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Nun erhob auch der Greis langsam das Haupt.
Der Mann, der zu ihm gesprochen, war ungefähr dreißig Jahre alt. Seine Stirn war von der Seeluft gebräunt; in eigentümlicher Mischung schaute in ihm der Scharfblick des Matrosen aus den treuherzigen Augen des Bauern. Wuchtig hielt er die Ruder in seinen beiden Fäusten fest. Er hatte etwas Kindliches. Im Gürtel trug er ein Dolchmesser, zwei Pistolen und einen Rosenkranz.
– Wer sind Sie? fragte der Greis.
– Sie haben es gehört.
– Und was wollen Sie von mir?
Der Mann ließ die Ruder los, kreuzte die Arme und sagte:
– Sie umbringen.
– Sie können es, sagte der Greis.
– Halten Sie sich bereit, sprach der Mann mit erhobener Stimme.
– Bereit wozu?
– Zu sterben.
– Warum? fragte der Greis.
Es entstand eine Pause. Der Mann schien ein paar Augenblicke über die Frage zu staunen. Dann erwiderte er:
– Sie haben's gehört: ich will Sie umbringen.
– Und ich frage Sie, warum?
In den Augen des Matrosen erglänzte ein flüchtiger Blitz:
– Weil Sie meinen Bruder umgebracht haben.
Der Greis entgegnete ruhig: Nachdem ich ihm zuvor das Leben gerettet.
– Das ist wahr; Sie haben ihn zuerst gerettet und dann umgebracht.
– Nicht ich.
– Wer denn sonst?
– Seine Schuld.
Mit noch größerem Staunen als zuvor sah der Matrose den Greis an; aber bald darauf zog sich seine Stirne wieder in drohende Falten zusammen.
– Wie heißen Sie? fragte der Greis.
– Ich heiße Halmalo, doch meinen Namen brauchen Sie nicht zu wissen, um von mir umgebracht zu werden.
In diesem Augenblick ging die Sonne auf. Ein heller Strahl fiel auf den Matrosen und leuchtete ihm ins trotzige Gesicht. Forschend betrachtete ihn der Greis. Das Geschützfeuer grollte noch immer aus der Ferne, aber mit Unterbrechungen und stoßweise wie in letzten Zuckungen. Ueber den Horizont senkte sich eine dichte Dampfwolke. Das Boot trieb, von keinem Ruderer mehr gelenkt, willenlos ins Weite. Der Matrose zog mit der rechten Hand eine seiner Pistolen und mit der Linken seinen Rosenkranz aus dem Gürtel. Aufstehend, hoch emporgerichtet fragte der Greis:
– Glaubst du an einen Gott?
– Unseren Vater im Himmel, versetzte der Matrose und schlug ein Kreuz.
– Hast du deine Mutter noch?
– Ja. Und er bekreuzte sich nochmals. Dann sagte er:
– Es muß sein. Ich schenke Ihnen nur noch eine Minute, gnädiger Herr. Und er schob den Hahn an seinem Pistol zurück.
– Warum hast du »gnädiger Herr« zu mir gesagt?
– Weil Sie ein Herr sind; das sieht man Ihnen an.
– Hast du einen Herrn?
– Ja, und einen Großen. Einen Herrn muß doch Jeder haben.
– Wo ist er, dein Herr?
– Das weiß ich nicht. Fort. Er heißt der Herr Marquis von Lantenac; er ist auch noch Vikomte von Fontenay und Fürst und Herr von Sept-Forêts. Gesehen habe ich ihn zwar nie, aber deshalb bleibt er nicht minder mein Herr.
– Und wenn du ihn sähst, würdest du ihm wohl gehorchen?
– Sicherlich. Wär ich doch ein Heide, wenn ich ihm nicht gehorchen wollte! Zuerst ist man Gott Gehorsam schuldig, dann dem König, weil er Gott am nächsten steht, und dann dem Herrn, weil er dem König am nächsten steht. Aber davon ist jetzt die Rede nicht: Sie haben meinen Bruder umgebracht und darum müssen jetzt auch Sie umgebracht werden.
– Daß ich ihn umgebracht habe, antwortete der Greis, daran that ich recht.
Der Matrose preßte die Finger krampfhaft um sein Pistol und sagte:
– Machen wir ein Ende.
– Meinetwegen, erwiderte der Greis, und setzte ruhig hinzu:
– Wo ist der Priester?
Der Matrose sah ihn fragend an:
– Der Priester?
– Ja wohl, der Priester. Deinen Bruder habe ich nicht ohne Beichte sterben lassen; den Priester bist du mir schuldig.
– Ja, wenn ich ihn hätte, entgegnete der Matrose, und fuhr dann fort:
– Als ob man hier auf offener See einen Priester holen könnte!
Immer dumpfer ertönte der konvulsivische Geschützdonner des fernen Todeskampfes.
– Die, welche dort drüben sterben, haben einen, sagte der Greis.
– Schon wahr, murmelte der Matrose. Sie haben den Herrn Schiffsprediger.
Der Greis fuhr fort:
– Du vergreifst dich am Heil meiner Seele, und das fällt schwer ins Gewicht.
Der Matrose schaute sinnend vor sich nieder.
– Und mit meinem Seelenheil, sagte der Greis, vernichtest du zugleich auch dein eigenes. Höre mich an: du dauerst mich. Nachher kannst du's ja noch immer halten, wie du willst. Ich habe der Pflicht die Ehre gegeben, sowohl als ich vorhin deinem Bruder das Leben rettete, wie auch als ich es ihm wieder nahm, und jetzt gebe ich abermals der Pflicht die Ehre, wenn ich versuche, dir dein Seelenheil zu retten. Gieb wohl Acht; was ich sagen werde, bezieht sich unmittelbar auf dich. Hörst du die Kanonenschüsse dort drüben? In diesem Augenblicke sterben dort Männer, röcheln Verzweifelnde, Gatten, die ihre Frauen, Väter, die ihr Kind, Brüder, die, wie du, ihren Bruder nicht mehr wiedersehen werden. Und das Alles durch wessen Schuld? Durch deines Bruders. Du glaubst an einen Gott, nicht wahr? Aber dann mußt du auch wissen, daß in diesem Augenblick Gott leidet in seinem allerchristlichsten Sohn, dem König von Frankreich, der ein Kind ist gerade wie das Jesuskind, und den sie in den Thurm des Temple gesperrt haben; daß Gott leidet, so weit die ganze Bretagne reicht, in seiner Kirche, leidet in seinen geschändeten Kathedralen, leidet in seinen zerrissenen heiligen Büchern, leidet in seinen entweihten Andachtstätten, leidet in seinen hingemordeten Dienern. Warum haben wir uns eingeschifft allesammt auf jenem Wrack, das jetzt eben untergeht? Nur um Gott zu Hilfe zu eilen. Wenn dein Bruder ein treuer Knecht gewesen wäre, wenn er mit Klugheit, Eifer und Ernst seine Pflicht erfüllt hätte, dann wäre das Unglück mit dem Geschütz unterblieben, dann wäre die Korvette nicht beschädigt worden, wäre nicht von ihrem Kurs abgewichen, wäre nicht jenen gottvergessenen Kreuzern in die Hände gefallen, und wir, wir würden Alle, jetzt zur Stunde, als tapfere Kriegs- und Seeleute an der heimatlichen Küste landen, den Säbel in der Faust, mit fliegender Lilienfahne, stark an Zahl und stark an frischer Freudigkeit, und würden den wackeren Bauern der Vendée das Vaterland retten helfen, den König retten helfen, Gott retten helfen. Das wollten wir thun; das würden wir thun; das soll ich, der einzig Überlebende, noch immer thun. Aber du, du verhinderst es. In diesem Kampf der Gottlosen gegen die Priester, der Königsmörder gegen den König, des Höllenfürsten gegen Gott ergreifst du die Partei des Höllenfürsten. Dein Bruder war sein erster Helfershelfer; der zweite bist du. Was er begonnen, das führst du zu Ende. Du stehst den Königsmördern bei gegen den Thron, stehst den Gottlosen bei gegen die Kirche, nimmst Gott die letzte Hilfe weg in der Noth. Weil ich nicht da sein werde an des Königs Stelle, müssen die Dörfer weiterbrennen, die Weiber weiterweinen, die Priester weiterbluten, muß die Bretagne weiterleiden, der König seine Ketten weitertragen und unser Heiland weiterwanken gen Golgatha in Schmach und Schmerzen. Und wer wird das Alles auf dem Gewissen haben? Du. Nun, du hast ja die freie Wahl. Ich durfte zwar von dir gerade das Gegentheil erwarten; etwas Täuschung, und ja! im Grunde hast du ganz Recht: habe ich nicht deinen Bruder erschießen lassen? Dein Bruder ist muthig gewesen: ich habe ihn belohnt; er ist schuldig gewesen, und ich habe ihn bestraft. Er hat sich an seiner Pflicht versündigt, ich nicht, und was ich that, das würde ich wieder thun, und, das schwöre ich dir bei unserer hochheiligen Anna von Auray, die uns in die Herzen schaut: gerade wie ich deinen Bruder erschießen ließ, hätte ich im gleichen Fall meinen leiblichen Sohn erschießen lassen. Jetzt handle nach Gutdünken, aber ich bedaure dich. Du hast deinen Kapitän angelogen; du willst ein Christ sein und bist ohne Treu und Glauben; du willst ein Bretone sein und hast keine Ehre im Leibe; deiner Redlichkeit bin ich anvertraut worden; dein Verrath hat Ja dazu gesagt, und nun wirfst du Allen, denen du gelobt hast, mich zu retten, meinen Kopf vor die Füße. Weißt du auch, wen du dabei strafst? Dich! Du raubst dem König mein Leben und schenkst dafür deine Seele der Hölle. Aber laß dich nicht abhalten, begehe nur dein Verbrechen, thu's! Dein Antheil an der ewigen Seligkeit ist dir feil und werthlos – gut. Dir also wird es zuzuschreiben sein, daß der Satan siegen wird, dir, daß die Heiden die Kirchen niederreißen, dir, daß sie fortfahren werden, die Glocken zu Kanonen umzugießen, um dann zu tödten mit dem, was den Seelen einst das Leben geben half. Jetzt, im Augenblick, da ich zu dir spreche, wird deine Mutter vielleicht zerrissen durch die Glocke, die deine Taufe eingeläutet hat. Aber geh, hilf nur dem bösen Feind, thu's nur. Ja, ich habe deinen Bruder verurtheilt, doch wisse, daß ich ein Werkzeug bin des Allmächtigen. Du aber wirfst dich zum Richter auf über die Maßregeln Gottes – was? Du wirst nun wohl ins Gericht gehen mit dem Blitz des Himmels? Unglückseliger, du wirst gerichtet werden durch ihn. Bedenke wohl, was du thust. Weißt du auch nur, ob ich frei von jeglicher Todsünde aus der Welt gehe? Nein. Aber kehre dich daran nicht, und führe deinen Vorsatz nur aus! Es steht dir vollkommen frei, mich der Hölle in den Rachen zu schleudern und dich selber mit. Unser Beider Verdammniß liegt in deiner Hand. Die Verantwortlichkeit dafür trifft aber vor Gott nur dich. Wir sind allein, und ringsum gähnt der Abgrund. Vorwärts! Mach ein Ende! Vollbring's! Ich bin ja alt, und du bist jung, ich bin wehrlos und du in Waffen. Losgedrückt! Feuer!
Während der Greis, hochaufrecht und mit einer Stimme, die das Rauschen der Wogen gewaltig übertönte, also sprach, ließen ihn die Schwankungen der Wellen einmal im Dunkeln, dann wieder im Sonnenlicht erscheinen. Der Matrose war kreideweiß geworden; große Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn; er zitterte wie das Blatt im Wind; zuweilen führte er den Rosenkranz an seine Lippen. Als der Greis zu sprechen aufhörte, warf er sein Pistol hin und fiel nieder aus die Knie:
– Seien Sie barmherzig, gnädiger Herr! rief er ihn an, verzeihen Sie mir! Aus Ihnen redet der liebe Gott. Ich habe mich versündigt, und mein Bruder hat sich versündigt. Alles will ich thun, um wieder gut zu machen, was er verbrach. Machen Sie aus mir, was Ihnen beliebt. Befehlen Sie, und ich gehorche.
– Ich erbarme mich deiner, sagte der Greis.
Die mitgenommenen Vorräthe kamen den beiden Flüchtlingen sehr zu Statten, denn, auf vielfache Umwege angewiesen, brauchten sie volle sechsunddreißig Stunden, bis sie die Küste erreichten. Sie verbrachten die nächstfolgende Nacht auf hoher See, aber es war eine schöne Nacht, nur etwas zu mondhell für Leute, die ungesehen bleiben wollen.
Zu Anfang mußten sie sich von Frankreich wieder etwas entfernen, wieder gegen Jersey zu. So kam's, daß sie die letzte Geschützsalve der niedergedonnerten Korvette noch hörten, das letzte Gebrüll eines tödtlich getroffenen Löwen. Nun trat eine große Stille ein.
Diese Korvette »Claymore« endete in ähnlicher Weise wie der »Vengeur«; aber für sie blieb der Nachruhm aus. Der Kampf gegen das Vaterland läßt kein anerkanntes Heldenthum aufkommen.
Halmalo war geradezu überraschend: er verrichtete wahre Wunder seemännischen Geschicks und Scharfsinns. Diese aus dem Stegreif entworfene Fahrt durch die Klippen, die Wellenschläge und das Auflauern des Feindes war eine Musterleistung.
Nun hatte der Wind nachgelassen, und die See war fügsamer geworden, Halmalo wich vor les Caux des Minquiers aus, beschrieb einen Halbkreis um la Chaussée aux Boeufs und rastete einige Stunden in dem kleinen Schlupfhafen aus, der sich dort an der Nordseite zur Ebbezeit vorfindet; dann stahl er sich, den Kurs wieder nach Süden nehmend, zwischen Granville und den Chausey-Inseln durch, ohne von den beiden Wachtposten von Chausey und von Granville bemerkt zu werden, und lief in die Bucht von Saint-Michel ein, ein kühnes Unterfangen, wenn man die geringe Entfernung von Cancale in Betracht zieht, wo die Kreuzer einen Ankerplatz hatten. Am zweiten Tag Abends, etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang, landete er, den Mont Saint-Michel im Rücken, an einer Stelle des Strandes, wo sich gewöhnlich Niemand hinwagt, weil dort immer ein Auffahren im Sande zu befürchten steht.
Glücklicherweise hatten sie gerade hohe See. Halmalo trieb das Boot mit einem möglichst kräftigen Ruck ans Land, befühlte die Sandfläche, that dann, als er sie hinlänglich fest befunden, einen Sprung aus der Jolle und zog sie ans Ufer.
Der Greis folgte nach und suchte sich genau zu orientiren.
– Gnädiger Herr, sagte Halmalo, wir sind hier beim Ausfluß des Couesnon und haben an Steuerbord Beauvoir und Huisnes an Backbord. Geradeaus sehen Sie den Kirchthurm von Ardevon.
Der Greis bückte sich und nahm ein Stück Zwieback aus dem Boot; dann sagte er zu Halmalo:
– Nimm du den Rest.
Halmalo legte, was von der Ochsenzunge übrig war, zu dem Zwieback, lud den Sack auf die Schulter und fragte:
– Soll ich den gnädigen Herrn führen oder soll ich ihm folgen?
– Keins von Beiden.
Halmalo schaute den Greis verwundert an, und dieser fuhr fort:
– Wir werden uns trennen, Halmalo. Selbzweit gehen taugt nicht. Entweder zu Tausend oder Jeder für sich allein. Und sich unterbrechend, zog er aus einer seiner Taschen eine grünseidene Schleife, die beinah die Form einer Kokarde hatte und in deren Mitte eine goldene Lilie gestickt war.
– Kannst du lesen? begann er nun wieder.
– Nein.
– Schon recht; das Lesen thut nicht gut. Hast du ein scharf Gedächtniß?
– Ja.
– Schön. Und jetzt merke wohl auf, Halmalo: Du wirst rechts gehen und ich links, ich gegen Fougères zu, du gegen Bazouges. Den Sack behältst du bei dir; er giebt dir das Aussehen eines Bauern. Deine Waffen verstecke. Schneide dir einen Stock, krieche über die Aecker – der Roggen steht ja hoch –, schleiche die Hecken entlang, steige über die Pfahlzäune, um ins Freie zu kommen, meide Menschen, Wege und Brücken, halte dich in gehöriger Entfernung von Portorson . . . Ach so! du mußt ja über den Couesnon; wie willst du hinüberkommen?
– Durchschwimmen.
– Gut; es giebt übrigens eine Furt; weißt du vielleicht wo?
– Zwischen Ancey und Vieux-Mel.
– Ganz recht; ich sehe, daß du wirklich hier zu Hause bist.
– Aber es wird Nacht. Wo werden der gnädige Herr schlafen?
– Meine Sache; wo wirst du schlafen?
– In irgend einer Höhlung. Bevor ich Matrose wurde, war ich ein Bauer.
– Den Matrosenhut wirf ins Wasser! er könnte dich verrathen. Du wirst doch irgendwo eine andere Kopfbedeckung auftreiben können?
– O ja, eine Regenkappe, die giebt's überall. Der nächstbeste Fischer wird mir seine verkaufen.
– Gut. Nun höre weiter: Du kennst doch die Wälder hier herum?
– Alle.
– In der ganzen Umgegend?
– Von Noirmoutier bis Laval.
– Kennst du sie auch bei ihren Namen?
– Die Wälder, die Namen, Alles.
– Und wirst auch nichts vergessen?
– Nichts.
– Gut, und jetzt aufgepaßt! Wie viel Stunden Wegs kannst du in einem Tag wohl zurücklegen?
– Zehn, fünfzehn, wenn's noththut zwanzig.
– Es wird noththun. Verliere kein Wort von Allem, was ich dir jetzt sagen werde: Zunächst begiebst du dich in den Wald von Saint-Aubin.
– Bei Lamballe?
– Ja. Am Rande der Schlucht zwischen Saint-Rieul und Plédéliac steht ein großer Kastanienbaum. Bei dem hältst du still. Sehen wirst du Niemand.
– Aber es wird doch Jemand da sein; weiß schon.
– Du wirst das Zeichen geben. Kennst du das Zeichen auch?
Halmalo blies die Backen auf, wendete sich gegen das Meer und stieß den Eulenruf aus. Man hätte darauf geschworen, dieses »Huhu« ertöne aus tiefster Waldesnacht, so echt war's und schauerlich.
– Gut, sagte der Greis; du bist ein Wissender.
– Hier, setzte er hinzu, indem er Halmalo die grünseidene Schleife hinhielt, hier hast du meine Kommandoschleife. Stecke sie zu dir. Einstweilen ist noch viel daran gelegen, daß mein Name unbekannt bleibe. Aber die Schleife genügt schon. Diese Lilie hat Madame, die Königin Antoinette, in ihrem Gefängniß mit eigener Hand gestickt.
Halmalo beugte das Knie und griff mit bebender Hand nach der Schleife, die er zu seinen Lippen führte; aber plötzlich innehaltend, fragte er mit innerem Grauen:
– Darf ich denn auch?
– Küssest du das Kruzifix nicht auch? Also.
Und Halmalo küßte die Lilie.
– Steh auf, sagte der Greis. Halmalo stand auf und verwahrte die Schleife an seiner Brust.
– Gieb wohl Acht, fuhr der Greis fort. Die Ordre lautet: Zu den Waffen – ohne Pardon. Beim Kastanienbaum giebst du also das Zeichen, und zwar zu dreien Malen. Nach dem dritten Mal wird ein Mann aus der Erde steigen.
– Aus einem Loch unten an einem Baum; weiß schon.
– Dieser Mann ist Planchenault, auch Coeur-de-Roi geheißen. Dem zeigst du die Schleife vor, und er wird verstehen. Nachher schleichst du auf Wegen, deren Wahl ich dir überlasse, in den Wald von Astillé; dort wirst du einen hinkenden Mann treffen, der den Beinamen Mousqueton führt, und der niemals Pardon giebt. Dem sagst du, daß ich ihn lieb habe, und daß er seine Gemeinden auf die Beine bringen soll. Ferner verfügst du dich in den Wald von Couesbon, eine Stunde von Ploërmel. Dort giebst du abermals das Zeichen und wirst einen Mann aus einer Öffnung hervorkriechen sehen, den Seneschall von Ploël, Herrn Thuault, welcher Mitglied der sogenannten konstituirenden Versammlung war, aber ein Rechtschaffener. Dem sagst du, er möge das Schloß von Couesbon in Stand setzen, ein Besitzthum des ausgewanderten Marquis von Guer. Schluchten, Buschwerk, ungleiches Terrain, läßt sich ausnützen; Herr Thuault ist ein gerader, besonnener Mann. Hierauf gehst du nach Saint-Ouen-les-Toits, wo du mit Jean Chouan sprechen wirst, der in meinen Augen der eigentliche Anführer ist, und von dort in den Wald von Ville-Anglose, wo du Guitter, auch Saint-Martin zubenannt, aufsuchen wirst, um ihm zu sagen, er solle ein Auge haben auf einen gewissen Courmesnil, Schwiegersohn des alten Goupil aus Préfeln und Rädelsführer der Jakobinerbande von Argentan. Präge dir Alles genau ins Gedächtniß! Ich gebe dir nichts Schriftliches mit, weil dergleichen nie schriftlich besorgt werden soll. La Rouarie hat ein Namensverzeichniß niedergeschrieben, und Alles kam heraus. Dann ermittelst du im Wald von Rougefeu einen Mann, der Miélette heißt und immer einen langen Stock mit eiserner Spitze führt.
– Mit so einem Stock setzt man über die breitesten Gräben.
– Kannst du das auch?
– Ich müßte keine Bretone und kein Bauersmann sein! Der Springstock ist ja unser Freund in der Noth; den Arm dehnt er aus und verlängert die Beine.
– Verringert demnach den Feind und verkürzt den Weg.
– Mit meinem Springstock habe ich einmal drei Salzwächter zurückgeschlagen, die mit Säbeln bewaffnet waren.
– Wann war das?
– Vor zehn Jahren.
– Da herrschte ja der König noch.
– Freilich.
– Damals also lehntest du dich auf?
– Gewiß.
– Gegen wen?
– Ja, das weiß ich nicht recht. Ich war Salzschmuggler.
– So.
– Sie nannten es eben den Kampf gegen die Salzsteuer. Haben denn die Salzsteuer und der König etwas mitsammen gemein?
– Ja. Nein . . . . Aber das sind Dinge, die du nicht zu verstehen brauchst.
– Ich bitte den gnädigen Herrn, mir zu verzeihen, daß ich so frei war, den gnädigen Herrn zu fragen.
– Fahren wir fort: Kennst du La Tourgue?
– Ob ich es kenne! Dort bin ich ja her.
– Wie so her?
– Nun ja, weil ich aus Parigné bin.
– Allerdings: Parigné liegt ganz nah bei La Tourgue.
– Ob ich es kenne, das große runde Schloß! Es ist ja das Stammschloß meines gnädigen Herrn! Ein großes eisernes Thor ist daran, welches das alte Schloß von dem neuen absperrt; mit Kanonen könnte man's nicht sprengen. In dem neuen Schloß ist auch das berühmte Buch über den heiligen Bartholomäus zu sehen, das die Leute ehemals zu betrachten kamen. Ganz klein habe ich auf dem Grasplatz gespielt, wo die vielen Frösche sind. Und der unterirdische Gang erst! Den weiß vielleicht kein Mensch mehr außer mir.
– Ein unterirdischer Gang. – Was willst du damit sagen?
– Das war für die früheren Zeiten, damals als La Tourgue noch belagert wurde. Da konnten die Leute sich durch den Gang flüchten, der unter der Erde bis tief in den Wald hineinführt.
– Einen solchen Gang giebt es allerdings im Schloß La Jupellière und auch in dem von La Hunaudaye und im Thurm von Champéon, aber in La Tourgue ist nichts dergleichen vorhanden.
– Ja doch, gnädiger Herr. Die Durchgänge, von denen der gnädige Herr sprechen, sind mir zwar unbekannt. Ich weiß blos um den zu La Tourgue, weil dort eben meine Heimath ist. Aber außer mir dürfte schwerlich Jemand darum wissen. Man sprach davon nicht; es war verboten, weil man den Gang zur Zeit des Herrn von Rohan im Krieg benutzt hatte. Mein Vater kannte das Geheimniß und hat mir's gezeigt. So kenne denn auch ich den geheimen Eingang und den geheimen Ausgang; vom Wald kann ich in den Thurm und vom Thurm in den Wald gelangen, ohne daß mich Einer sieht. Und deshalb findet der Feind auch Niemand mehr, wenn er in das Schloß eindringt. Ja, so ist das eingerichtet in La Tourgue; ich weiß es genau.
– Du bist offenbar im Irrthum, erwiderte der Greis, nachdem er eine Weile nachgesonnen, wenn etwas Derartiges da wäre, müßte ich es kennen.
– Gnädiger Herr, ich bin meiner Sache gewiß. Es ist ein Stein, der sich dreht.
– So, so! Nun ja, von Steinen wißt ihr Bauern alles Mögliche zu erzählen, von Steinen, welche sich drehen, welche singen oder welche des Nachts an den Bach gehen, um zu trinken. Ammenmärchen.
– Wenn ich aber dem gnädigen Herrn sage, daß ich selber gesehen habe, wie sich der Stein drehte.
– Wie viel Andere haben ihn nicht auch singen hören! La Tourgue, mein Sohn, ist ein sicheres, festes Castell und leicht zu vertheidigen; allein wer sich auf einen unterirdischen Weg verlassen wollte, um zu entkommen, der wäre auf dem Holzweg.
– Aber gnädiger Herr . . . . .
– Verlieren wir keine Zeit, unterbrach ihn der Greis mit einem Achselzucken, und kommen wir auf das Wichtigere zurück.
Dieser entschiedene Ton setzte jedem weiteren Betheuern eine Schranke.
– Fahren wir fort, sagte der Greis. Von Rougefeu, hörst du wohl, geht es dann in den Wald von Montchevrier; dort haust Benedicite, das Oberhaupt der Zwölf, auch Einer von den Rechten. Während er die Gefangenen füsiliren läßt, pflegt er sein »Benedicite« zu beten. Ja, nur keine Empfindelei in Kriegszeiten. Von Montchevrier gehst du . . . . Fast hätte ich das Geld vergessen, fiel er sich plötzlich ins Wort, und zog aus seiner Tasche eine Börse und ein Portefeuille, die er Halmalo übergab: Das Portefeuille hier enthält dreißigtausend Livres in Assignaten, etwas wie drei Livres zehn Sous. Die Scheine sind zwar falsch, aber die echten sind deshalb um keinen Heller mehr werth. In dem Beutel, paß auf, sind hundert Louisdor. Es ist meine ganze Baarschaft; hier brauche ich so kein Geld mehr, und es ist auch besser, wenn keines bei mir gefunden werden kann. Jetzt höre weiter: Von Montchevrier begibst du dich nach Antrain zu Herrn von Frotté, von Antrain nach La Jupellière zu Herrn von Rochecotte, von La Jupellière nach Noirieux zu dem Abbé Baudoix. Kannst du das Alles auswendig behalten?
– Wie das Vaterunser.
– In Saint-Brice-en-Cogles sprichst du mit Herrn Dubois-Guy, in dem befestigten Marktflecken Morannes mit Herrn von Turpin und in Château-Gonthier mit dem Fürsten von Talmont.
– Darf ich mit einem Fürsten denn auch sprechen?
– Sprichst du nicht auch mit mir?
Halmalo verneigte sich.
– Jeder, dem du die Lilie von Madame vorzeigst, wird dich willkommen heißen. Vergiß nicht, daß du Ortschaften berühren wirst, wo patschfüßiges Gebirgsvolk haust. Du wirst dich dann verkleiden müssen. Geht ganz leicht; so dumm sind diese Republikaner, daß Einen Keiner beachtet, wenn man nur einen blauen Rock, den dreieckigen Hut und die dreifarbige Kokarde trägt. Regimenter giebt es ja nicht mehr, Uniformen auch nicht; die Abtheilungen haben keine Nummern mehr und Jeder steckt sich in den Trödel, der ihm gerade paßt. Hernach gehst du nach Saint-Hervé zu Gaulier, auch Grand-Pierre geheißen; dann nach Parné, wo Männer mit geschwärzten Gesichtern im Quartier liegen; sie schießen mit Kies und mit doppelter Pulverladung, um mehr Lärm zu machen; daran thun sie auch recht; aber vor Allem schärfe ihnen ein: nur immer todtschlagen, todtschlagen, todtschlagen! Dann gehst du ins Lager von La Vache-Noire, das auf einer Anhöhe mitten im Wald von La Charnie liegt, ferner ins Lager von L'Avoine, ferner ins Lager Camp-Vert, ferner ins Lager von Les Fourmies, ferner nach Le Grand-Bordage, das auch Le Haut-du-Pré genannt wird; dort wohnt eine Wittwe, deren Tochter Treton, den sie auch »den Engländer« nennen, geheirathet hat. Le Grand-Bordage gehört zur Gemeinde von Quelaines. Auch Epineux-le-Chevreuil, Sillé-le-Guillaume, Parannes und die nächstliegenden Waldungen wirst du bereisen. Allenthalben wirst du Freunde treffen; die schickst du zur Grenzscheide von Ober- und Nieder-Maine. Endlich wirst du noch Jean Treton in der Gemeinde von Baisges, Sans-Regret in Le Bignon, Chambord in Bonchamps, die Gebrüder Corbin in Maisoncelles in Saint-Jean-sur-Erve le Petit-sans-Peur aufsuchen, der auch Bourdoiseau heißt. Wenn du das Alles besorgt und Jedem die Parole gegeben hast »Zu den Waffen – ohne Pardon«, wirst du dich der großen katholisch-königlichen Armee anschließen, wo sie zur Zeit gerade kampiren wird. Dort meldest du dich bei den Herren d'Elbée, von Lescure, von La Rochejacquelein, kurz bei den Chefs, die dann noch am Leben sein werden, und zeigst Ihnen meine Kommandoschleife vor. Sie werden sie schon erkennen; du bist zwar nur ein Matrose, aber Cathelineau ist auch nicht mehr als ein Fuhrmann. Du wirst ihnen in meinem Namen Folgendes verkünden: Es ist nun an der Zeit, beide Kriege zugleich zu führen, den großen und den kleinen; der große macht lautern Lärm, der kleine ausgiebigere Geschäfte; die Vendée ist allerdings gut, aber die Chouans sind ärger, und im Bürgerkrieg ist das Aergste stets das Beste, denn der Werth einer Kriegführung läßt sich überhaupt nur nach dem angerichteten Schaden bemessen.
Und in einen anderen Ton übergehend, fuhr der Greis fort:
– Von Allem, was ich dir da gesagt habe, hast du vielleicht nicht jedes Einzelne, den Sinn aber des Ganzen gewiß begriffen. Ich habe Vertrauen zu dir gefaßt, als ich zusah, wie du unser Boot lenktest; ohne je Geometrie gelernt zu haben, wußtest du doch die überraschendsten, scharfsinnigsten Schwenkungen zu erdenken; wer mit einer Barke so umzugehen versteht, gibt auch einen Lootsen ab für eine Volkserhebung; der Art nach, wie du mit der See fertig geworden bist, darf ich von dir erwarten, daß du alle meine Aufträge in entsprechender Weise ausführen wirst. Vernimm jetzt meine letzten Worte, die du den Generälen mittheilen sollst, dem Sinne nach, so gut du es eben vermagst – es wird schon richtig sein:
Ich ziehe den Krieg im Busch dem Krieg auf offenem Felde vor und trage kein besonderes Gelüste darnach, hunderttausend Bauern vor den Gewehrsalven der Blauen und der Artillerie des Herrn Carnot regelrecht in Reih und Glied zu stellen. Innerhalb eines Monats will ich fünfmalhunderttausend Schützen auf dem Anstand stehen haben in den Wäldern. Die republikanischen Regimenter sind mein Wild; meine Soldaten sollen Jäger sein; ich bin der Stratege des Busches . . . . ah, schon wieder ein Ausdruck, der dir nicht geläufig ist; thut aber nichts; klar wird dir schon dieses sein: Keinen Pardon! überall eine Falle. Weniger Gelehrsamkeit und mehr Hinterlist! Du wirst hinzufügen, daß wir die Engländer auf unserer Seite haben. Nehmen wir die Republik in ein Kreuzfeuer! Europa kommt uns zu Hilfe. Zertreten wir die Revolution! Im Osten hat sie den Krieg mit den Königreichen; im Westen erhebe sich der Kreuzzug der Dörfer! So wirst du zu ihnen sprechen. Hast du verstanden?
– Ja. Dreinfahren mit Feuer und mit Schwert!
– Recht so.
– Niemals Pardon geben.
– Keinem, recht so.
– Ich werde überall hingehen.
– Aber Vorsicht, denn hier zu Lande wird man leicht ein stiller Mann.
– Mich kümmert das wenig. Man weiß so nie, ob man den ersten Schritt nicht in den letzten Schuhen thut.
– Tapfer gesprochen.
– Und wenn man mich nach dem Namen des gnädigen Herrn fragt?
– Der muß noch verschwiegen werden. Du wirst einfach die Wahrheit sagen, daß du ihn nicht weißt.
– Und wo werde ich den gnädigen Herrn wiederfinden?
– Wo ich gerade zugegen sein werde.
– Aber wie soll ich das erfahren?
– Von selbst, denn Jedermann wird es wissen. Ehe acht Tage vergehen, will ich von mir reden lassen, will den König und die Kirche durch Strafgerichte rächen, und du wirst schon erkennen, daß ich es bin, von dem geredet wird.
– Ich weiß schon.
– Also nichts vergessen.
– Seien Sie ganz unbesorgt.
– Und jetzt behüte dich Gott. Geh!
– Alles werde ich thun, wie Sie gesagt, werde gehen, werde sprechen, werde befehlen.
– Gut.
– Und wenn mir's gelingt . . .
– Mach' ich dich zum Sanct-Ludwigsritter.
– Wie meinen Bruder, und wenn mir's nicht gelingt, mögen Sie mich erschießen lassen.
– Wie deinen Bruder.
– Einverstanden, gnädiger Herr.
Der Greis senkte das Haupt und verfiel in strenges Sinnen. Als er wieder aufblickte, war er allein. Ein schwarzer, schwindender Punkt, verlor sich Halmalo schon am Horizont. Die Sonne war eben untergegangen. Die großen und kleinen Möven kamen heimgeflogen von draußen, vom Meer. Man fühlte jene Bangigkeit durch die Lüfte zittern, welche der Nacht vorangeht. Mitten unter dem Schmettern des Unkenrufs umflatterten die Wasserschnepfen mit schrillem Schrei die Pfützen, an denen sie gesessen; die Raben, Krähen, Dohlen stimmten ihr abendliches Gekrächze an; alle Vögel des Strandes lockten einander herbei. Von einem menschlichen Wesen keine Spur; in der Bucht kein Segel, kein Bauer drüben auf dem Gefild. So weit das Auge reichte, auf der öden Fläche die tiefste Einsamkeit. Die großen Sanddisteln schauerten zusammen; vom weißverdämmernden Himmel strömte noch über See und Küste ein fahler Widerschein, und fernab auf der finsteren Ebene schillerte hin und wieder ein Teich wie eine hingenagelte große Zinnplatte, indeß ein Windhauch landeinwärts hinstrich über die Fluthen.