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Im Frühling 1793, während Frankreich, von allen Seiten her gleichzeitig angegriffen, sich mit einem pathetischen Intermezzo, dem Sturz der Gironde, beschäftigte, trug sich auf der Inselgruppe des Kanals Folgendes zu.
Eines Abends, am 1. Juni, auf Jersey, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang, bei nebliger Witterung, die für eine heimliche Abfahrt gerade in Folge ihrer Gefährlichkeit günstig ist, segelte eine Korvette aus der kleinen öden Bucht von Bonnenuit. Das Fahrzeug hatte eine französische Mannschaft an Bord, gehörte jedoch zu der englischen Flottille, die wie ein Vorposten bei der östlichen Spitze der Insel ihre Station hatte. Die englische Flottille stand unter dem Kommando des Fürsten von la Tour-d'Auvergne, aus dem Geschlechte der Bouillon, und auf seinen Befehl war die Korvette mit einem eigenen und dringenden Auftrag detachirt worden.
Diese in Trinity-House unter dem Namen »The Claymore« eingetragene Korvette war scheinbar ein Fracht-, in Wirklichkeit aber ein Kriegsschiff. Trotz ihrem schwerfälligen, friedfertig merkantilen Aussehen, war ihr keineswegs zu trauen, denn bei ihrem Bau hatte man einen Doppelzweck im Auge gehabt: List, um womöglich zu täuschen, und Kraft, um nöthigen Falls zu kämpfen. Für den heutigen Nachtdienst hatte die Ladung des Zwischendecks dreißig kurzen Marinegeschützen von schwerem Kaliber den Platz räumen müssen. In Voraussicht eines Sturmes oder vielmehr um dem Fahrzeug seine harmlose Figur zu belassen, waren dieselben eingezogen, das heißt mit dreifachen Ketten dergestalt nach innen zu festgehalten, daß die Mündungen die überdies zugestopften Lucken kaum berührten; von außen war also nichts sichtbar; auch die Stückpforten waren geblendet, jede Oeffnung geschlossen; kurz die Korvette trug gewissermaßen eine Maske. Die ordonnanzmäßigen Korvetten führen ihre Geschütze nur auf dem Verdeck; dieses Schiff hingegen, für Trug und Ueberfall berechnet, war so gebaut, daß, wie wir bereits wissen, die Batterie nicht auf dem Deck, sondern im Zwischendeck untergebracht war. Obgleich nach einem massiven, gedrungenen Modell konstruirt, war der »Claymore« den Schnellseglern beizuzählen; seine Schale war so fest wie sonst keine zweite in der englischen Marine und im Gefecht blieb seine Leistungsfähigkeit kaum hinter der einer Fregatte zurück, obwohl er an Stelle des Besanmastes einen ungleich kleineren mit einer einfachen Brigantine führte. Von seltenem Scharfsinn zeugte das ausgezeichnete geschweifte Fugenwerk am Steuer, welches auf den Werften von Southampton mit fünfzig Pfund Sterling bezahlt worden war.
Die ausschließlich französische Schiffsmannschaft bestand aus übergelaufenen Matrosen und war von Emigranten befehligt. Unter diesen sorgfältig ausgesuchten Leuten befand sich auch nicht Einer, der nicht ein guter Seemann, ein guter Soldat und ein guter Royalist gewesen wäre; Alle bekannten sie sich zu dem dreifach schwärmerischen Kultus: Schiff, Waffe, König. Behufs einer eventuellen Landung war ihnen ein halbes Bataillon Marinetruppen beigegeben worden. Kapitän der Korvette war der Graf du Boisberthelot, Ritter des Sankt-Ludwigsordens und einer der verdienstvollsten Marineoffiziere des früheren Regime, Lieutenant der Chevalier von La Vieuville, der bei den Gardes-françaises die Kompagnie kommandirt hatte, in welcher Hoche Sergeant gewesen, und Lootse Philipp Gacquoil, der geschickteste Fachmann von ganz Jersey.
Daß das Fahrzeug etwas Außerordentliches vorhatte, unterlag keinem Zweifel, umsomehr als ein Mann an Bord gekommen war, dem man irgend ein Wagniß zutrauen mußte. Es war ein hochgewachsener Greis, rüstig, von aufrechter Haltung und strengen Gesichtszügen; sein Alter genau festzustellen hätte schwer fallen dürfen, da er zugleich bejahrt und doch wieder jung erschien – eine jener Gestalten voller Furchen und voller Kraft, mit weißem Haar auf der Stirn und einem Blitz im Auge, an Körperstärke Vierziger und Achtziger an geistigem Ansehen. Während er die Korvette bestieg, hatte man durch den klaffenden Schlitz seines Schiffermantels wahrnehmen können, daß er sogenannte »Bragou-Bras« oder Pumphosen trug, ferner hohe Stiefel und eine Jacke aus Ziegenfell, das seidengestickte Leder nach außen, das rauhe, borstige Haar nach innen zugekehrt, also ganz wie ein bretonischer Bauer gekleidet war. Jene altmodischen bretonischen Jacken ließen sich auf zweierlei Arten tragen, sowohl an Festtagen wie bei der Arbeit, je nachdem man sie nach der glatten oder der behaarten Seite wendete; so ging man die Woche über im Pelz, am Sonntag in der Stickerei.
Der Bauernanzug dieses Greises war überdies, gleichsam zur Vervollständigung seiner trügerisch beabsichtigten Echtheit, an Knieen und Ellenbogen wie durch langjährigen Gebrauch abgenutzt, und auch der grobe Tuchmantel glich dem heruntergekommenen Erbstück einer Fischerfamilie. Als Kopfbedeckung trug der Mann den Hut von hoher Form mit breiter Krämpe, der, wenn man letztere in der wagerechten Stellung läßt, ländlich aussieht, kriegerisch aber, wenn man sie auf einer Seite vermittelst einer Schnur und Kokarde aufstülpt. Er trug ihn nach Bauernmanier einfach mit hängender Krämpe, ohne Schnur noch Kokarde.
Der Gouverneur der Insel und der Fürst von la Tour-d'Auvergne hatten ihn persönlich an Bord geführt und untergebracht, und der geheime Agent des Prinzen, Gélambre, ein ehemaliger Garde-du-corps des Herrn Grafen von Artois, der schon die Einrichtung der Kajüte selber überwacht hatte, war trotz seinem alten Adel in der Rücksicht und Hochachtung so weit gegangen, dem Greis die Reisetasche nachzutragen. Auch hatte sich Herr von Gélambre, als er das Schiff wieder verließ, vor dem Bauern tief verneigt; Lord Balcarras hatte ihm noch zugerufen: »Glück auf, General!« und der Fürst von la Tour-d'Auvergne: »Lieber Vetter, auf Wiedersehen!«
»Der Bauer.« So wurde der Passagier auch wirklich gleich nach seinem Erscheinen vom Schiffsvolk in jenen wortkargen Gesprächen bezeichnet, die Seeleute mit einander führen; doch wenn ihnen auch der Schlüssel des Räthsels fehlte, so viel wußten sie immerhin, daß jener Bauer ebensowenig ein Bauer war wie der »Claymore« ein Kauffahrer.
Bei spärlichem Wind ging die Korvette unter Segel, steuerte an Boulay-Bay vorüber und blieb noch eine gute Weile lavirend in Sicht, bis sie, immer mehr zusammenschrumpfend, in der sinkenden Nacht verschwand.
Eine Stunde später schickte Gélambre von seiner Wohnung in Saint-Hélier aus folgende kurze Zeilen via Southampton an den Herrn Grafen von Artois ins Hauptquartier des Herzogs von York: »Königliche Hoheit, die Abfahrt hat soeben stattgefunden. Erfolg gesichert. In acht Tagen steht die ganze Küste in Flammen, von Granville bis Saint-Malo.«
Vier Tage vorher war dem Abgeordneten Prieur vom Marne-Departement, Kommissär des Nationalkonvents bei der Armee von Cherbourg, derzeit in Granville beschäftigt, durch einen geheimen Eilboten und von derselben Hand wie obige Depesche geschrieben, dies Billet zugestellt worden: »Bürger Abgeordneter, den 1. Juni, zur Ebbezeit, wird die Kriegskorvette mit maskirter Batterie »The Claymore« auslaufen, um einen Mann an die französische Küste zu bringen, dessen Personalbeschreibung anbei folgt: hoher Wuchs, alt, Haar weiß, Bauernkleider und Aristokratenhände. Morgen ein Näheres. Er wird am zweiten in der Frühe landen. Alarmiren Sie die Kreuzer, kapern Sie die Korvette, lassen Sie den Mann guillotiniren.«
Die Korvette, anstatt südlich gegen Sainte-Catherine zuzusegeln, hatte ihren Kurs nach Norden, dann nach Osten gerichtet und war schließlich resolut zwischen Serk und Jersey in die Meerenge eingedrungen, die man le Passage de la Déroute nennt. Damals gab es weder auf dem einen noch auf dem anderen Ufer einen Leuchtthurm.
Die Sonne war völlig untergegangen und die Nacht dunkler als es sonst im Sommer zu sein pflegt; eine Mondnacht, aber ein Himmel, eher an die Aequinoktial- als an die Sonnenwendezeit erinnernd, so gleichmäßig war er mit schweren Wolken ausgefüttert; demnach konnte, aller Wahrscheinlichkeit nach, der Mond erst im Untergehen, bei seiner Berührung mit dem Horizont sichtbar werden. Einige Wolken hingen sogar bis auf das Meer herab und bedeckten es mit Nebeln.
Die allseitige Dunkelheit war jedoch günstig. Der Lootse Gacquoil hatte den Plan, Jersey links und Guernesey rechts liegen lassend, nach einer kühnen Durchfahrt zwischen Les Hanois und Les Douvres in irgend eine Bucht an der Küste von Saint-Malo einzulaufen; dieser Weg war zwar weniger kurz als der über Les Minquiers, aber sicherer, da die französischen Kreuzer bis auf weiteren Befehl Ordre hatten, vor Allem die Strecke zwischen Saint-Hélier und Granville im Auge zu behalten.
Mit Aufgebot aller Mittel hoffte Gacquoil, unvorhergesehene Zwischenfälle abgerechnet, bei einigermaßen günstigem Wind die französische Küste vor Tagesgrauen zu erreichen.
Bis jetzt ging Alles nach Wunsch; die Korvette war eben an Gros-Nez vorbeigesegelt; das Wetter schien, wie der Seemann sagt, schmollen zu wollen; der Wind wurde stärker und die Wellen bewegter; aber gerade dieser Wind war gut und die See ging hoch, ohne deshalb stürmisch zu sein. Nur bekam bei gewissen Wogenschlägen das Vordertheil des Fahrzeugs etwas zu viel Senkung.
Der »Bauer«, den Lord Balcarras »General« genannt, und zu dem der Fürst von la Tour-d'Auvergne »Lieber Vetter« gesagt, hatte den Matrosenschritt und spazierte ruhig und gravitätisch auf dem Deck auf und nieder. Daß das Schiff heftig hin und hergeworfen wurde, schien er nicht zu bemerken.
Von Zeit zu Zeit zog er aus der Tasche seines Wammses ein Schokoladetäfelchen, von dem er ein Stück abbrach und verzehrte: trotz seinem weißen Haar hatte er noch alle seine Zähne. Nur den Kapitän redete er zuweilen leise und bündig an, sonst keine Seele, und dieser hörte ehrerbietig zu, als hielte er eher seinen Passagier als sich selber für den eigentlich Kommandirenden.
Der »Claymore« fuhr nun, in Nebel eingehüllt, sehr geschickt die gedehnte, steile Nordküste von Jersey entlang, dem Lande möglichst nah, wegen der gefürchteten Klippe Pierres de Leeq, die sich in der Mitte der Meerenge zwischen Jersey und Serk befindet. Gacquoil, aufrecht beim Steuer, die Richtung von Grève de Leeq Gros-Nez, Plémont der Reihe nach angebend, ließ die Korvette einigermaßen blindlings, aber mit vollkommener Sicherheit, wie Einer, der zum Haus gehört und das ganze Winkelwerk des Meeres kennt, zwischen all den Verkettungen von Hindernissen einhergleiten. Das Vordertheil des Schiffes hatte kein Licht, aus Furcht vor einem Entdecktwerden in diesen so argwöhnisch überwachten Gegenden. Man wünschte sich zu dem Nebel Glück. Jetzt war man bei La Grande-Etaque, und die Finsterniß so dicht, daß man die ragenden Umrisse des Pinacle kaum zu unterscheiden vermochte. Auf dem Thurm von Saint-Ouen hörte man die zehnte Stunde schlagen, ein Zeichen, daß man immer noch den Wind im Rücken hatte. Die Gunst der Elemente ließ nicht nach; die See ging höher, weil man sich nicht weit von La Corbière bewegte.
Kurz nach Zehn geleiteten der Graf du Boisberthelot und der Chevalier von La Vieuville den »Bauern« nach seiner Kajüte, die keine andere war als die des Kapitäns. Beim Eintreten sagte der Greis mit gedämpfter Stimme:
– Sie wissen, meine Herren, das Geheimniß muß gewahrt werden. Kein Wort also, bis die Mine springt. Sie allein kennen hier meinen Namen.
– Wir würden ihn mitnehmen ins Grab, antwortete Boisberthelot.
– Ich für mein Theil, erwiderte der Greis, verschweige ihn, selbst im Angesicht des Todes.
So verabschiedeten sich die Drei.
Der Kapitän und sein Lieutenant stiegen wieder aufs Deck und gingen plaudernd neben einander auf und ab. Sie unterhielten sich offenbar über ihren Passagier. Dies im großen Ganzen ihr Gespräch, das ihnen der Wind vom Mund in die Nacht entführte.
– Es wird sich bald zeigen, ob er der rechte Mann ist, brummte Boisberthelot dem Chevalier halblaut ins Ohr.
– Einstweilen ist er ein Fürst, entgegnete La Vieuville.
– Beinahe.
– Französischer Edelmann, aber bretonischer Fürst.
– Wie die La Trémoille, wie die Rohan.
– Mit denen er auch verschwägert ist.
Boisberthelot begann wieder:
– In Frankreich und in den Galawagen des Königs ist er der Marquis, gerade wie ich Graf bin und Sie Chevalier.
– Eine verschollene Mär, die Galawagen! rief La Vieuville. Jetzt ist der Karren Trumpf.
Nach einer Pause sagte Boisberthelot:
– In Ermangelung eines französischen Fürsten behilft man sich schon mit einem Bretonen.
– Wenn die Tauben nicht mehr gebraten herumfliegen, so . . . . Nein, wenn kein Adler herumfliegt, begnügt man sich mit einem Raben.
– Ein Geier wäre mir lieber, erwiderte Boisberthelot.
– Allerdings! meinte La Vieuville, ein Schnabel und zwei Klauen.
– Es wird sich ja zeigen.
– Hoffentlich, antwortete La Vieuville, denn zu lang schon thut ein Führer Noth. Ich sage wie Tinténiac: »Nur einen Führer und Patronen!« Sehen Sie, Graf, ich kenne sie so ziemlich, alle möglichen und unmöglichen Führer, die von gestern, die von heut und die von morgen: nicht Einer hat den Soldatenschädel, den wir gerade brauchen. In dieser verteufelten Vendée muß der General auch ein Inquisitor sein; den Feind abhetzen muß er, ihm jede Mühle, den Busch, den Graben, die Erdscholle streitig machen, ihm faule Händel zwischen die Beine werfen, Alles verwerthen, nichts aus den Augen verlieren, viel massakriren, abschrecken, den Schlaf und die Barmherzigkeit davonjagen. Zur Stunde giebt es in jener Armee von Bauern wohl Helden, aber keine Kommandeurs. Von Elbée ist eine Null, Lescure ein kranker Mann, Bonchamps ein Pardonirer: Mitleid dummes Zeug! La Rochejacquelein mag einen prächtigen Infanterielieutenant abgeben; Silz weiß mit der Taktik, aber nicht mit den Nothbehelfen des Freischaarenkriegs umzugehen. Cathelineau ist ein naiver Fuhrmann, Stofflet ein durchtriebener Förster, Bérard ein untauglicher, Boulainvilliers ein lächerlicher, Charette ein abscheulicher Mensch; den Barbier Gaston will ich hier gar nicht erwähnen, denn Sapperlot noch einmal! weshalb liegen wir der Revolution in den Haaren, und was soll uns von den Republikanern unterscheiden, wenn wir den Edelleuten Perrückenmacher als Kommandanten zumuthen?
– Diese Schandrevolution steckt eben auch uns mit an.
– Wie eine Räude – ganz Frankreich.
– Ja, die Räude des dritten Standes, fuhr Boisberthelot fort. Nur England kann uns davon kuriren.
– Und das wird es auch, verlassen Sie sich darauf, Kapitän.
– Einstweilen bleibt's etwas Unappetitliches.
– Und wie! Ueberall Plebs; die Monarchie mit Stofflet, dem Förster des Herrn von Maulevrier als Generalissimus, braucht die Republik um den Portiersohn des Herzogs von Castries, Seine Excellenz Herrn Staatsminister Pache, nicht zu beneiden. Ein sauberes Gegenüber, dieser Vendéer Krieg: auf der einen Seite der Bierbrauer Santerre und auf der andern Gaston, der Haarkünstler.
– Mein lieber La Vieuville, auf diesen Gaston halte ich gewissermaßen etwas. Er hat sich in seinem Rayon von Guéménée nicht übel benommen und dreihundert Blaue ganz hübsch zusammengepfeffert, die zuvor noch ihre eigene Grube graben mußten.
– Recht brav, aber das hätte ich gerade so gut besorgt.
– Ei der Tausend, ich auch.
– Große Kriegsthaten, begann La Vieuville abermals, beanspruchen bei dem, der sie vollbringen soll, Noblesse; sie geziemen den Rittern kurzweg und nicht einem Ritter vom Kamm.
– Und dennoch, entgegnete Boisberthelot, giebt es in jenem dritten Stand anständige Menschen. Da haben Sie zum Beispiel einen gewissen Uhrmacher Joly, vormals Sergeant beim Regiment Flandern: Der Mann geht Ihnen unter die Vendéer und sammelt eine Bande bei der Küste; nun hat er aber einen Sohn, der als Republikaner bei den Blauen dient, während er zu den Weißen hält. Schließlich Zusammenstoß, Gefecht. Der Vater nimmt seinen Sohn gefangen und jagt ihm eine Kugel durch das Hirn.
– Der ist allerdings nicht ohne, sagte La Vieuville.
– Ein monarchischer Brutus, setzte Boisberthelot hinzu.
– Unerträglich bleibt es aber trotz alledem doch, unter dem Kommando eines Coquereau zu stehen, eines Jean-Jean, Moulins, Focart, Bouju oder Chouppes!
– Lieber Chevalier, drüben beim Feind ärgern sie sich genau so. Wir stecken voll geringer Leute und sie voll Adel. Oder meinen Sie, daß die Sansculotten ein Wohlgefallen finden an Bürgergeneralen wie dem Grafen von Canclaux, dem Vicomte von Miranda, dem Vicomte von Beauharnais, dem Grafen von Valence, dem Marquis von Custine, dem Herzog von Biron?
– Und dem Grafen von Chartres nun gar!
– Dem Sohn von Egalité? Apropos, wann wird denn der Vater wohl einmal König?
– Niemals.
– Er rückt dem Throne näher. Seine Verbrechen kommen ihm zu Statten.
– Aber seine Laster gestatten ihm nicht, zu kommen, sagte Boisberthelot. Und nach einer Pause setzte er wieder hinzu:
– Und doch hatte er eine Aussöhnung angestrebt. Er hatte den König besucht. Ich war dabei, in Versailles, wie ihm auf den Rücken gespuckt wurde.
– Von der großen Treppe herab?
– Ja.
– Geschah ihm ganz recht.
– Unter uns nannten wir ihn Philipp, »das liebe Vieh«.Im Französischen Bourbon le Bourbeux, was unter Beibehaltung des Wortspieles im Deutschen nicht wiederzugeben ist.
– Eine Glatze, ein Gesicht voller Beulen, ein Königsmörder – ekelhaft! Und La Vieuville setzte noch hinzu:
– Ich war bei Quessant mit ihm zusammen.
– Auf dem »Saint-Esprit?«
– Ja.
– Wäre er dem Signal gefolgt, das ihm befahl, unter dem Wind des Admiralsschiffs von d'Orvillers zu bleiben, so hätte er die Engländer am Durchbrechen verhindert.
– Gewiß.
– Hat er sich damals wirklich bis zum Kiel hinab verkrochen?
– Das nicht. Aber behaupten muß man es doch, sagte La Vieuville und brach in Lachen aus.
– Dummköpfe giebt's einmal, ergänzte Boisberthelot. Nehmen Sie nur zum Beispiel jenen Boulainvilliers, den Sie soeben erwähnt: ich hab ihn gekannt, hab ihn wirthschaften sehen. Zu Anfang waren die Bauern mit Piken bewaffnet; hatte sich der Mensch wahrhaftig in den Kopf gesetzt, sie auf die Pike abzurichten! Er ließ ihnen Handgriffe einüben: Pike schräg! oder: Schleift die Pike, Spitze herab! Liniensoldaten aus diesen Wilden zu machen, war seine Marotte. Er glaubte, ihnen beibringen zu können, wie man Carrés mit vorgeschobenen Schützen oder hohle Vierecke formirt. Dabei radebrechte er die Kommandosprache von Olims Zeiten, und nannte den Feldwebel noch Rottmeister wie unter Ludwig XIV. Er war förmlich darauf versessen, all die Wilderer zu einem Regiment zusammenzuschweißen; er hatte regelrechte Kompagnien organisirt, deren Sergeanten jeden Abend einen Kreis um ihn bilden mußten, um die Parole und Gegenparole vom Leibkompagnie-Sergeanten des Obersten zu empfangen, der sie dem Leibkompagnie-Sergeanten des Majors zuflüsterte, welcher sie wiederum seinem nächsten Nachbar übermittelte und so von Ohr zu Ohr bis herab zum letzten Mann. Einmal sogar kassirte er einen Offizier, der sich mit bedecktem Haupte erhoben hatte, als ihm der Sergeant die Parole geben sollte. Wie das anschlug, können Sie sich schon vorstellen. Dem Strohkopf ging nicht ein, daß Rüpel rüpelhaft geführt sein wollen, und daß sich aus Waldmenschen keine Kasernenmenschen machen lassen. Ich hab ihn wirthschaften sehen, diesen Boulainvilliers.
Sie thaten ein paar Schritte, Jeder mit eigenen Gedanken beschäftigt. Dann wurde das Gespräch wieder aufgenommen:
– Apropos, bestätigt sich's auch, daß Dampierre gefallen ist?
– Ja wohl, Kapitän.
– Vor Condé?
– Im Lager von Pamars. Eine Kanonenkugel.
Boisbertheloi seufzte.
– Der Graf von Dampierre! Auch Einer von den Unsern, der zu den ihren zählte.
– Er reise glücklich!« sagte La Vieuville.
– Und Mesdames? wo sind die?
– In Triest.
– Immer noch?
– Immer. Und La Vieuville setzte heftig hinzu:
– O über diese Republik! So viel Verwüstungen um einer Bagatelle willen! Wenn man bedenkt, daß diese Revolution aus einem Defizit von ein paar Millionen herausgewachsen ist! . . .
– Kleine Ausgangspunkte niemals unterschätzen, bemerkte Boisberthelot.
– Uns geht doch Alles schief, fuhr La Vieuville fort.
– Leider: La Rouarie ist todt und Du Dresnay versimpelt. Sind das traurige Parteihäupter, diese Bischöfe sammt und sonders, dieser Coucy von La Rochelle und dieser Beaupoil Saint-Aulaire von Poitiers und dieser Mercy von Luçon mit seiner verliebten Frau von l'Eschasserie . . . . .
– Welche eigentlich Servanteau heißt, denn Sie werden ja wissen, Kapitän, daß l'Eschasserie ein Gutsname ist.
– Und dieser falsche Bischof von Agra, der nebenbei Pfarrer ist von Dingsda!
– Von Dol! Er heißt Guillot von Folleville. Hat übrigens Kourage, denn er schlägt sich.
– Priester, wenn wir Soldaten brauchen! Bischöfe, die keine Bischöfe, und Generale, die keine Generale sind! . . .
– Nicht wahr, Kapitän, unterbrach La Vieuville, Sie haben doch den »Moniteur« in Ihrer Kajüte?
– Allerdings.
– Was wird denn gegenwärtig in Paris gespielt?
– »Paul und Adele« und »die Höhle«.
– Ins Theater möcht ich wieder einmal.
– Sie werden nicht lang mehr darauf warten, denn in einem Monat sind wir in Paris. Und nachdem er einen Augenblick nachgerechnet, fügte Boisberthelot hinzu:
– Allerspätestens. Lord Hood weiß es von Herrn Windham.
– Aber wenn dem so ist, Kapitän, gehen die Dinge gar so schief nicht.
– Am Schnürchen würden sie gehen, nur muß der Krieg in der Bretagne ordentlich geführt werden.
La Vieuville schüttelte den Kopf und fragte dann:
– Kapitän, wird unsere Marine-Infanterie ausgeschifft?
– Wenn es die Beschaffenheit der Küste zuläßt, ja, wonicht, nein. Der Krieg muß je nach Umständen in ein Ding hineinhageln oder hineinschleichen, zumal der Bürgerkrieg, der immer einen Nachschlüssel in der Tasche haben soll. Was geschehen kann, wird geschehen. Die Hauptsache ist und bleibt aber der Chef. Und halb in Gedanken that Boisberthelot die Frage:
– La Veuville, was halten Sie von dem Chevalier von Dieuzie?
– Dem Jungen?
– Ja.
– Als Kommandeur?
– Ja.
– Wieder nur ein Taktiker fürs Flachland. Mit dem Busch wird nur der Bauer fertig.
– Dann bleibt Ihnen auch nichts Anderes übrig, als den General Stofflet und den General Cathelineau in Geduld hinzunehmen.
La Vieuville stand eine Minute nachdenklich; dann sagte er:
– Ein Prinz müßte kommen, ein französischer Prinz, ein Prinz von Geblüt, ein echter Prinz.
– Sie meinen? Durchgebrannte Prinzen . . .
– Fürchten das Feuer – ich weiß schon, Kapitän; man muß aber den aufgerissenen Ochsenaugen der Bauernburschen etwas zu verschlingen geben.
– Lieber Chevalier, unsere Prinzen werden fernbleiben.
– Wir werden uns drein ergeben.
Boisberthelot fuhr sich mit einer mechanischen Geberde über die Stirn, als wolle er einen Gedanken herauspressen, und sagte schließlich:
– Nun versuchen wir's vorläufig mit diesem General.
– Er hat wenigstens einen Namen.
– Glauben Sie, daß er ansprechen wird?
– Wenn er nur nicht ohne ist! antwortete Vieuville.
– Das heißt, entsetzlich, sagte Boisberthelot.
Der Graf und der Chevalier schauten einander an.
– Sie haben den richtigen Ausdruck gefunden, Herr du Boisberthelot: entsetzlich. Das ist es, was Noth thut. In dem Krieg auf's Messer, der gegenwärtig ausgekämpft wird, ist die Blutgier das Zeitgemäße. Die Königsmörder haben Ludwig XVI. das Haupt abgeschlagen; wir wollen dafür den Königsmördern die Glieder vom Leib reißen. Ja, unser General muß die generalgewordene Unerbittlichkeit sein. In Anjou und im oberen Poitou, wo die Führer sich auf die Großmüthigen hinausspielen, wird mit der Stange in der Barmherzigkeit herumgefahren: nichts kommt vom Fleck; im Marais und in der Gegend von Retz ist man entsetzlich: da steckt Alles. Blos weil Charette entsetzlich ist, behauptet er gegen Parrain das Feld. Hyäne wider Hyäne.
Boisberthelot mußte die Antwort schuldig bleiben, denn ein Verzweiflungsschrei schnitt La Vieuville plötzlich die Rede ab, und gleichzeitig erdröhnte etwas, das nichts sonst Gehörtem gleichkam. Beides, der Schrei und dieses Etwas aus den untern Schiffsräumen.
Kapitän und Lieutenant stürzten zum Zwischendeck, vermochten jedoch nicht, in dasselbe einzudringen. Alle Artilleristen stürmten ihnen fassungslos entgegen.
Ein furchtbares Ereigniß hatte stattgefunden.
Ein Geschütz der Batterie, ein Vierundzwanzigpfünder, war losgerissen.
Im ganzen Seeleben giebt es vielleicht keinen gleich schrecklichen Moment. Es ist dies das Furchtbarste, was einem Kriegsschiff auf offener See begegnen kann. Ein Geschütz, das seine Bande entzweibricht, verwandelt sich urplötzlich wie in ein übernatürliches Wesen. Die Maschine ist zum Ungeheuer geworden, und diese Masse rollt nun mit den Sprüngen einer Billardkugel auf ihren Rädern umher, seitwärts, wenn das Schiff der Breite nach, vorwärts, wenn es der Länge nach bewegt wird; sie kommt und geht, steht still, als sänne sie über etwas nach, rast dann von Neuem wieder auf und davon, wie ein Pfeil von einem Ende des Fahrzeugs zum andern fliegend: das schlägt Pirouetten und entwischt, schnellt hin und bäumt sich, stößt, schmettert, mordet, vernichtet. Es gleicht einem Sturmbock, der nach Willkür eine Mauer berennt; dabei ist der Sturmbock von Erz und die Mauer von Holz. Es ist, als ob sich die Materie, dieser ewige Sklave, befreit hätte, um Rache zu nehmen, als löse die Bosheit der sogenannten leblosen Dinge sich los und breche plötzlich vor, die Geduld abschüttelnd, dumpf räthselhaft antobend gegen Alles; es giebt nichts Unwiderstehlicheres als solch Wüthen der willenlosen Masse. Der tollgewordene Metallblock vereinigt die Sprungkraft des Panthers mit der Schwerfälligkeit des Elephanten, der Behendigkeit der Maus, der Ausdauer der Axt, der Unberechenbarkeit der Windsbraut, dem Zickzack des Blitzes, der Taubheit der Gruft; er wiegt zehntausend Pfund und hüpft hin und wieder wie der Spielball eines Kindes, in sinnverwirrendem Wechsel zwischen schwindelnden Kreisen und geradwinkligem Abspringen. Und was vermag da der Mensch? Was soll er beginnen? Ein Sturm legt sich, ein Wirbelwind saust vorüber, ein Orkan erlahmt, ein geborstener Mast läßt sich ersetzen, ein Leck verstopfen, eine Feuersbrunst löschen. Wie aber soll man vor dieser kolossalen erzenen Bestie bestehen? wo sie anfassen? Einem Köter kann man zureden, einen Stier stutzig machen, eine Schlange einschläfern, einen Tiger fortschrecken, einen Löwen zähmen; diesem Ungeheuer, dem losgebrochenen Geschütz gegenüber vermag man nichts: man kann es nicht tödten: es ist leblos, und dennoch hat es eine Existenz, eine grausige, von Naturkräften ihm verliehene Existenz: Das Schiff, dessen Fußboden es schaukelt, wird von den Wellen und diese werden von dem Wind in Bewegung erhalten; die Vertilgungsmaschine ist ihr Spielzeug; Schiff, Wellen, Windstöße, Alles greift in einander und haucht ihr eine elementarische Seele ein. Wie ist diesem Causalsystem beizukommen? Wie diesem übermenschlichen Räderwerk des Schiffbruchs Halt zu gebieten? und wie läßt es sich berechnen, dieses abwechselnde Kommen und Gehen, Wiederkehren, Stehenbleiben und Anprallen? Jeder einzelne Stoß gegen die Verkleidung des Fahrzeugs kann sie entzweisprengen. Wie die Ursachen dieses mäandrischen Herumtobens ergründen? Man hat es mit einem Geschoß zu thun, das sich fortwährend eines Bessern zu besinnen, die vermuthete Richtung zu ändern, räthselhafte Absichten zu haben scheint. Kann man etwas aufhalten, dem man ausweichen muß? Die fürchterliche Kanone tummelt sich, stürmt voran, zurück, schlägt nach allen Seiten aus, entwischt, braust vorbei, spottet aller Voraussicht, rennt jedes Hinderniß über den Haufen, zermalmt die Menschen, als wären es Fliegen. Die ganze Entsetzlichkeit der Situation liegt in der Beweglichkeit des Fußbodens: wie läßt sich ankämpfen gegen eine schiefe Fläche, deren Launen ewig wechseln? So ein Fahrzeug trägt gewissermaßen einen Blitz zwischen den Lenden, der aus dem Kerker hinausstrebt, etwas wie ein Donnerschlag, der über einem Erdbeben dahin rollt.
In einer Sekunde war die ganze Mannschaft auf den Beinen. Verschuldet hatte Alles der Stückmeister, der die Schraubenmutter der Kette nicht genug geschlossen und die vier Räder des Geschützes mangelhaft befestigt hatte, wodurch die Schwelle und die Einfassung gelockert, die zwei Scheiben aus dem richtigen Verhältniß gebracht und schließlich die Anhalttaue verschoben worden waren; so ging denn das Stückwerk auseinander, und die Laffette war gelockert. Feste Anhalttaue, die den Rückstoß verhindern, wurden zu jener Zeit noch nicht gebraucht. Als nun eine starke Welle gegen die Stückpforte anprallte, wurde die nachlässig befestigte Kanone zurückgetrieben, die Kette riß, und das verhangnißvolle Rasen durch das Zwischendeck nahm seinen Lauf.
Um sich dieses ungeheuerliche Hingleiten deutlich zu machen, braucht man blos an das Herabrinnen des Tropfens längs einer Fensterscheibe zu denken.
Im Augenblick, wo die Kette riß, waren die Artilleristen im Zwischendeck zugegen, einzeln oder in Gruppen, mit den Vorbereitungen beschäftigt, welche Seeleute für den Fall eines Angriffs zu treffen pflegen. Durch eine Senkung des Schiffes nach vorn ins Rollen gebracht, bohrte die Kanone sich durch all diese Leute hindurch und zermalmte mit einem Ruck vier Mann, dann schnitt sie, durch eine Seitenbewegung des Fahrzeugs aus der Bahn geschleudert, einen fünften Unglücklichen mitten entzwei und rannte gegen Backbord auf ein Geschütz, das sofort von der Laffette stürzte. In diesem Augenblick war der oben vernommene Verzweiflungsschrei ertönt. Alle Artilleristen stürmten die Leitertreppe hinauf, und im Handumdrehen stand das Zwischendeck leer.
Das kolossale Geschütz blieb sich selber überlassen, sein eigener Herr und Herr über das ganze Schiff, das nun seinem Wüthen preisgegeben war. Die Matrosen, lauter Leute, die im Kampfgewühl nur ein Lachen hatten, jetzt standen sie zitternd da, in unbeschreiblichem Entsetzen.
Boisberthelot und La Neuville, sonst die Unerschrockenheit selber, starrten noch immer wortlos, farblos, rathlos vom Treppenrand hinab, als sie sich plötzlich bei Seite geschoben fühlten durch Jemand, der auch sofort ins Zwischendeck hinunterstieg.
Es war ihr Passagier, der »Bauer«, von dem sie eben zuvor gesprochen hatten.
Auf der untersten Sprosse der Leitertreppe stand dieser Mann stille.
Wie der leibhaftige Wagen aus der Apokalypse fuhr die Kanone im Zwischendeck ab und zu, und der zitternde Schein der Laterne, die unter dem Vordersteven der Batterie hing, umwob die ganze Erscheinung mit einem zwischen Licht und Schatten schwindelnd hin- und herwogenden Flimmer. Die Umrisse des Geschützes verschwanden in der Schnelligkeit seiner Flucht; bald huschte es schwarz durch die Helle, bald schimmerte es weißlich durch das Dunkel. Es führte sein Vertilgungswerk immer weiter: vier andere Kanonen hatte es bereits zertrümmert und in die Schiffswand zwei Lücken gebrochen, glücklicherweise über der Wasserlinie, aber doch so, daß bei stärkeren Windstößen die Wellen hineinschlagen mußten. Tollwüthend stürmte es gegen das Fugenwerk an; zwar leisteten die sehr starken Spanten noch Widerstand, denn das Krummholz besitzt eine eigenthümliche Festigkeit; aber man hörte sie unter dieser ungeheuren Keule krachen, die in unfaßlicher Allgegenwart von jeder Seite zugleich auf sie einhieb. Das Schrot, wenn man es in einer Flasche hin und herschüttelt, schlägt nicht toller und unmittelbarer um sich. Immer wieder rasten die vier Räder über die Todten weg und zerschnitten, zerlegten, zerrissen die fünf Leichen in zwanzig herumgeschleuderte Fetzen; die Köpfe schienen noch aufzuschreien, und auf dem Boden folgte ein rieselnder Blutstrom den Schwankungen des Schiffes. Die mehrfach beschädigte Schiffsverkleidung ging bereits auseinander. Und bei alledem fortwährend der dämonische Lärm.
Der Kapitän, der seine Fassung bald wiedergewonnen hatte, ließ durch die Luke Alles ins Zwischendeck hinabwerfen, was den wilden Lauf der Kanone irgendwie hemmen konnte, die Matratzen, die Hängematten, die Segel- und Tauvorräthe, die Säcke der Mannschaft und die Ballen falscher Assignatscheine,Assignaten waren die von der revolutionären Regierung herausgegebenen Banknoten, die massenhaft im Ausland, namentlich in England, nachgemacht und von den Feinden der Republik, besonders den entflohenen Adligen, nach Frankreich geschmuggelt wurden, um die Assignaten zu entwerthen und dadurch den Kredit der Republik zu schädigen. von denen eine ganze Ladung an Bord war, denn diese Niederträchtigkeit hielt man englischerseits für kriegsrechtlich erlaubt. Aber was nützte das Alles, da sich Niemand hinuntertraute, um es so zu ordnen, daß ein Vortheil daraus hätte erwachsen können? Wenige Minuten und das Ganze beinah war zu Charpie zerfetzt.
Die See ging gerade hoch genug, um dem Unheil möglichst Vorschub zu leisten. Ein Sturm wäre noch wünschenswerther gewesen, denn er hätte die Kanone vielleicht umgeworfen, und sobald sie nur einmal nicht mehr auf den Rädern lief, konnte man ihr beikommen. Unterdessen wurden die Verheerungen immer bedrohlicher. Schon waren die Masten, welche, im Balkenwerk des Kiels wurzelnd, durch alle Etagen der Fahrzeuge wie große runde Pfeiler emporragen, stellenweise gesplittert und sogar geborsten. Der Fockmast hatte unter den konvulsivischen Stößen des Geschützes einen Riß bekommen, und selbst der Mittelmast war beschädigt. Die Batterie ging in die Brüche; von dreißig Geschützen waren zehn bereits kampfunfähig. Die Lücken in der Schiffsverkleidung mehrten sich, und das Wasser begann schon einzudringen.
Der alte Passagier unten an der Treppe des Zwischendecks schien zu Stein erstarrt. Regungslos und mit strengem Blick schaute er der Verwüstung zu. Ein Schritt vorwärts schien ein Ding der Unmöglichkeit. Jede Bewegung der entfesselten Kanone rückte den Untergang näher. In kürzester Frist konnte der Schiffbruch nicht mehr abgewendet werden. Sterben oder dem Unheil Halt gebieten, zu etwas mußte man sich aufraffen, aber zu was? Und welch ein ungleicher Kampf! Galt es doch, diesen entsetzlichen, wahnsinnigen Block festzuhalten, mit einem Blitze zu raufen, einen Donnerschlag niederzudonnern.
– Chevalier, fragte Boisberthelot, glauben Sie an Gott?
– Ja, heißt das nein, oder zuweilen doch.
– Beim Sturm?
– Ja, und in Augenblicken wie jetzt.
– Uns kann in der That auch nur Gott weiter helfen, sagte Boisberthelot.
Alles schwieg, nur der höllische Lärm der Kanone nicht, und von außen antwortete die andringende Fluth den Schlägen des Geschützes mit den Schlägen ihrer Wellen; es war, als ob zwei Hämmer einander wechselseitig ablösten.
Plötzlich erschien in dem unzugänglichen Raum, wo die ausgerissene Kanone wie in einem Cirkus umhertollte, ein Mann mit einer Eisenstange. Es war der Urheber der Katastrophe, jener Stückmeister, dessen Fahrlässigkeit Alles verschuldet hatte, und der nun, da er den Schaden angerichtet hatte, ihn auch wieder gut machen wollte. Er hatte mit der einen Hand nach einer Nothspake, mit der anderen nach einem geschlungenen Tau gegriffen und war so durch die Luke ins Zwischendeck gesprungen.
Und nun begann ein titanisches Schauspiel: das Ringen der Kanone mit dem Kanonier; eine Schlacht zwischen Materie und Intelligenz, ein Zweikampf zwischen Mensch und Sache.
Der Mann hatte in einer Ecke Posto gefaßt und wartete, Stange und Tau krampfhaft festhaltend, mit der ganzen Spannkraft seiner Muskeln wie auf zwei ehernen Säulen wider eine Spante gestemmt und im Boden wurzelnd, todtenbleich, in tragischer Ruhe.
Er wartete auf den Moment, wo das Geschütz an ihm vorbeirollen würde.
Der Kanonier war mit seiner Kanone vertraut, und ihn dünkte, auch sie müsse ihn kennen. Hatte er doch schon lange Zeit mit ihr zusammen gelebt und – wie so oft – seinem dienstbaren Ungeheuer die Hand in den Rachen gesteckt. Jetzt redete er sie an, wie der Herr seinen Hund:
– Komm her!
Vielleicht war sie ihm lieb geworden. Er schien es zu wünschen, daß sie auf ihn zukommen möge. Aber auf ihn zukommen, hieß so viel, wie über ihn kommen, und dann war er ja verloren; wie konnte er der Zermalmung entgehen? Das war die Frage, und Alle starrten entsetzt auf ihn herab. In jeder Brust stockte der Athem, nur vielleicht in der des Greises nicht, der als finsterer Zeuge bei den zwei Fechtern im Zwischendeck stand. Auch ihn konnte die Kanone zerschmettern. Er rührte sich nicht, und unter den Füßen Aller lenkten die blinden Wellen die Schlacht.
Im Augenblick, wo der Artillerist seine Kanone zum Zweikampf Brust an Brust herausforderte, fügten es die Schwankungen der Fluth zufällig so, daß das Geschütz auf einen Moment wie vor Staunen innehielt:
– So komm doch! sagte der Mann.
Es war, als ob ihn das Ding verstünde. Plötzlich sprang es auf ihn zu. Der Mann wich aus, und die unerhörte Schlacht begann: das Zerbrechliche rang mit dem Unverwundbaren, der Thierbändiger von Fleisch und Bein griff die erzene Bestie an, die Seele eine Kraft. Das Alles ging in einem Helldunkel vor sich gleich einem verschwimmenden übernatürlichen Gesicht. Eine Seele! seltsam; es war, als ob auch die Kanone eine hätte, aber eine Seele von lauter Haß und Wuth. Dies blinde Ungeheuer schien Augen zu haben und dem Menschen aufzulauern. Es steckte, wenigstens hätte man es fast glauben mögen, etwas Hinterlistiges in diesem Klumpen. Auch er wartete den günstigen Zeitpunkt ab. Man hätte ihn für ein Rieseninsekt aus Eisen mit oder scheinbar mit der Willenskraft eines Dämons halten können. Stellenweise sprang er, eine kolossale Heuschrecke, bis zur niedrigen Decke der Batterie empor, fiel dann wie der Tiger auf seine Klauen, auf seine vier Räder zurück und machte wieder Jagd auf den Menschen. Dieser, geschmeidig, behend, gewandt, glitt gleich einer Schlange zwischen den züngelnden Blitzen einher. Alle Stöße aber, denen er so flink zu entschlüpfen verstand, trafen das Schiff und setzten die Zerstörung fort.
An der Kanone war ein Stück von der zerrissenen Kette zurückgeblieben und hatte sich, wer kann sagen wie? um die Schraube hinten am Knauf geschlungen, so daß eines der Enden an der Laffete hing, während das andere, freie, in wilden Kreisen um das Geschütz herumflog, zehnmal beweglicher noch als das Geschütz selber. Die Schraube hielt es wie mit geschlossener Hand fest und nun schlug diese Kette, mit zehn Geißelhieben für jeden Hieb des Sturmbocks, in gräßlichem Wirbel um sich, eine eiserne Peitsche in eherner Faust. Dadurch war der Kampf noch schwieriger geworden. Und dennoch kämpfte der Mensch weiter. Hier und da war sogar er der Verfolger. Er schlich mit seiner Stange und seinem Tau längs der Schiffsverkleidung hin, und die Kanone, die ihn zu verstehen und eine Ueberlistung zu befürchten schien, entfloh, hinterher der gewaltige Jäger.
Dergleichen Dinge können nicht von Dauer sein. Auf einmal, als ob sie zu sich selber gesagt hätte: Nein, jetzt muß es ein Ende nehmen! blieb die Kanone stehen. Man fühlte, daß die Entscheidung herannahte. Hinter dieser scheinbaren Unentschlossenheit schien oder war – denn Allen galt das Geschütz für beseelt – ein gräßlicher Vorsatz verborgen. Plötzlich stürzte es auf den Artilleristen los. Dieser sprang bei Seite und rief ihm ein lachendes »da capo!« nach. Wie um sich zu rächen, rannte das Ungeheuer eine Backbordkanone um und fuhr dann, von der unsichtbaren Schleuder, der es als Stein diente, wieder fortgeschnellt, nach Steuerbord, wo es anstatt des abermals ausweichenden Mannes drei Kanonen niederriß. Dann, wie blind und seiner selbst nicht mehr bewußt, wandte es dem Mann den Rücken, durchmaß die ganze Länge der Batterie, beschädigte die Steven und schlug eine Lücke in die Vorderwand. Der Mann hatte sich neben die Treppe geflüchtet, nicht weit von dem zuschauenden Greis, und hielt seine Nothspake bereit. Das schien die Kanone zu merken, und ohne sich die Mühe des Umwendens zu geben, flog sie rücklings mit der Schnelligkeit eines Axthiebs auf den Mann zu, der, eingekeilt in seinen Winkel, verloren war. Die ganze Mannschaft that einen Schrei. Aber der bisher so unbewegliche alte Passagier, rascher als jene gräßlich verkörperte Raschheit selbst, hatte vorstürzend und auf die Gefahr hin, zermalmt zu werden, einen übergebliebenen Ballen falscher Assignate erfaßt und vor die Räder der Kanone geschleudert. Diese entscheidende, halsbrecherische That mit mehr Sicherheit und Genauigkeit auszuführen, wäre selbst einem Solchen nicht gelungen, der mit allen im Buche von Dunosel über »das Exerzieren mit Marinegeschützen« beschriebenen Kunstgriffen vertraut gewesen wäre.
Der Ballen war von durchschlagender Wirkung, wie oft auch ein Kiesel einen Felsblock festhalten oder ein Baumzweig einer Lawine eine andere Richtung geben kann. Die Kanone strauchelte. Der Artillerist seinerseits wußte sofort diesen ungeheuren Vortheil auszubeuten und stemmte seine Eisenstange einem der Hinterräder zwischen die Speichen. Das Geschütz stand still; dann neigte es sich etwas seitwärts. Der Mann benutzte die Stange so lang als Hebel, bis er es ins Schwanken brachte, und endlich, als die schwere Masse mit dem Gedröhne einer herunterfallenden Glocke niedergesunken war, stürzte er blindlings, von Schweiß strömend darüber her, um dem zu Boden geworfenen Scheusal die Schlinge seines Taues um den Hals von Erz zu legen. Es war vorüber. Der Mensch hatte gesiegt, die Ameise gegen den Mastodonten Recht behalten, ein Zwerg den Donner zu seinem Gefangenen gemacht.
Die Soldaten und Seeleute klatschten Beifall. Mit Tauen und Ketten eilte die ganze Schiffsmannschaft herbei, und um ein Handumdrehen stand die Kanone wieder an Ort und Stelle.
Der Artillerist sagte salutirend zum Passagier:
– Mein Herr, Ihnen verdanke ich das Leben.
Der Greis aber hatte seine theilnahmslose Haltung wieder angenommen und antwortete mit keiner Silbe.
Wohl hatte der Mensch gesiegt, aber dasselbe ließ sich auch von der Kanone behaupten, denn die Gefahr eines unmittelbaren Schiffbruchs war zwar geschwunden, aber die Korvette damit keineswegs gerettet. Die Wirkungen des Unfalls zu beseitigen, schien ein Ding der Unmöglichkeit: An der Schiffsverkleidung zählte man bis zu fünf Lücken, wovon eine sehr beträchtliche beim Bugspriet; zwanzig Kanonen auf dreißig lagen darnieder. Auch das eingefangene, wieder an Ort und Stelle gebrachte Geschütz versagte den Dienst, weil die Knaufschraube verdreht war und man es in Folge dessen nicht mehr hätte richten können. Die Batterie war auf neun Stück zusammengeschmolzen. Ein Leck machte sofortige Abhülfe durch die Pumpen nothwendig. Das Zwischendeck bot jetzt, da man es betreten durfte, einen gräßlichen Anblick. Das Innere eines Käfigs, in dem ein Elephant gewüthet, weist keine größere Verwüstung auf.
Wie viel der Korvette auch daran liegen mußte, nicht erblickt zu werden, so lag die gebieterische Nothwendigkeit der unmittelbaren Rettung doch ungleich näher, und man sah sich gezwungen, zur Beleuchtung des Verdecks an den Brüstungen einige Laternen anzubringen.
Während der ganzen Dauer dieses tragischen Zwischenfalls, wobei die Lebensfrage alles Denken in Anspruch nahm, hatte man sich um die Außenverhältnisse blutwenig gekümmert. Indessen hatte sich der Nebel verdichtet und die Witterung verändert; der Wind war mit dem Schiffe ganz nach Gutdünken umgegangen; die Route war nicht eingehalten worden, und man befand sich nun, von Jersey und Guernesey nicht mehr gedeckt, weiter südlich, als beabsichtigt war. Die See ging höher; mächtige Wellen leckten mit gefahrverkündenden Zungen an den offenen Wunden der Korvette. Das Meer wurde bedrohlich; die Brise artete in Windsbraut aus; es war ein Unwetter, vielleicht auch ein Sturm im Anzug. Ueber die vierte Woge hinaus konnte man nichts mehr unterscheiden.
Während die Seeleute die Beschädigungen im Zwischendeck, soweit dies vorläufig in aller Eile möglich war, ausbesserten, die Lücken beseitigten und die verschont gebliebenen Geschütze wieder in Stand setzten, war der alte Passagier wieder auf das Verdeck gestiegen und lehnte am Mittelmast.
Ihm war eine Bewegung, die in der Nähe stattgefunden, ganz entgangen; der Chevalier von La Vieuville hatte nämlich auf beiden Seiten des Mittelmastes die Marinetruppen in Schlachtordnung aufstellen und die in der Takelage beschäftigten Matrosen durch einen grellen Pfiff auf die Raaen kommandiren lassen. Nun trat Graf du Boisberthelot zu dem Passagier hin; hinter ihm her schritt ein Mann in beschmutzten Kleidern, verstört, athemlos, und doch mit einem Ausdruck der Zufriedenheit auf dem Gesicht; es war der Artillerist, der sich zu so gelegener Zeit als Thierbändiger ausgezeichnet und die Kanone bemeistert hatte.
Der Graf salutirte vor dem »Bauern« und sagte:
– Herr General, hier wäre der Mann.
Der Artillerist blieb aufrecht, mit gesenktem Blick in vorschriftsmäßiger Positur stehen.
– Herr General, setzte Graf du Boisberthelot hinzu, sind Sie nicht der Meinung, in Anbetracht dessen, was der Mann soeben geleistet, könnten seine Vorgesetzten schon etwas für ihn thun?
– Der Meinung bin ich.
– Wollen Sie demnach befehlen, antwortete Boisberthelot.
– Befehlen Sie; Sie sind der Kapitän.
– Sie aber der General, antwortete Boisberthelot. Der Greis betrachtete den Mann; dann sprach er:
– Tritt näher.
Hierauf that der Artillerist einen Schritt vorwärts. Der Greis wendete sich gegen den Grafen du Boisberthelot, nahm das Ludwigskreuz von dessen Brust und heftete es an den Kittel des Kanoniers.
– Hurrah! riefen die Matrosen. Die Marinesoldaten präsentirten das Gewehr. Der Passagier aber fügte, auf den von seinem Glück geblendeten Artilleristen deutend hinzu:
– So, nun führe man ihn zum Tode!
Der Jubel war zur Bestürzung erstarrt. Und mitten in einer Grabesstille erhob der Greis die Stimme und sprach:
– Dieses Schiff ist durch Fahrlässigkeit dem Verderben ausgesetzt worden. Zur Stunde ist es vielleicht verloren. An Bord sein, heißt so viel wie vor dem Feind stehen. Ein Schiff auf hoher See ist ein Heer im Gefecht; der Sturm verbirgt sich zwar, aber er verschwindet nicht; das ganze Meer ist ein einziger Hinterhalt. Pulver und Blei für jedes Vergehen im Feld! Ein Vergehen läßt sich nie wieder gut machen. Der Muth muß belohnt, der Leichtsinn bestraft werden.
Diese Reden fielen in gleichmäßigen Zwischenräumen, langsam, feierlich, so zu sagen im Takte der Unerbittlichkeit, wie Axthiebe gegen einen Baum. Und der Greis, mit einem Blick auf die Soldaten, befahl:
– Sofort!
Der Mann, an dessen Brust das Ludwigskreuz erglänzte, senkte das Haupt.
Auf ein Zeichen des Grafen du Boisberthelot stiegen zwei Matrosen ins Zwischendeck hinunter und kamen mit einem Leichentuch zurück. Der Schiffsgeistliche, welcher, seitdem in See gestochen worden war, in der Offizierskajüte im Gebet lag, begleitete sie. Ein Sergeant ließ zwölf Mann vor die Front treten, die er je sechs in zwei Reihen aufstellte. Ohne einen Laut von sich zu geben, trat der Kanonier in die Mitte. Der Priester, mit einem Kruzifix in der Hand, verfügte sich an seine Seite.
– Vorwärts Marsch! kommandirte der Sergeant, und der Zug bewegte sich langsam nach dem Vordertheil des Schiffes: die beiden Matrosen mit dem Leichentuch folgten. Auf der Korvette herrschte düsteres Schweigen; fern her grollte ein Wetter.
Einige Minuten darauf hallte eine Gewehrsalve einem Blitz folgend hinaus in die Nacht; dann wurde es wieder still, und man vernahm das Geräusch, welches ein schwerer Gegenstand verursacht, der ins Wasser geworfen wird.
Der alte Passagier lehnte noch immer an dem Mittelmast: er hatte die Arme übereinandergeschlagen und sann über etwas nach. Boisberthelot aber flüsterte, mit dem Zeigefinger hinweisend, dem Chevalier die Worte zu:
– Jetzt hat die Vendée einen Kopf.
Was sollte die Korvette ferner noch für Schicksale erleben?
Die Wolken, die im Lauf dieser Nacht den Wellen fortwährend näher gerückt waren, hatten sich schließlich so tief gelegt, daß es keinen Horizont mehr gab und die ganze Meeresfläche wie mit einem Mantel zugedeckt war. Nebel und nichts als Nebel – unter allen Umständen eine Gefahr, selbst für ein unbeschädigtes Fahrzeug. Und zu dem Nebel gesellte sich noch eine hohle See!
Die Zeit war nicht unbenutzt verstrichen. Man hatte den Tiefgang der Korvette dadurch vermindert, daß man Alles hinauswarf, was von den Verwüstungen der Korvette hatte weggeräumt werden können, die unbrauchbaren Geschütze, die zerschlagenen Laffetten, das verbogene oder losgebrochene Fugenwerk, die zertrümmerten Holz- und Eisentheile; man hatte die Stückpfosten geöffnet und die Leichen nebst den zusammengelesenen Gliedmaßen im Segeltuch eingewickelt über ein Brett ins Meer hinuntergleiten lassen.
Mit der See war beinah nicht mehr auszukommen, nicht etwa weil der Sturm in allernächster Zeit loszubrechen drohte – im Gegentheil, der Orkan, den man in der Ferne toben hörte, schien eher nachzulassen und das Unwetter sich gegen Norden verziehen zu wollen; aber der immer noch sehr hohe Wellenschlag wies auf schlechten Grund hin und die starke Brandung konnte der Korvette, die, krank wie sie war, den Erschütterungen nur einen mangelhaften Widerstand entgegenzusetzen vermochte, verhängnißvoll werden.
Gacquoil stand am Steuerrad, vor sich hinbrütend.
Zum bösen Spiel gute Miene machen, ist bei Seeoffizieren Brauch; darum redete La Vieuville, der für Nothlagen ein lustiges Naturell bei der Hand hatte, Meister Gacquoil an:
– Nun, Lootse, da verpufft ja der Sturm. Den Himmel kitzelt's, aber zum Niesen bringt er's nicht. Werden mit einem blauen Auge davonkommen. Wind wird's eben geben, weiter nichts.
Gacquoil antwortete ernsthaft:
– Wer den Wind hat, hat auch die Fluth.
Weder lustig noch traurig, so hält's der echte Seemann. Die Antwort bedeutete indessen nichts Gutes.
Fluth haben heißt bei einem lecken Schiff so viel wie schnell trinken. Deshalb hatte Gacquoil seinen Ausspruch mit einem leisen Stirnrunzeln gewissermaßen unterstrichen. Vielleicht auch mochten La Vieuville's scherzhafte, ans Leichtfertige grenzenden Worte zu bald auf die Katastrophe mit der Kanone und dem Kanonier erfolgt sein. Es giebt Dinge, die kein Glück bringen auf hoher See. Das Meer hat seine Geheimnisse; man weiß nie, wie man eigentlich mit ihm daran ist; darum Vorsicht.
La Vieuville fühlte, daß hier doch der Ernst am Platze sei und fragte:
– Lootse, wo sind wir jetzt?
– Wir sind in der Hand Gottes, sagte dieser.
Ein Lootse ist ein Machthaber: man muß ihn immer gewähren lassen, auch im Reden. Reden thun übrigens diese Leute wenig. La Vieuville entfernte sich wieder. Auf die Frage, die er an den Lootsen gestellt hatte, antwortete der Horizont, denn plötzlich wurde das Meer frei. Der Nebel, der auf den Wellen lungerte, war allenthalben geborsten; in blassem Dämmerschein breitete sich das dunkle Durcheinanderwühlen der Wogen unabsehbar aus, und man gewahrte Folgendes: Oben eine feste, deckelförmige Wolkenmasse, die jedoch nicht mehr bis zur See herunterreichte; östlich eine weißliche Helle, das Grauen des Tages, westlich, wo der Mond unterging, einen anderen fahlen Schimmer, so daß am Horizont, zwischen der dunklen Fluth und dem dunklen Himmel, zwei dünne, fahle Lichtstreifen einander gegenüberlagen. Von diesen beiden Lichtstreifen hob sich, schwarz, aufrecht, unbeweglich, der Schattenriß von Gegenständen ab: im Occident am mondbeschienenen Himmel ragten, senkrecht wie keltische Peulvens, drei hochgezackte Felsen; im Orient beim bleichdämmernden Sonnenaufgang in bedrohlich geordneter Reihe, durch gleichmäßige Zwischenräume von einander getrennt, acht Segel. Die drei Felsen waren ein Riff, die acht Segel ein Geschwader; im Rücken hatte man die berüchtigten Klippen Les Minquiers und vor sich die französischen Kreuzer; gegen Abend den Abgrund, gegen Morgen das Blutbad; man schwamm zwischen einem Schiffbruch und zwischen einer Schlacht. Dem Schiffbruch gegenüber hatte die Korvette einen durchlöcherten Rumpf, schadhaftes Takelwerk, in der Wurzel erschütterte Masten; der Schlacht gegenüber eine Artillerie, von welcher einundzwanzig Kanonen auf dreißig unbrauchbar und von deren Bedienung die besten todt waren.
Der Widerschein der Sonne war sehr matt und man hatte um sich her noch immer die Nacht, vielleicht sogar auf längere Zeit hinaus, wenn sich die Wolken nicht verzogen, die schwer und dicht zusammengeballt wie ein festes Gewölbe anzusehen waren.
Derselbe Wind, der zuvor die Nebel verjagt hatte, trieb nun die Korvette gegen Les Minquiers; gänzlich erschöpft und zerrüttet, gehorchte sie kaum mehr dem Steuer; es war weniger ein Segeln als ein widerstandsloses, fluthgepeitschtes Hinrollen. Das schauerliche Riff Les Minquiers war damals noch zackiger als jetzt. Mehrere Thürme dieser Hochveste der Untiefen sind durch die unablässige Zerstückelungsarbeit des Meeres abgetragen worden. Auch die Gestalt der Klippen ist eine veränderliche und es liegt ein Sinn darin, daß der Ausdruck »lame«, womit der Franzose die Meereswelle bezeichnet, zugleich Klinge bedeutet, denn jedes Branden entspricht in der That einem Sägeschnitt. Les Minquiers damals berühren, hieß untergehen.
Was das Geschwader anbelangt, so war es dasselbe Geschwader von Cancale, welches seitdem unter jenes Kapitän Duchesne's Führung berühmt wurde, welchen Lequinio den »Père Duchesne« nannte.
Die Lage war mehr als bedenklich. Während des Kampfes mit der Kanone war die Korvette unmerklich von der beabsichtigten Route abgewichen und eher auf Granville als auf Saint-Malo zugefahren. Jetzt hinderte, selbst wenn das Schiff ganz unversehrt geblieben wäre, die Klippe eine Rückkehr nach Jersey und das Geschwader ein Einlaufen in eine französische Bucht.
Im Uebrigen blieb der Sturm richtig aus, aber, wie es der Lootse vorausgesagt, die See ging sehr hoch, und wild rollten die Wellen unter den heftigen Windstößen über dem zerklüfteten Grund. Das Meer giebt seine ganze Absicht niemals kund; in seinen Untiefen schlummert alles Mögliche, sogar etwas wie Chikane. Es ließe sich fast behaupten, daß das Meer ein nur ihm allein bekanntes Verfahren beobachtet; es dringt vor und entweicht, macht einen Vorschlag und nimmt ihn zurück, entwirft ein Unwetter, und giebt es wieder auf, verspricht den Untergang, ohne sein Wort zu halten, droht gegen Norden zu, um nach Süden hin den Streich zu führen. So hatte man die ganze Nacht hindurch an Bord des »Claymore«, mitten im Nebel, das Losbrechen des Orkans befürchtet, den das Meer nun widerrufen hatte, widerrufen, aber mit welcher Tücke! Es hatte den Sturm in Aussicht gestellt und machte nun Ernst mit der Klippe. Auch das war Schiffbruch, nur in verschiedener Form. Und als ob zwei Feinde einander in die Hände arbeiten wollten, gesellte sich noch zu der Gefahr des Scheiterns die Gefahr der ungleichen Schlacht. La Vieuville aber bekam sein tapferes Lachen:
– Schiffbruch hier und Treffen dort . . . Karambolage müssen wir machen.
Die Korvette war nicht mehr um Vieles besser daran als ein Wrack. Aus dem fahlen hin- und widerschwimmenden Zwielicht, aus dem schwarzen Gewölk, aus den unbestimmten Schwankungen am Horizont, aus dem geheimnißvollen Aufschauern der Wellen wehte ein todesfeierlicher Hauch. Den Wind ausgenommen, der feindselig das Fahrzeug umbrauste, war Alles still. In stummer Majestät entstieg die letzte Stunde ihrer Nacht. Man fühlte sich eher einer Vision als einem Angriff gegenüber. Nichts regte sich auf den Klippen und drüben auf den Schiffen nichts. Allenthalben ein ungeheures Schweigen. War man noch in der Wirklichkeit oder schwebte ein Traumbild über den Wassern? Es giebt Schifferlegenden, die von derartigen Erscheinungen berichten: die Korvette war wie hingezaubert zwischen den Kraken und die Gespensterflotte.
Graf du Boisberthelot ertheilte dem Chevalier halblaut einige Befehle, mit welchen sich dieser ins Zwischendeck begab; dann ergriff er sein Fernrohr und trat zu Gacquoil hin, der, immer noch am Steuerrad, Alles aufbot, um die Korvette in der Richtung des Wellenschlags zu erhalten, denn wenn Wind und See sie von der Seite faßten, war sie rettungslos verloren.
– Lootse, sagte der Kapitän, wo sind wir?
– Auf Les Minquiers.
– Auf welcher Seite?
– Auf der schlimmen.
– Der Grund?
– Lauter Felsen.
– Können wir uns vor Anker legen?
– Sterben kann man immer, antwortete der Lootse.
Der Kapitän richtete das Glas nach Westen und untersuchte das Riff; dann wendete er sich nach Osten nach den Schiffen, die dort in Sicht waren. Wie mit sich selber redend, fuhr Gacquoil fort:
– Les Minquiers. Die lustige Möve ruht darauf aus, wenn sie aus Holland vorbeikommt und die große Seemöve mit den schwarzumränderten Flügeln.
Der Kapitän hatte die Schiffe gezählt. Es waren ihrer in der That acht, die, in ganz korrekter Ordnung ihr kriegerisches Profil über dem Wasserspiegel zeigten. In der Mitte konnte man die hohe Gestalt eines Dreideckers unterscheiden.
– Kennen Sie die Segel? fragte der Kapitän den Lootsen.
– Gewiß! antwortete Gacquoil.
– Nun?
– Es ist das Geschwader.
– Das französische Geschwader?
Es entstand eine Pause.
– Vollzählig? hob du Boisberthelot wieder an.
– Nein.
Jetzt erinnerte sich der Kapitän, daß ja dem durch Valazé dem Nationalkonvent am 2. April erstatteten Bericht zufolge, zehn Fregatten und sechs Linienschiffe im Kanal kreuzten.
In der That, sagte er, es könnten ihrer sechszehn sein, und dort sind ihrer nur acht.
– Die übrigen, bemerkte Gacquoil, lungern weiter drüben herum, die ganze Küste entlang, und spioniren.
– Ein Dreidecker, zwei Fregatten ersten Ranges, fünf Fregatten zweiten Ranges, murmelte der Kapitän, während er durch das Fernrohr schaute, vor sich hin.
– Aber auch ich habe spionirt, murrte Gacquoil in den Bart hinein.
– Schönes Material, sagte der Kapitän. Habe auf jedem seiner Zeit ein Weilchen kommandirt.
– Ich habe sie mir in der Nähe angesehen, meinte Gacquoil. Ich verwechsle keins mit dem anderen; habe ihre Personalbeschreibung im Hirnschädel drin.
Der Kapitän trat nun sein Fernrohr an Gacquoil ab:
– Lootse, unterscheiden Sie das Linienschiff genau?
– Ja, Herr Kapitän, es ist der Dreidecker »La Côte d'Or«.
– Den sie umgetauft haben, bemerkte der Kapitän. Früher hieß er: »Les Etats de Bourgogne«. Neues Schiff. Hundertachtundzwanzig Kanonen.
Er nahm ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche und schrieb die Zahl 128 auf. Dann fragte er weiter:
– Lootse, wie heißt das erste Segel an Backbord?
– »L'Expérimentée«.
– Fregatte ersten Ranges. Zweiundfünfzig Kanonen. Wurde vor zwei Monaten in Brest ausgerüstet. Und der Kapitän notirte abermals: 52.
– Lootse, fuhr er fort, wie heißt das zweite Segel an Backbord?
– »La Dryade«.
– Fregatte ersten Ranges. Vierzig Achtzehnpfünder. War in Indien, hat eine schöne militärische Laufbahn hinter sich. Und er schrieb unter die Zahl 52 die Zahl 40; dann blickte er wieder auf:
– Und an Steuerbord?
– Lauter Fregatten zweiten Ranges, Herr Kapitän. Es sind ihrer fünfe.
– Wie heißt die nächste beim Dreidecker?
– »La Résolue«.
– Zweiunddreißig Achtzehnpfünder. Und die zweite?
– »La Richemont«.
– Kurioser Name das, um in See zu stechen. Weiter.
– »La Calypso«.
– Weiter.
– »La Preneuse«.
– Fünf Fregatten von je zweiunddreißig. Und der Kapitän schrieb unter die vorhergehenden Zahlen: 160.
– Lootse, sagte er dann. Sie erkennen sie doch genau?
– Und Sie, erwiderte Gacquoil, Sie kennen sie genau, Herr Kapitän. Das Erkennen hat schon etwas für sich, aber das Kennen ist mehr werth.
Der Kapitän, mit seinem Notizbuch beschäftigt, addirte zwischen den Zähnen: Hundertachtundzwanzig, zweiundfünfzig, vierzig, hundertundsechzig. In diesem Augenblick betrat La Vieuville wieder das Verdeck.
– Chevalier, rief ihm der Kapitän entgegen, wir haben dreihundertundachtzig Geschütze vor uns.
– Gut, sagte La Vieuville.
– Sie kommen von der Inspektion, La Vieuville: Wie viel Geschütze bleiben uns schließlich übrig?
– Neun.
– Gut, sagte nun auch Boisberthelot.
Er nahm das Fernrohr dem Lootsen aus der Hand und richtete es wieder nach dem Horizont. Die acht Schiffe, stumm und schwarz, schienen sich nicht zu rühren; nur wurden sie allmälig größer: sie rückten langsam näher.
La Vieuville machte die Honneurs und sagte:
– Herr Kapitän, ich habe dieser Korvette »Claymore« von vornherein nicht getraut. Es ist immer fatal, urplötzlich an Bord eines Fahrzeugs zu kommen, das Einem weder bekannt noch vertraut ist. Ein englisches Schiff, wenn auch Franzosen es führen, das thut nicht gut. Die verdammte Kanone war uns ein Beweis dafür. Ich melde gehorsamst, daß ich die Inspektion vorgenommen habe: Anker trefflich, nicht Roheisen, geschweißtes Stabeisen, starke Flügel. Taue vorzüglich, handlich, von vorschriftsmäßiger Länge, hundertundzwanzig Faden. Reichliche Munition. Sechs Todte. Jedes Geschütz kann hunderteinundsiebzig Mal feuern.
– Weil es nur noch ihrer neun sind, murmelte der Kapitän vor sich hin, indem er wieder das Fernrohr über den Horizont schweifen ließ. Langsam aber stetig rückte das Geschwader heran.
Die Geschütze des »Claymore«, Caronaden genannt, hatten zwar das für sich, daß sie blos drei Mann Bedienung erforderten, hatten aber hinwider gegen sich, daß sie weniger weit und sicher trafen als die gewöhnlichen Kanonen; deshalb mußte man das Geschwader um so viel näher rücken lassen.
Der Kapitän ertheilte seine Befehle mit leiser Stimme. Lautlose Stille herrschte am Bord. Das Verdeck wurde ohne das übliche Glockensignal zum Gefecht klar gemacht. Dem Feinde gegenüber war die Korvette ebenso kampfunfähig wie den Wellen. Man verwerthete die wenigen noch verfügbaren Vertheidigungsmittel so gut es eben ging; trug auf den Laufplanken und auf dem Back das zur Wiederherstellung der Takelage etwa erforderliche Tau- und Takelwerk zusammen und richtete die Verbandstelle her.
Nach dem damaligen Brauch wurde die Schanzverkleidung auf Deck vorgespannt, was zwar gegen das Gewehrfeuer, nicht aber gegen die Artillerie Schutz gewährte. Man schaffte die Kugelmaße herbei, trotzdem zu der Prüfung der Kaliber die Zeit kaum mehr hinreichte. Hatte doch Niemand so mannigfaltige Zwischenfälle vorhersehen können. Jeder Matrose bekam eine Patronentasche und steckte ein Paar Pistolen und ein Dolchmesser in den Gürtel. Die Hängematten wurden zusammengelegt, die Geschütze gerichtet, die Musketen, die Enterbeile und Haken bereitgehalten, die Stückpatronen und Kugeln vertheilt, die Pulverkammer geöffnet. Jeder trat an seinen Posten, und das Alles in düsterer Eile, mit dem Schweigen, das im Gemach eines Sterbenden herrscht.
Und nun ankerte die Korvette. Sie hatte sechs Anker wie die Fregatten; man warf sie alle sechs, vorn den Tagsanker, über das Heck den schweren Werfanker, den Leichtern der See, den Raumanker der Klippenseite zu, an Steuerbord vorn den Teyanker und den Pflichtanker an Backbord.
Die am Leben gebliebenen Geschütze wurden alle neun auf einer Seite dem Feinde zu in Batterie aufgepflanzt.
Die acht Schiffe hatten indessen, ebenso schweigsam, ihre Gefechtstellung eingenommen, und segelten jetzt in einem Halbkreis heran, von dem les Minquiers die Sehne bildeten. In diesem Halbkreis gefangen und übrigens schon durch seine Anker festgehalten, lehnte sich der »Claymore« an les Minquiers, das heißt an den Schiffbruch an. Man hätte ihn mit einem von der Meute umringten Eber vergleichen können; nur kläfften die Verfolger nicht, sondern zeigten stumm die Zähne. Jeder Theil schien auf den Andern zu warten.
Die Kanoniere des »Claymore« standen mit der Lunte in der Hand bereit.
Boisberthelot sagte zu La Vieuville:
– Den ersten Schuß möchte ich mir nicht nehmen lassen! Und La Vieuville antwortete:
– Wer für etwas stirbt, darf sich das Bischen Koketterie schon erlauben.
Der Passagier hatte das Verdeck nicht verlassen; ohne eine Miene zu verziehen, schaute er zu.
– Herr General, sagte Boisberthelot, der vor ihn hingetreten war, wir sind nunmehr festgeklammert an unser Grab und werden es auch nicht fahren lassen. Eingekeilt zwischen Feind und Riff, bleibt uns außer der Gefangenschaft oder dem Schiffbruch nur eine Wahl, der Schlachtentod. Kämpfen ist noch besser als Scheitern; lieber als ich ertrinke, laß ich mich zusammenschießen; im Feuer stirbt sich's schöner als im Wasser. Dieses Sterben haben jedoch nur wir Kleinen zu besorgen, nicht aber Sie mit uns. Sie sind der Bevollmächtigte des Prinzen, sind zu einer großen Sendung auserwählt, zum Oberbefehl über unsere Truppen in der Vendée. Wenn Sie fallen, fällt vielleicht die monarchische Fahne; also müssen Sie leben, und wie unsere Pflicht erheischt, daß wir hier ausharren, so erheischt die Ihrige, daß Sie sich retten; deshalb, Herr General, werden Sie das Schiff verlassen. Ich stelle Ihnen ein Boot und einen Ruderer zur Verfügung; auf Umwegen die Küste zu erreichen, ist nicht unmöglich; es ist noch nicht Tag; die Wellen gehen hoch; auf dem Meer ist es noch dunkel; Sie werden entkommen. Unter gewissen Umständen heißt Flucht nicht mehr Flucht, sondern Sieg.
Der Greis gab durch ein langsames Senken seines strengen Hauptes seine Zustimmung zu erkennen, und Boisberthelot rief mit lauter Stimme:
– Soldaten und Matrosen! . . .
Sofort ließ vom Steuer bis zum Bugspriet Jeder von seiner Beschäftigung ab und schaute nach dem Kapitän, welcher also fortfuhr:
– Der Mann, der sich hier unter uns befindet, ist der Vertreter Seiner Majestät des Königs. Er ward unserer Obhut anvertraut; wir müssen ihn unserer Sache erhalten. Die Krone Frankreichs bedarf seiner. In Ermangelung eines unserer Prinzen wird, wir hoffen es wenigstens, er das Oberhaupt der Vendée sein. Er ist ein großer Führer im Feld. Mit uns sollte er in Frankreich landen; jetzt muß er es ohne uns versuchen. Wenn der Führer gerettet wird, so ist auch die Sache gerettet.
– Ja! ja! ertönte es von allen Seiten. Und der Kapitän sprach weiter:
– Auch er wird ernstliche Gefahren bestehen müssen. Das Ufer zu erreichen, ist nichts weniger als leicht. Um der hohen See zu trotzen, wäre ein großes Boot nöthig; er aber muß ein kleines nehmen, damit ihn die Kreuzer nicht bemerken. Die Aufgabe besteht darin, an irgend einer entlegenen Stelle zu landen, womöglich näher bei Fougères als bei Coutances; gewachsen ist dieser Aufgabe nur ein vielerfahrener Seemann, ein unermüdlicher Ruderer, der auf jener Küste geboren und mit ihren kleinsten Einzelheiten vertraut ist. Es ist jetzt gerade noch so weit dunkel, daß das Boot die Korvette verlassen kann, ohne entdeckt zu werden, um so mehr als der Pulverdampf mit Nächstem das Seinige beitragen wird. Mit einem kleinen Boot läßt sich schon, eben weil es klein ist, über die versteckten Klippen hinwegkommen; wo der Panther stecken bleibt, schlüpft das Wiesel durch. Für uns giebt es kein Entrinnen, wohl aber für ihn. Das Boot wird sich mit voller Ruderkraft entfernen und dem Feind unsichtbar bleiben, dem wir übrigens, wie gesagt, unterdessen Stoff genug zur Unterhaltung geben werden – nicht wahr?
– Jede Minute ist kostbar, schloß der Kapitän. Wer meldet sich?
– Ich, sprach eine Stimme, und ein Matrose trat in der Dunkelheit vor die Front.
Einige Minuten später stieß die kleine Kapitänsjolle vom Schiff ab. Es saßen zwei Männer darin: vorn der Matrose, der sich gemeldet hatte, hinten der Passagier. Es war immer noch ganz finster. Der Matrose ruderte, wie Boisberthelot befohlen hatte, mit aller Gewalt auf les Minquiers los. Einen andern Ausweg gab es ja nicht.
Am Boden der Jolle lagen Mundvorräthe, ein Sack voll Zwieback, eine geräucherte Zunge und ein Fäßchen Wasser.
Im Augenblick, wo die Zwei sich entfernten, lehnte sich La Vieuville, im Tode noch ein unverdrossener Spötter, über den Hintersteven der Korvette hinunter und rief der Jolle seinen Abschiedsgruß nach:
– Famos zum Fliehen, unschätzbar zum Ertrinken.
– Herr, sagte der Lootse, lassen wir den Scherz bei Seite.
Das Boot war hurtig abgestoßen, und hatte bald eine ziemlich bedeutende Strecke zurückgelegt. Wind und Wellen halfen dem Ruderer nach, und immer rascher schaukelte, hinter den hohen Wellen den Blicken entrückt, das kleine Boot im Zwielicht von dannen.
Auf dem Meer lag es wie düstere Erwartung: da, plötzlich, durch das gedehnte, ungestüm geschäftige Schweigen des Elements, brach eine Stimme, die, verstärkt durch das Sprachrohr wie durch den ehernen Mund an der Maske der griechischen Tragödie, beinah übermenschlich klang. Es war Kapitän du Boisberthelot's Stimme:
– Leute des Königs, donnerte er, nagelt die Lilienflagge an den großen Mast. Unsere letzte Sonne geht auf.
Und die Korvette löste eines seiner Geschütze.
– Es lebe der König! rief die Mannschaft.
Drüben vom Horizont her ertönte ein anderer, mächtiger, in der Ferne verhallender und dennoch deutlich vernehmbarer Ruf:
– Es lebe die Republik!
Und ein Lärm wie von dreihundert Donnerschlägen rollte über die See.
Der Kampf begann. Das Meer verhüllte sich in Dampf und Blitze. Von allen Seiten bohrten sich die Gischtstrahlen, die unter den einschlagenden Kugeln aufspringen, in die Wogen. Der »Claymore« spie seine Flammen nach den acht Schiffen aus, und diese beschossen aus ihrer Halbmondstellung mit allen Batterien die Korvette. Der Horizont leuchtete feuerroth; ein Vulkan schien dem Meer entstiegen zu sein, und der Wind zerrte diesen ungeheuren Schlachtenpurpur hin und her, in welchem die Schiffe geisterhaft auftauchten und wieder schwanden, und von dem die Korvette wie ein schwarzes Skelett vom brennenden Hintergrund sich abhob. Hoch in den Lüften vom Mittelmast des »Claymore« sahen die zwei Männer in der Jolle noch die Lilienflagge wehen. Sie schwiegen Beide.
Das dreieckige Riff les Minquiers, eine kleine unterseeische Trinacria, hat einen weitern Umfang als die ganze Insel Jersey. Das Plateau, zu dem es sich emporgipfelt, überragt die Wasserfläche bei der höchsten Fluth; nordöstlich davon erheben sich in einer Reihe sechs mächtige Felsblöcke, die einer stellenweise eingesunkenen großen Mauer gleichen. Hindurchfahren kann zwischen dem Plateau und den sechs Klippen nur ein Boot mit sehr schwachem Tiefgang. In diesen Kanal, der in die offene See mündet, lenkte der Matrose, der sich zur Rettung des Passagiers erboten hatte, jetzt ein. Auf diese Art schoben sich les Minquiers allmälig zwischen die Schlacht und die Jolle; rechts und links den dichtgegenüberstehenden Felsen ausweichend, schlängelte diese sich mit Gewandtheit weiter. Schon war hinter dem Riff der Kampfplatz verschwunden, und schon begannen die Röthe am Horizont und das wilde Getöse der Kanonade in Folge der zunehmenden Entfernung abzunehmen; aber aus der Hartnäckigkeit des Feuers ließ sich schließen, daß die Korvette tapfer ausharrte und ihre hunderteinundneunzig Salven bis auf die letzte abgeben wollte. Ueber ein Kurzes hatte das Boot Schlacht und Klippe im Rücken, und befand sich längst außer Tragweite eines Geschosses auf offener See. Nach und nach hellten sich die äußern Umrisse des Meeres auf, die unmittelbar im Dunkel wieder verschwimmenden Lichtpunkte breiteten sich aus; die quirlenden Schaumkämme brachen in Strahlenbüschel auseinander und ein weißer Schimmer wiegte sich auf der Halbfläche der Wogen. Es wurde Tag.
Dem Feind war das Boot zwar entronnen, doch das Schwierigste war noch nicht überstanden: man hatte keine Kugel mehr, aber immerhin den Schiffbruch zu gewärtigen, auf wilder See, in dieser schwindend kleinen Nußschale ohne Deck, ohne Segel, ohne Mast, ohne Kompaß, in einem Atom, dem nichts zu Gebote stand als zwei Ruder, um den zwei Riesen Ozean und Orkan zu entfliehen.
Und nun, inmitten dieser unendlichen Einsamkeit, sein Antlitz erhebend, blaß gefärbt vom fahlen Widerschein des Morgens, starrte der Mann, welcher vorn in der Jolle saß, dem Manne, der ihm gegenüber saß, in die Augen und sagte zu ihm:
– Ich bin der Bruder von dem, der auf Ihren Befehl erschossen wurde.