Niemand. Eine Mutter war nicht da und die wilden Bauernsoldaten, die sie aus einem Wald in den andern mitschleppten, gaben ihnen von ihrer Suppe zu essen; im Uebrigen mochten die Kinder eben schauen, wie sie zurecht kamen. In Jedem hatten sie einen Herrn gefunden, in Keinem einen Vater. Aber Kindern stehen selbst die Fetzen hübsch und die Kleinen waren reizend.

Georgette plauderte immer darauf los. Kinderplaudern oder Vogelsang, es ist dasselbe undeutlich gestammelte, tiefsinnige Lied; nur hat das Kind außerdem noch das düstere Menschenloos vor sich, und darum schauert auch schon in der Freude des zwitschernden Kleinen ein wehmüthiges Ahnungslauschen auf. Die Erde hat keinen Hymnus, der erhabener wäre als so ein Lallen der menschlichen Seele von Kinderlippen. In einem verworrenen Hinsäuseln eines Gedankens, der sich noch nicht zum Bewußtsein verdichtet hat, liegt gewissermaßen ein unwillkürlicher Aufschrei zur ewigen Gerechtigkeit, vielleicht wohl ein Erbangen vor dem Uebertreten der Lebensschwelle, ein demüthig herzrührender Hilferuf. Diese Unschuld, die dem Unendlichen entgegenlächelt, macht die ganze Schöpfung verantwortlich für das spätere Schicksal, das sie dem schwachen, wehrlosen Wesen bereiten wird, ja, beschuldigt sie sozusagen eines Mißbrauchs des Vertrauens, wenn sie ihm eine unglückliche Zukunft in die Wiege legt.

Das Gelispel des Kindes steht unter und über dem Wort; es besteht nicht aus Silben und doch ist es ein Gesang; es besteht nicht aus Silben und doch ist es eine Sprache; dieses Lispeln stammt noch vom Himmel her und wird auch auf Erden nicht aufhören; vor der Geburt hat es begonnen und klingt jetzt weiter; es ist eine Fortsetzung. Dieses Stammeln enthält, was das Kind als Engel sagte und was es sagen wird als Mensch; die Wiege hat ihr Gestern, wie das Grab seinen Morgen, und dieses doppelt unergründliche Gestern und sein Morgen verschmilzt in dem räthselhaften Gezwitscher. Für Gott, für das Ewige, für unsere Verantwortlichkeit, für unser Doppelwesen, spricht nichts so laut wie jene schauervollen Schatten in einer rosigen kleinen Seele.

Was Georgette jetzt vor sich hinlallte, stimmte sie indessen nicht traurig, denn ihr ganzes niedliches Gesichtchen war ein Lächeln, ein Lächeln ihres Mundes, ein Lächeln ihrer Augen, ein Lächeln der Grübchen in ihren Wangen, und aus diesem Lächeln nickte es wie ein geheimnißvolles Inempfangnehmen des Lebensmorgens, wie ein vertrauensseliges Aufgehen der Seele im Strahlenden: unter dem blauen Himmel, in der lauen Luft, war es ja so schön. Ohne von etwas zu wissen, ohne etwas zu erkennen oder zu begreifen, wohlig gewiegt in gedankenlosem Hinträumen, fühlte sich das zerbrechliche Geschöpf geborgen in dieser Natur, zwischen den ehrlichen Bäumen, dem treuherzigen grünen Laub, in dieser klaren, friedlichen Gegend, mitten in dem bunten Treiben der Vögel, der Quellen, der Fliegen und windbewegten Blätter, über dem die strahlenmilde Unschuld der Sonne leuchtete.

Zunächst erwachte René-Jean, der Aeltere, der Große, der schon ins fünfte Jahr ging. Er setzte sich aufrecht, schwang sich mannhaft aus seiner Wiege, erblickte, was er für ganz selbstverständlich hielt, seine Schüssel und machte sich, am Boden kauernd, über die Suppe her.

Durch Georgette's Plaudereien war Gros-Alain nicht geweckt worden; aber beim Klappern des Löffels fuhr er aus dem Schlaf und riß beide Augen auf. Gros-Alain, »der dicke Alain«, war der Dreijährige. Auch er sah seine Suppe, streckte die Hand danach aus, nahm sie zu sich ins Bettchen und begann wie sein Bruder die Schüssel, die er mit der einen Faust auf seinem Schooß festhielt, tapfer zu bearbeiten.

Georgette hörte die Beiden nicht und schien sich durch das eigene Hin- und Herwogen ihrer Stimme in Traum zu lullen. Mit weitgeöffneten Augen schaute sie in die Höhe und sah himmlisch dabei aus; einerlei zu welcher Decke oder zu welchem Gewölbe ein Kind emporblickt, was sich in seinen Augen spiegelt, ist immer der Himmel.

Als René-Jean zu Ende war, scharrte er mit dem Löffel noch in der Schüssel herum, seufzte und äußerte dann würdevoll: Ich bin fertig mit meiner Suppe.

Das riß auch Georgette aus all ihren Träumen: Tuttuppe, sagte sie, und nachdem sie den mit Essen fertigen René-Jean und den noch essenden Gros-Alain betrachtet, langte sie nach ihrer Schüssel und machte sich ans Werk, allerdings mit weniger Virtuosität als die Knaben, denn sie führte viel öfter den Löffel zum Mund als diese; von Zeit zu Zeit gab sie sogar aller höheren Kultur den Laufpaß und aß mit den Fingern.

Nachdem Gros-Alain am Boden seiner Schüssel gescharrt hatte wie René-Jean, lief er auf seinen Bruder zu und sprang hinter ihm her.

II.

Plötzlich ertönte draußen, unten vom Wald her, eine strenge, gebieterische Fanfare, welcher oben vom Thurm herab das Horn antwortete.

Dies Mal begann die Trompete das Gespräch, und das Horn ging darauf ein. Nachdem das Signal von beiden Seiten wiederholt worden, erhob sich im Wald eine Stimme, die laut vernehmlich aus der Ferne herüberrief:

– Ihr Räuber, entscheidet! Vor Abend Uebergabe auf Gnade und Ungnade oder wir stürmen.

– Stürmt, dröhnte es vom Thurm zurück.

– Ein Kanonenschuß, fuhr die Stimme von unten fort, wird Euch zum letzten Mal ermahnen, eine halbe Stunde bevor wir stürmen.

– Stürmt, erwiderte die Stimme von oben.

Die Stimmen tönten nicht bis zu den Kindern herüber, wohl aber der Schall der Trompete und des Horns. Bei den ersten Trompetenklängen schaute Georgette von ihrer Schüssel auf und stellte das Essen ein; bei der Antwort des Horns ließ sie den Löffel in die Suppe fallen, folgte, das Zeigefingerchen ihrer rechten Hand abwechselnd erhebend und wieder senkend, dem Takt der Trompetenfanfare, die durch das einfallende Horn fortgesetzt ward, und als Horn und Trompete verstummten, blieb sie regungslos mit aufrechtem Finger sitzen und murmelte nachdenklich vor sich hin: Midik; so hieß nämlich in ihrer Sprache die Musik.

Georgette murmelte nachdenklich vor sich hin: Midik

Die Knaben hatten Horn und Trompete nicht beachtet; sie waren von einer Assel, die eben querüber durch die Bibliothek lief, viel zu sehr in Anspruch genommen. Gros-Alain erblickte sie zuerst und rief: Ein Thier!

René-Jean kam herbeigelaufen.

– Es sticht, sagte Gros-Alain.

– Thu' ihm nichts, meinte René-Jean.

Und beide vertieften sich in die Betrachtung dieses Ereignisses.

Georgette, die mittlerweile ihre Suppe aufgegessen hatte, suchte ihre Brüder mit den Augen. René-Jean und Gros-Alain kauerten in einer Fensternische, mit ernsthaften Gesichtern über die Assel gebeugt, Stirn gegen Stirn, so daß ihre Haare ineinanderflossen; in atemlosem Staunen beobachteten sie das Thierchen, das von all der Bewunderung wenig erbaut, stillstand und sich todt stellte.

Die Aufmerksamkeit der Brüder machte Georgette neugierig; obgleich es für sie nichts weniger als leicht war, zu ihnen zu gelangen, versuchte sie es dennoch; die Reise war mit unzähligen Hindernissen verknüpft, denn auf dem Fußboden lagen eine Masse von Sachen herum, hier ein umgeworfenes Tabouret, dort ein paar Bündel Papiere, dort wieder offene, ausgepackte Kisten, Truhen und andere imponirende Gegenstände, die umschifft werden mußten, kurz ein ganzes Inselmeer von Klippen. Georgette wagte sich hinein; erst arbeitete sie sich aus der Wiege heraus, dann steuerte sie auf die Riffe los, schlängelte sich durch die Kanäle, rückte ein Tabouret bei Seite, kroch zwischen zwei Truhen und über ein Aktenbündel weiter, bis sie, bald kletternd, bald kollernd, in harmloser Unbekümmertheit um ihre armen kleinen Blößen, die hohe See, das heißt eine ziemlich ausgedehnte Stelle des Fußbodens, erreichte, die der ganzen Breite des Saales nach freistand und wo keine Gefahr mehr drohte. Nun eilte sie auf allen Vieren, mit der Behendigkeit einer Katze, der Wand zu; dort stieß sie auf eine gewaltige Schwierigkeit, nämlich auf die gegen die Mauer gelehnte Leiter, deren Ende noch die halbe Fensternische versperrte und so zwischen Georgette und den Knaben eine Art Vorgebirge bildete. Sie hielt inne und besann sich; als sie mit ihrem stummen Selbstgespräch fertig war, schritt sie sofort zur Ausführung ihres Plans; entschlossen faßte sie mit ihren rosigen Händchen eine der Sprossen an, welche senkrecht und nicht wagerecht liefen, da ja die Leiter auf dem einen ihrer Seitenpfosten ruhte, und machte den Versuch, sich vom Boden aufzuraffen; er mißlang; zwei Mal wiederholte sie ihn vergeblich, ein drittes Mal endlich mit Erfolg, und jetzt marschirte sie gerade und aufrecht, sich immer an der nächstfolgenden Sprosse festhaltend längs der Leiter hin; als sie die letzte Sprosse losließ und der gewohnte Stützpunkt ihr fehlte, strauchelte sie, packte jedoch mit ihren beiden Händchen das Ende des gewaltigen Pfostens, schwang sich glücklich um das Vorgebirge hinüber und lachte René-Jean und Gros-Alain an.

III.

In demselben Augenblick hatte René-Jean den Kopf erhoben und mit großer Befriedigung als Ergebniß seiner Asselstudien verkündigt: Es ist ein Weibchen.

Beim Auflachen von Georgette mußte er gleichfalls lachen, und Gros-Alain lachte seinerseits wieder mit, weil er René-Jean lachen sah. Georgette bewerkstelligte nun den Anschluß an ihre Brüder, und so saßen sie jetzt in einem kleinen Konventikel beisammen. Die Assel aber war verschwunden; sie hatte Georgettes Dazwischenkunft benutzt und sich in die nächstgelegene Ritze verkrochen. Doch diesem Abenteuer folgten andere. Zuerst Schwalben, die wahrscheinlich unter dem Vorsprung des Daches nisteten. Sie kamen bis ganz nahe an das Fenster, flatterten dann, durch die Anwesenheit der Kinder etwas beunruhigt, in weiten Kreisen durch die Luft und ließen ihr sanftes Frühlingsgezwitscher ertönen. Diesem Treiben schauten die Kinder zu, und die Assel war vergessen. Georgette deutete mit dem Finger hinaus und rief: Walbe.

Aber René-Jean wies sie zurecht: – Kleine, man sagt nicht Walbe; man sagt Schwalbe.

– Wawalbe, buchstabirte Georgette.

Und alle Drei starrten durch das Fenster.

Dann flog eine Biene in das Fenster.

Eine Biene ist das Sinnbild der Seele. Sie eilt von Blume zu Blume, wie eine Seele von Stern zu Stern und wie die Seele Licht einsammelt, so sammelt die Biene ihren Honig.

Geräuschvoll summte sie herein; sie schien zu sagen: »Da bin ich; gerade komme ich von einem Besuch bei den Rosen; jetzt will ich auch die Kinder besuchen. Womit beschäftigt man sich hier?« So eine Biene ist eine Wirthschafterin, und das brummt, auch wenn es singt. So lange sie dablieb, verwendeten die drei Kleinen kein Auge von ihr. Sie besichtigte die ganze Bibliothek, durchstöberte jeden Winkel, flog einher, als befände sie sich hier zu Hause in einem Bienenkorb, schwebte mit melodischen Flügeln von einem Schrank zum anderen und schaute durch die Scheiben nach den Büchertiteln wie ein gebannter Geist. Nachdem sie Alles untersucht hatte, empfahl sie sich.

– Sie geht heim, sagte René-Jean.

– Es ist ein Thier, meinte Gros-Alain.

– Nein, entgegnete René-Jean, es ist eine Fliege.

– Liege, plapperte Georgette nach.

Gros-Alain, der soeben in einer Ecke eine Schnur mit einem Knoten an dem einem Ende entdeckt hatte, hielt sie nun am entgegengesetzten Ende zwischen Daumen und Zeigefinger fest und drehte sie mit gespanntester Aufmerksamkeit im Kreise herum. Georgette war wieder unter die Vierfüßler gegangen und hatte ihre Irrfahrten über den Fußboden abermals unternommen; auf der Irrfahrt war ihr ein ehrwürdiger, wurmstichiger, gepolsterter Armstuhl aufgefallen, an dem aus mehreren Wunden die Roßhaarfüllung hervorquoll. Diesem Fauteuil hatte sie sich nun gewidmet; sie erweiterte die Risse und zupfte voller Andacht die Polsterung heraus.

Plötzlich hob sie den Finger wieder in die Höhe, wie um zu sagen: Da hört! Auch die Brüder kehrten sich um. Von außen her hörten sie ein fernes, dumpfes Getöse, das wohl von einer strategischen Bewegung der Belagerungstruppen im Wald herrührte; Rossegewieher, Trommelwirbel, Wagenrollen, Kettengeklirr und Trompetensignale, die sich gegenseitig verständigten, das Alles lärmte durcheinander und verschmolz zu einer gewissen wilden Harmonie, welcher die Kinder mit Entzücken lauschten.

– Der Liebergott, der macht das, sagte René-Jean.

IV.

Es wurde wieder still. René-Jean war ins Träumen gerathen.

Wie mögen sich wohl in so einem kleinen Hirn die Gedanken zersetzen und wieder verketten? Und was mag wohl die geheimnißvollen Schwankungen eines dermalen noch so trüben und kurzatmigen Gedächtnisses bedingen? In diesem sanften, sinnenden Köpfchen entstand eine Mischung von »Liebergott«, von Abendgebet, von gefaltenen Händen, von einem behütenden Liebeslächeln, das verloren gegangen war, und René-Jean murmelte ganz leise: Mama.

– Mama, wiederholte Gros-Alain.

– Mam, wiederholte Georgette.

Dann fing René-Jean zu springen an, worauf Gros-Alain gleichfalls herumsprang. Gros-Alain machte überhaupt jede Miene und jede Geberde seines Bruders nach, weit mehr als Georgette; drei Jahre, die erblicken bereits in vier Jahren ein Vorbild, aber zwanzig Monate, die halten noch etwas auf ihre Unabhängigkeit. Georgette blieb sitzen und zwitscherte zuweilen ein Wort; sie bildete noch keine Sätze und sprach in kurzen Sinnsprüchen wie ein Denker; ihr gaben die Silben noch zu schaffen. Nach einiger Zeit wirkte jedoch das Beispiel ansteckend auf sie und sie versuchte, es wie die Brüder zu halten, so daß die sechs nackten Füßchen nun mit einander tanzten, liefen und stolperten auf den alten, staubigen, polirten Eichendielen, unter den feierlichen Blicken der Marmorbüsten, denen Georgette hier und da einen bangverstohlenen Seitenblick zuwarf, bei dem sie »Mannemann« vor sich hinmurmelte, ein Wort, das in ihrer Sprache Alles bezeichnete, was einem Mann irgendwie ähnlich sah und doch keiner war; in einem Kinderköpfchen sind Wesen und Schein noch eins.

Georgette wackelte mehr, als sie ging, und folgte zwar den Bewegungen ihrer Brüder, aber am liebsten auf allen Vieren.

Plötzlich streckte René-Jean, bei einem Fenster angekommen, den Kopf in die Höhe, zog ihn aber zurück und flüchtete hinter die Mauer, welche die Fensternische bildete. Er hatte Jemand erblickt, der ihn betrachtete. Es war ein blauer Soldat aus dem Lager des Plateaus, der, den Waffenstillstand benutzend, oder auch wohl etwas übertretend, sich bis zur Böschung der Schlucht vorgewagt hatte, von wo aus man in die Bibliothek hineinschauen konnte. Als Gros-Alain René-Jean flüchten sah, flüchtete auch er; er kauerte sich neben ihn hin, und Georgette versteckte sich hinter die Beiden. So blieben sie eine Weile ganz still und unbeweglich; Georgette mit dem Finger auf dem Mund. Dann ermannte sich René-Jean und streckte den Kopf abermals vor, fuhr aber, da der Soldat immer noch dastand, rasch wieder zurück, und eine geraume Zeit wagten die drei Kleinen kaum mehr, zu atmen. Endlich ward Georgette des Fürchtens überdrüssig, raffte ihre Kühnheit zusammen und guckte hinaus: der Soldat war fort, und nun begann das Rennen und Spielen von Neuem.

Obwohl ein Bewunderer und Nachbeter von René-Jean, hatte sich Gros-Alain eine Spezialität vorbehalten, nämlich die der Entdeckungen. Auf ein Mal sahen ihn Bruder und Schwester wie toll vor einem kleinen vierräderigen Fuhrwerk einhergalloppiren, das er, Gott weiß wo, aufgestöbert hatte. Dieses Puppenwägelchen, das, bestaubt und vergessen, schon seit langen Jahren in guter Nachbarschaft mit den Büchern der Denker und den Büsten der Weisen dahinlebte, mochte wohl ein Ueberbleibsel aus Gauvain's Kinderzeit sein. Gros-Alain machte aus seiner Schnur eine Peitsche, die er stolzgebieterisch schwang. So sind die findigen Köpfe einmal: Wenn sie Amerika nicht entdecken, so entdecken sie einen Miniaturkarren, immerhin etwas. Jetzt mußten Rollen vertheilt werden. René-Jean wollte sich vor den Wagen spannen und Georgette wollte drinsitzen. Es gelang ihr auch, und René-Jean machte das Pferd, Gros-Alain den Kutscher. Doch der Kutscher konnte nichts und mußte sich durch das Pferd belehren lassen.

Sage doch: Hüst! rief René-Jean dem Bruder zu.

– Hüst! wiederholte Gros-Alain.

Aber der Kutscher warf um.

Aber der Kutscher warf um; Georgette rollte auf den Fußboden hin. Schreien, das thut selbst ein kleiner Engel, und so schrie denn Georgette. Sie war sogar schon im Begriff, zu weinen. – Kleine, sagte René-Jean, Du bist zu groß, um zu weinen.

– Droß, ja, meinte Georgette und fand in ihrer Größe einen Trost für ihren Fall.

Auf den sehr breiten Mauerkranz, der draußen unter den Fenstern hinlief, hatte der Wind eine ganze Schicht zerstäubten Haidegrunds vom Plateau hergeweht, den der Regen dann wieder zu Erde verdichtet hatte; so hatte sich denn ein gleichfalls vom Wind hergewehtes Samenkorn das bischen Haidegrund zu Nutze gemacht und daraus war eine jener unausrottbaren Brombeerstauden entstanden, die im August reife Früchte tragen; eine Ranke hing zu einem der Fenster herein bis herab auf den Fußboden, und Gros-Alain, der Entdecker der Schnur, der Entdecker des Wägelchens, sollte nun auch der Entdecker der Ranke werden. Er ging darauf los, pflückte eine Brombeere und aß sie.

– Mich hungert, sagte René-Jean, und Georgette rannte auf Händen und Knieen herbei. Die Plünderung begann, und die Ranke wurde bis auf das letzte Beerchen abgegrast. Schwelgend, verschmiert, über und über voll dunkelrothen Saftflecken, wurden jetzt aus den drei kleinen Engeln drei kleine Faune, einem Dante zum Aergerniß und einem Virgil zum Ergötzen. Das Lachen wollte nicht aufhören; nur stachen sie sich, da doch Alles erkauft werden will, hier und da in die Finger; Georgette hielt René-Jean den Daumen hin, aus dem ein Blutströpfchen hervorperlte, und sagte, mit der anderen Hand nach der Ranke deutend: Ticht.

Gros-Alain, der auch nicht verschont geblieben, schaute mißtrauisch hin und folgerte:

– Es ist ein Thier.

– Nein, berichtigte René-Jean, es ist ein Stecken.

– Ein Stecken ist etwas Böses, erwiderte Gros-Alain.

Auch dies Mal war Georgette dem Weinen sehr nahe, aber sie brach dennoch in ein Lachen aus.

V.

Unterdessen war in René-Jean, den die Entdeckungen seines jüngeren Bruders Grois-Alain vielleicht mit einem gewissen Neid erfüllten, ein großer Plan gereift. Während er seine Brombeeren pflückte und sich in die Finger stach, schweiften seine Blicke seit einiger Zeit beharrlich zu dem Pult hinüber, das auf seiner Drehschraube wie ein Monument mitten in der Bibliothek stand, und auf dem das berühmte Evangelium Bartholomäi auflag, ein wirklich prachtvoller und merkwürdiger Quartband aus der Offizin des berühmten Kölner Verlegers der Bibel von Anno 1682, Bloeuw oder auf lateinisch Coesius; das Buch war noch mit der alten Presse und nicht auf holländischem Papier gedruckt, sondern auf jenem schönen, von Edrisi so bewunderten arabischen Papier, das aus Seide und Baumwolle bereitet wird und nie vergilbt. Es hatte einen Einband von vergoldetem Leder und silberne Schlösser. Die innere Garnitur war von jenem Pergament, das die Pariser Pergamenthändler nur im Saal Saint-Mathurin »und sonst nirgends« anzukaufen sich eidlich verpflichten mußten. Das Werk enthielt eine Menge Holzschnitte, Kupferstiche und geographische Abbildungen verschiedener Länder. Es ging ihm ein Protest der Drucker, Papier- und Buchhändler gegen das Edikt von 1635 voraus, welches »die Lederwaaren, die Biere, das Vieh mit gespaltenen Klauen, die Seefische und das Papier« mit einer Abgabe belegte, und auf der Rückseite des Titelblatts stand eine Widmung an die Gryphus, welche in Lyon dieselbe Rolle spielten, wie die berühmte Firma der Elzevir zu Amsterdam. Dem Allen zufolge hatte man es mit einem Exemplar zu thun, welches beinahe ebenso werthvoll und selten war wie der Moskauer »Apostol«.

Der Prachtband, der René-Jean, vielleicht nur zu sehr, in die Augen stach, war gerade auf der Seite eines großen Kupfers aufgeschlagen, das den heiligen Bartholomäus darstellte, wie er seine Haut unter dem Arm trägt, und dieses Kupfer konnte René-Jean von unten wahrnehmen. Nachdem alle Brombeeren vertilgt waren, starrte er es mit verhängnißvoll zärtlicher Begehrlichkeit an, und Georgette, die unverwandt den Blicken ihres Bruders folgte, sah es nun auch und sagte: Bibild.

Diese Aeußerung schien René-Jean endgiltig zu bestimmen, und er verstieg sich zu einem Beginnen, das Gros-Alain mit sprachlosem Staunen erfüllte. In einem Winkel der Bibliothek stand ein großer eichener Stuhl; zu dem ging René-Jean hin, faßte ihn an und schleifte ihn ganz allein an das Pult hin; dann kletterte er hinauf und stemmte beide Fäuste auf das Buch. Zu solcher Höhe angelangt, glaubte er sich selber eine großmüthige Handlung schuldig zu sein; er packte das »Bibild« an der oberen Ecke und riß es herab, sorgfältig, aber, trotz allem guten Willen, schief; die linke Hälfte mit einem Auge und einem Stück vom Heiligenschein des alten zweifelhaften Evangelisten ließ er im Buch zurück und reichte den halben Bartholomäus mit seiner ganzen Haut dem Schwesterchen; dieses nahm das Geschenk in Empfang und sagte: Mannemann.

– Ich auch! rief Gros-Alain.

Mit der ersten Seite hat es dieselbe Bewandtniß wie mit dem ersten vergossenen Blut. Ist der erste Schritt einmal gethan, so kommt das Gemetzel rasch in Gang. René-Jean wendete das zerfetzte Blatt um; hinter dem Heiligen befand sich der Kommentator, Pantönus. Gros-Alain wurde der Pantönus zuerkannt.

Mittlerweile machte Georgette aus ihrem großen Stück zwei kleine.

Mittlerweile machte Georgette aus ihrem großen Stück zwei kleine und aus den zweien vier noch kleinere, so daß behauptet werden könnte, daß der heilige Bartholomäus, nachdem man ihn in Armenien geschunden, in der Bretagne geviertheilt wurde.

VI.

Nach vollzogener Viertheilung hielt Georgette die Hand hin und sagte zu René-Jean: Mehr.

Hinter dem Heiligen und dem Kommentator kamen die sauer dreinschauenden Erklärer, Gavantus an der Spitze; ein Ruck und René-Jean händigte Georgette den Gavantus ein, und so erging es der Reihe nach den Erklärern allen. Der Gebende ist der Ueberlegene. René-Jean beanspruchte nichts für seine eigene Person; Gros-Alain und Georgette starrten ihn an, und das war ihm Lohns genug; er begnügte sich mit dem Bewußtsein, von seinem Publikum bewundert zu werden. Unerschöpflich in seiner Selbstverläugnung beschenkte er den Bruder mit Fabricio Pignatelli und das Schwesterchen mit dem Pater Stilling; ferner wurde Gros-Alain noch mit Alphonse Postat, Henri Hammond und dem Protest der Papierhändler beglückt, Georgette aber mit Cornelius a Lapide, mit dem Pater Roberti nebst Ansicht der Stadt Douai, wo derselbe 1619 geboren ward, und endlich mit der Widmung an die Gryphus. Auch die paar Landkarten wurden vertheilt: Gros-Alain erhielt Aethiopien und Georgette Lykaonien. Und zu guterletzt stieß René-Jean das Buch vom Pult herunter.

Es war dies ein furchtbarer Moment. Mit schauderndem Entzücken sahen die beiden Geschwister, wie René-Jean die Stirn runzelte, wie er alle seine Sehnen anspannte und mit krampfhaft zitternden Fäusten den schweren Quartband über das Pult wegschob. Eine majestätische Scharteke, die das Gleichgewicht verliert, hat etwas Tragisches. Eine Sekunde lang schwebte die herunterhängende Hälfte des dicken Bandes wie zögernd in der Luft; dann polterte er, geborsten, zerknittert, zerrissen, in allen Fugen ächzend und mit beschädigten Schlössern, elendiglich platt auf den Fußboden herunter; ein Glück, daß er auf keines der Kinder gefallen war, die jetzt geblendet und unversehrt hinschauten. Nicht alle Heldenthaten laufen so glatt ab; diese hatte blos den allen Heldenthaten eigenen großen Lärm gemacht und sehr viel Staub aufgewirbelt.

Nach glorreich überstandenem Kampf stieg René-Jean vom Stuhl. Es folgte ein Augenblick des stummen Entsetzens, denn auch der Sieg hat seine Schrecken. Die drei Kinder hielten einander bei den Händen und starrten aus einer gewissen Entfernung nach dem gewaltigen, niedergeschmetterten Buch. Kaum war jedoch das erste Staunen vorüber, so ging auch Gros-Alain entschlossen hin und versetzte dem Besiegten einen Fußtritt. Damit war Alles entschieden. Die Zerstörungslust brach hervor. René-Jean gab seinen Fußtritt Georgette gab ihren Fußtritt und fiel dabei auf die Erde, aber sitzend, ein Umstand, den sie benutzte, um sich mit den Händen über den heiligen; Bartholomäus herzumachen. Die letzte Spur von Scheu war verschwunden: René-Jean griff an, Gros-Alain stürmte, und jubelnd, lachend, unbändig, außer sich, triumphirend, unbarmherzig, schossen die drei kleinen Raubengel auf den wehrlosen Evangelisten herab, zerzausten die Bilder, zerfetzten die Blätter, rupften die Merkbändchen aus, zerkratzten die Deckel, zerrten das vergoldete Leder los, zwickten die Nägel der silbernen Eckenbeschläge ab, rissen die Pergamentstreifen aus dem Rücken, und wütheten, mit Händen, Füßen, Nägeln und Zähnen arbeitend, gegen den ehrwürdigen Text. Sie vernichteten Armenien, Judäa, das Herzogthum von Benevent, wo die Reliquien des Heiligen aufbewahrt werden, Nathanael, so vielleicht identisch ist mit Bartholomäo, den Papst Gelasius, so das Evangelium Bartholomäi-Nathanaels für unecht erklärte, Alles bis aufs letzte Bild und auf die letzte Karte, und die unerbittliche Hinrichtung des alten Buchs beschäftigte sie so ganz ausschließlich, daß eine Maus hätte vorbeilaufen können, ohne von ihnen berücksichtigt zu werden. Kurz, es war eine gründliche Verheerung. Einem Stück Geschichte, der Legende, der Theologie, den wahren und falschen Wundern, dem Kirchenlatein, dem Aberglauben, dem Fanatismus, den Mysterien den Garaus machen und eine ganze Religion von oben bis unten entzwei zu reißen, ist für drei Riesen ein schwer Stück Arbeit und sogar auch für drei Kinder; Stunden gingen darüber hin, aber der Zweck ward auch vollständig erreicht: der heilige Bartholomäus war nicht mehr.

Nach gethaner Arbeit, als die letzte Seite ausgemerzt worden, das letzte Kupfer am Boden lag und vom ganzen Werk nur noch ein paar Text- und Bildertrümmer in dem Skelett eines Einbandes übrig blieben, reckte sich René-Jean in die Höhe, betrachtete den mit Papierblättern übersäten Fußboden und klatschte in die Hände. Gros-Alain klatschte mit. Georgette nahm eins der Blätter, stand auf, lehnte sich an den Fenstersims, der ihr bis ans Kinn reichte und ließ ein abgerissenes Stückchen Papier nach dem andern hinausfliegen. René-Jean und Gros-Alain folgten dem Beispiel; sie hoben auf und ließen fliegen, ließen fliegen und hoben auf, bis der weitaus größte Theil des altehrwürdigen Buches, von den rastlosen Fingerchen zerbröckelt, Blatt für Blatt durchs Fenster gewandert war. Georgette sah diesen Schwärmen, die der Wind auseinandertrieb, sinnend nach und sagte: Metterling. Und so zerstob denn das Gemetzel wie ein Blüthenregen im blauen Himmel.

VII.

Das war die zweite Passion Bartholomai, der bereits sein erstes Martyrium im Jahr 49 nach Christi Geburt erduldet hatte.

Nun rückte die Abendstunde heran; die Hitze nahm zu; die Mittagsruhe schwamm in der Luft, und Georgette zwinkerte schon mit den Augen. René-Jean ging zu seiner Wiege hin, zog den Sack voll geschnittenem Stroh heraus, der ihm als Matratze diente, schleifte ihn bis ans Fenster, streckte sich der Länge nach darauf aus und sagte: Wir wollen schlafen. Gros-Alain legte seinen Kopf auf René-Jean, Georgette stützte den ihren auf Gros-Alain und die drei Missethäter schlummerten ein. Lau wehte es herein durch die offenen Fenster, Wildblumenduft von Hügel und von Schlucht, einherspielend im Atemzug des Abends; eine begnadende Ruhe dehnte sich über den Gefilden; Alles leuchtete; Alles war befriedet; Alles ging in Liebe auf zu Allem; die Sonne liebkoste die Erde mit ihrem Strahl; durch alle Poren sog man jene harmonische Stimmung ein, die der unermeßlichen Milde der Natur entsteigt und mutterzärtlich hinschauert durch das All. Die Welt ist ein ewig werdendes Wunder; sie ergänzt ihre ungeheure Erhabenheit durch ihre Güte. Es war, als ob man das geheimnißvoll vorsorgende Walten einer unsichtbaren Macht fühlte, die im fürchterlichen Widerstreit der Geschöpfe die Schwächlichen in Schutz nimmt gegen die Starken; schön, schön war Alles in diesen Wechselwogen von Sanftmuth und von Herrlichkeit. Ueber der schlummerseligen Landschaft fluthete jener prunkende Flimmer, den das Hin- und Herweben von Licht und Schatten über Bach und Wiesen hinhaucht; Rauchflocken schwebten zu den Wolken empor wie Träume zu den Regionen übermenschlichen Schauens; um La Tourgue kreisten gefiederte Schwärme und die Schwalben blickten durch die Fenster herein, als wollten sie sehen, ob die Kinder auch gut schliefen. Wie eine Gruppe von Amoretten lagen sie da, neben einander hingegossen, halbnackt und unbeweglich, anbetungswerth im Reiz ihrer Unschuld; alle drei zusammen zählten sie noch keine neun Lebensjahre; an ihren traumlächelnden Gesichtchen zogen paradiesische Erscheinungen vorüber; vielleicht flüsterte ihnen Gott gerade ein Vaterwort ins Ohr; gehörten sie ja doch zu Denjenigen, die in jeder menschlichen Sprache die Schwachen und die Gesegneten heißen; sie waren die heilige Unschuld; um sie her schwieg Alles still, als wäre der Hauch, unter dem ihre zarte Brust auf- und niederging, der Inbegriff des Weltalls und als müßte diesem Hauch die ganze Schöpfung lauschen; kein Blatt bewegte sich; kein Grashalm schauerte zusammen; die unendliche Natur mit ihren Sternen allen schien den Atem anzuhalten, um die himmlisch arglosen kleinen Schläfer nicht zu wecken, und nichts auf Erden war erhabener als dieses ehrerbietige Verstummen von Allem um dies holde Bild der unbewußten Demuth.

Schon berührte die untergehende Sonne den Horizont . . . Da, plötzlich, flammte vom Wald her durch den tiefen Frieden ein Blitzstrahl, dem ein Donnerschlag folgte; das Echo machte sich den Kanonenschuß zu eigen und ließ ihn von Hügel zu Hügel in zehnfach tobendem, gräßlichem Gebrüll fortrollen. Georgette erwachte davon; sie erhob ein klein wenig ihr Köpfchen, streckte lauschend ihr Fingerchen in die Höhe und sagte: Bumm!

Dann verhallte der Lärm; Alles wurde still wie zuvor; Georgette legte den Kopf wieder auf Gros-Alain und schlief weiter.


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