Victor Hugo
1793
Victor Hugo

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Fünftes Buch.
In daemone deus

I.
Gefunden, aber verloren

Als Michelle Fléchard den vom Abendroth beleuchteten Thurm entdeckte, war sie noch über eine Meile davon entfernt. Sie, die sich kaum noch einen Schritt weiter zu schleppen getraute, schrak jetzt vor dieser Meile nicht zurück. Weiber sind schwach, aber Mütter sind stark, und so wanderte sie denn weiter. Die Sonne war untergegangen; erst war die Dämmerung, später die Nacht hereingebrochen; unterwegs hatte sie aus der Ferne, auf einem ihr nicht sichtbaren Kirchthurm acht und dann neun schlagen hören, wahrscheinlich auf dem Kirchthurm von Parigné. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um einem dumpfen, stoßweisen Lärm zu lauschen, der sich wohl auf den Widerhall in der Nachtruhe zurückführen ließ. Schnurgerade schritt sie vor sich hin, über die Stechpfriemen und die schneidigen Schilfblätter weg mit ihren wunden Füßen, dem fernen Thurm zu, von dem ihr ein matter Schimmer leuchtete, aus dem er, von geheimnißvollem Glanz umwoben, dunkel hervorstach. Dieser Schimmer wurde bei jedem deutlicheren Schall heller und nahm dann wieder ab. Auf dem ausgedehnten, meistens mit Gras und Haidekraut bewachsenen Plateau, auf dem sich Michelle Fléchard fortbewegte, erhob sich weder ein Haus noch ein Baum. Es stieg verlorenerweise, unabsehbar an und durchschnitt mit einer harten geraden Linie, der ganzen Breite nach, den gestirnten Horizont. Was ihr Kraft verlieh auf dieser Wanderung, war das allmälige Anwachsen des ihr fortwährend aus der Ferne winkenden Thurms. Die gedämpften Schläge und der fahle Flimmer, die von ihm ausgingen, hatten, wie gesagt, ihre Höhen und Tiefen; bald setzten sie aus, bald waren sie wieder da und gaben der erbarmungswürdigen verzweifelnden Mutter wie ein herzbeklemmendes Räthsel zu lösen. Plötzlich hörte Alles auf; Lärm wie Licht verhallte und erlosch und es herrschte tiefe Stille, düsterer Friede. Gerade zu dieser Zeit erreichte Michelle Fléchard den Rand des Plateaus und gewahrte zu ihren Füßen eine Schlucht, deren Niederungen im weißlichen Nebel der Nacht verschwammen, zu ihrer Rechten, in einiger Entfernung, ein Gemisch von Rädern und durchbrochenen Erdaufwürfen, welches eine Geschützbatterie war, und vor sich, durch die glimmenden Lunten der Kanoniere spärlich erhellt, ein großes Gebäude, das aus dichteren Finsternissen als die umgebende Nacht zusammengeballt schien. Dies Gebäude war eine Art Schloß, welches sich über einer Brücke erhob, deren Pfeiler in die Schlucht hinabtauchten, und das sich an eine hohe, runde, schwarze Masse anlehnte, an den Thurm, welcher der Mutter als Ziel ihrer langen Wanderung vorgeschwebt hatte. Ab und zu sah man durch die Schießscharten des Thurms Lichter schimmern, und aus dem Getöse, das daraus hervorbrach, ließ sich schließen, daß ihn eine Menschenmenge besetzt hielt, von der auch zuweilen einige schwarze Gestalten oben auf die Plattform überströmten. Hinter der Batterie befand sich ein Lager, dessen Vorposten Michelle Fléchard zählen konnte, ohne daß sie in der Dunkelheit und im Gestrüpp selber von ihnen erblickt wurde. Sie stand dicht am Rand des Plateaus, so nahe bei der Brücke, daß sie glaubte, sie könne sie mit der Hand berühren, wiewohl die tiefe Schlucht dazwischen lag. Trotz der Finsterniß unterschied sie auch die drei Stockwerke des Brückenschlößchens. So verharrte sie vor dieser klaffenden Schlucht und diesem schwarzen Gebäude, wie lange wußte sie selber nicht, denn der Begriff der Zeit zerrann ihr im Hirn. Was war das Alles, und was ging hier vor? Stand sie vor La Tourgue? Sie war jenes heimlichen Schwindelns der Erwartung voll, das man bei einer Ankunft oder einem Aufbruch empfindet. Sie fragte sich, warum sie eigentlich hier sei und starrte und lauschte. Plötzlich sah sie nichts mehr. Zwischen ihr und dem Gegenstand, den sie betrachtete, war ein Schleier von Rauch aufgestiegen, dessen ätzende Schärfe sie die Augen zuzudrücken zwang. Sie hatte sie kaum geschlossen, da leuchtete es purpurn durch ihre Wimpern hindurch, und als sie wieder hinschaute, hatte sie die Nacht nicht mehr vor sich, sondern den hellen Tag, aber einen schrecklichen Tag, den künstlichen Tag einer Feuersbrunst, die unter ihren Blicken auszubrechen begann. Der schwarze Rauch war scharlachroth geworden und enthielt eine mächtige Flamme, die, aufflackernd und wieder verschwindend, jene unbändigen Krümmungen beschrieb, welche dem Blitz und den Schlangen eigen sind. Diese Flamme züngelte aus etwas heraus, das einem Rachen glich und ein Fenster voller Feuer war mit bereits weißglühenden Gitterstäben, eines der Fenster im untersten Stockwerk des Brückenschlößchens. Weiter war von dem ganzen Gebäude nichts mehr wahrzunehmen. Der Rauch verhüllte Alles, sogar das Plateau, von dem aus nur noch der Rand der Schlucht, schwarz auf blutigem Hintergrund, zu erblicken war. Staunend starrte Michelle Fléchard vor sich hin. Der Rauch ist eine Wolke, und die Wolke ist Traum; sie wußte nicht mehr, was sie vor sich hatte, ob sie fliehen, ob sie bleiben sollte; sie dünkte sich fast außerhalb der Wirklichkeit. Ein Windstoß, der vorüberfuhr, riß den Rauchschleier entzwei, und, plötzlich enthüllt und durch den Spalt hindurch sichtbar geworden, ragte die ganze tragische Ritterburg, Thurm, Brücke, Schlößchen, in der blendenden schauervoll herrlichen Vergoldung der Feuersbrunst strahlend, zum Himmel empor, so daß Michelle Fléchard jetzt bei der furchtbaren Klarheit der Flamme Alles unterscheiden konnte.

Ein Windstoß riß den Rauchschleier entzwei.

Das unterste Stockwerk des Brückenschlößchens brannte lichterloh. Die beiden oberen Stockwerke waren noch unversehrt, aber schwebten wie über einem Geflecht von Gluthen. Vom Vorsprung des Plateaus aus, wo Michelle Fléchard stand, konnte man, durch das Feuer und den Rauch, die davor aufwirbelten, stellenweise einen Blick thun. Alle Fenster waren geöffnet, und durch die sehr großen Fenster der zweiten Etage hindurch entdeckte Michelle Fléchard längs der Wand Schränke, welche Bücher zu enthalten schienen, und hinter dem einen Fenster, am Fußboden im Halbdunkel, eine kleine verworrene Gruppe, einen unbestimmten Knäuel, der aussah wie die Brut in einem Vogelnest; ihr war, als rege sich zuweilen dieses Etwas, und sie stierte zu ihm hinüber. Was mochte die kleine dunkle Gruppe wohl sein? Hin und wieder glaubte sie eine Aehnlichkeit mit lebenden Wesen darin zu erkennen; sie fieberte; seit früh Morgens hatte sie nichts genossen und war ohne Unterbrechung weiter gewandert; sie war todtmüde, und es tauchten krankhafte Phantasiegebilde vor ihr auf, vor denen sie instinktmäßig zurückbangte. Immer hartnäckiger bohrten sich ihre Blicke in jenes dunkle Häuflein von unbekannten, vermuthlich dennoch leblosen und anscheinend unbeweglichen Gegenständen auf dem Fußboden des über der Feuersbrunst ragenden Saales. Plötzlich streckte die Flamme drunten, als ob sie von einem eigenen Willen beseelt gewesen wäre, eine ihrer Zungen nach dem großen abgestorbenen Epheustamm hinaus, der die Michelle Fléchard zugekehrte Mauer des Schlößchens übersponnen hatte. Als ob dieses Netz von dürren Ranken erst jetzt durch die Gluth entdeckt worden wäre, so züngelte diese nun gierig darauf hin und klomm mit der gräßlichen Behändigkeit eines Lauffeuers daran empor. Im Nu hatte die Flamme das zweite Stockwerk erreicht und leuchtete von der Mauer her in den Saal hinein. In hellem Glanz hoben sich mit einem Mal die drei schlummernden Kleinen ab, ein reizendes Häuflein von verschränkten Aermchen und Beinchen und lächelnden blonden Lockenköpfchen mit geschlossenen Wimpern. Die Mutter erkannte ihre Kinder und stieß einen entsetzlichen Schrei aus, einen unnennbaren Jammerschrei, wie er nur den Müttern eigen ist, einen Schrei wild und rührend, wie sonst nichts auf Erden. Wenn ihn ein Weib ausstößt, so gellt eine Wölfin daraus hervor, und stößt ihn eine Wölfin aus, so glaubt man ein Weib zu hören. Homer nennt den Verzweiflungsschrei der Hekuba ein Gebell, und so war auch der Schrei von Michelle Fléchard eher ein Gebrüll zu nennen als ein Schrei. Dieses Gebrüll war es, das der Marquis von Lantenac vernommen hatte.

Er war, wie wir bereits wissen, stehen geblieben, und zwar zwischen der Schlucht und der Mündung des Durchgangs, durch welchen Halmalo ihn aus dem Thurm hinausgeleitet. Zwischen dem über ihm verschlungenen Gesträuch hindurch sah er die Brücke in Flammen, deren Widerschein den Thurm röthete, und durch eine andere Lichtung der Zweige, auf der entgegengesetzten Seite, über seinem eigenen Haupt, am Rande des Plateaus, dem brennenden Schloß gegenüber und von der Feuersbrunst taghell überstrahlt, die verstörte Jammergestalt eines über die Schlucht vorgebeugten Weibes. Dieses Weib, das den Schrei ausgestoßen hatte, war aber nicht mehr Michelle Fléchard; es war eine Medusa. Die Elenden sind auch die Schreckenbringenden. Die Bäuerin war zur Eumenide verklärt, und das unbedeutende, gewöhnliche, unwissende, stumpfsinnige Weib aus dem Dorf war urplötzlich zur epischen Größe der Verzweiflung emporgewachsen, denn ein wilder Schmerz dehnt die Seele ins Gigantische aus. Diese Mutter war jetzt die Mutterliebe selber; Alles, was ein menschliches Empfinden erschöpft, ist übermenschlich, und so bäumte sie sich denn auch am Rand dieser Schlucht, vor diesem Gluthenmeer, vor diesem Verbrechen, wie eine Beherrscherin der Unterwelt, mit dem Schrei eines Thiers und den Geberden einer Göttin; flammende Flüche schleuderte ihr Haupt wie das Schlangenhaupt der Gorgo, und man konnte nichts gebieterisch Erhabeneres sehen als den Blick ihrer thränenverschwommenen Augen, als diesen Blick, der ein Wetterstrahl war auf die Feuersbrunst. Der Marquis aber horchte auf die abgebrochenen, herzzerreißenden Laute, die ihm gleichsam aufs Haupt herunterhagelten und die mehr ein Schluchzen waren als ein Reden.

– Ach! großer Gott! Meine Kinder! Meine Kinder sind es! Zu Hilfe! Feuer! Feuer! Feuer! Mordbrenner seid Ihr ja! Ist denn Niemand hier? Meine Kinder müssen ja verbrennen! Ach! ist das ein Tag! Georgette! Meine Kinder! Gros-Alain! René-Jean! Was soll denn das Alles bedeuten? Wenn ich nur wüßte, wer meine Kinder da hineingethan hat? Sie schlafen. Ich bin verrückt! Es ist nicht möglich. Hilfe!

Unterdessen war in La Tourgue und auf dem Plateau Alles lebendig geworden. Das ganze Lager lief um das brennende Gebäude zusammen. Kaum waren die Belagerer mit den Kugeln fertig, und schon wartete ihrer ein neuer Kampf. Gauvain, Cimourdain, Guéchamp ertheilten Befehle. Was thun? Aus dem kärglichen Bächlein in der Schlucht ließen sich mit knapper Noth ein paar Eimer Wasser schöpfen. Immer höher stieg die Bestürzung. Der Vorsprung des Plateaus stand voller Leute, die mit verstörten Gesichtern hinüberschauten; und was sie sahen, war auch entsetzlich, und sie mußten es mit ansehen und konnten nicht helfen. An den brennenden Epheuranken hatte das Feuer das oberste Stockwerk erreicht, in dem eine Unmasse von Stroh aufgespeichert lag, über das es herfiel. Schon stand der ganze Dachboden in Flammen; sie tanzten förmlich darin hin und her voll düsterer Freude, denn es war, als fache ein verruchter Hauch diesen Scheiterhaufen an, als hause hier, in einen Funkenwirbel verwandelt, der schauervolle Imânus, als sei er zu einem mörderischen Gluthendasein neu erwacht und als flackere seine ungeheuerliche Seele nun als Feuersbrunst auf. Das mittlere Stockwerk war zwar noch nicht ergriffen worden, weil die hohe Decke und die dicken Mauern die Flammen noch abhielten, aber der verhängnißvolle Augenblick rückte immer näher; an den Dielen der Bibliothek leckte die Feuersbrunst des Erdgeschosses und den Plafond streichelte die Feuersbrunst der Dachkammer; schon streifte die Kinder der gräßliche Kuß des Todes; unten ein Keller voll Lava und oben ein Gewölbe voll glühenden Kohlen. Ein Loch im Fußboden, und Alles versank im Pechpfuhl; ein Loch in der Decke, und Alles wurde unter den knisternden Heubündeln begraben.

René-Jean, Gros-Alain und Georgette waren noch nicht erwacht; sie schliefen den tiefen urkräftigen Schlaf der Kindheit, und zwischen den Flammen und dem Rauch, die vor den Fenstern ab- und zuwogten, sah man sie, wie von einem Heiligenschein umstrahlt, friedlich, anmuthig und regungslos in ihrer Feuergrotte daliegen wie drei Jesuskindlein, die voller Vertrauen in einer Hölle eingeschlummert sind, und ein Tiger selbst hätte weinen müssen, wenn er diese Rosen in diesem Gluthofen erblickt hätte und diese Wiegen in diesem Grab. Drüben aber rang die Mutter die Hände: Feuer! Ich rufe Feuer! Ist denn Alles taub, daß mir Niemand antwortet? Sie verbrennen mir meine Kinder! So kommt doch her, Ihr Leute von dort drüben! Bin schon seit so viel Tagen unterwegs und muß sie so wiederfinden! Feuer! Hilfe! Es sind ja kleine Engel! Wenn man bedenkt, daß es kleine Engel sind! Was haben sie denn gethan, die unschuldigen Würmer? Mich hat man erschossen und sie verbrennt man! Wer macht denn das Alles nur? Hilfe! Rettet meine Kinder! Hört Ihr mich nicht? Ein Hund, mit einem Hund hätte man Erbarmen! Meine Kinder! Meine Kinder! Sie schlafen! Ach! Georgette! Dort sehe ich dem lieben Ding seinen kleinen Bauch! René-Jean! Gros-Alain! Ja, so heißen sie. Ihr seht wohl, daß ich die Mutter bin. Was heut zu Tage geschieht, ist ja niederträchtig. Tag und Nacht bin ich gelaufen. Erst heute Morgen habe ich noch mit einer Frau gesprochen. Hilfe! Hilfe! Feuer! Ist man denn lauter Ungeheuer hier? Es ist geradezu abscheulich! Der Aelteste ist keine fünf Jahre alt, das Kleine noch keine zwei. Dort sehe ich ihre nackten Beinchen. Sie schlafen, o Du gütige Mutter Gottes! Die Hand des Himmels giebt sie mir zurück und die Hand der Hölle nimmt sie mir wieder weg. Und so weit habe ich gehen müssen! Meine Kinder, die ich mit meiner Milch getränkt habe! Und war noch unglücklich darüber, daß ich sie nicht finden konnte! So habt doch Erbarmen mit mir! Meine Kinder begehr ich zurück; ich muß meine Kinder wieder haben! Ach! Es ist wirklich wahr, daß sie da drüben mitten im Feuer sind! Da seht nur meine armen Füße, die ich mir blutig lief. Hilfe! Es ist nicht möglich, daß es Menschen giebt in der Welt, und daß man die armen Kleinen so zu Grunde gehen läßt! Hilfe! Mörder! So was ist ja noch nie vorgekommen. O die Mordbrenner! Was ist denn das für ein gräßlich Haus! Gestohlen hat man sie mir, um sie umzubringen! Jesus Maria, ist das ein Elend! Ich will meine Kinder! O ich weiß garnicht mehr, was ich thun könnte! Sie dürfen nicht sterben. Hilfe! Hilfe! Hilfe! Wenn sie mir so wegsterben, o dann möcht ich den lieben Herrgott umbringen!

Während dieser fürchterlichen Beschwörung der Mutter rief es auf dem Plateau und in der Schlucht durcheinander:

– Eine Leiter her!

– Man hat keine Leiter.

– Wasser!

– Wir haben keins!

– Da droben im Thurm, im zweiten Stock, ist eine Thür!

– Sie ist von Eisen.

– Schlagt sie ein!

– Es geht nicht!

Und immer verzweifelter heulte die Mutter: Feuer! Hilfe! Aber so macht doch! Oder dann tödtet mich! Meine Kinder! Meine Kinder! O das entsetzliche Feuer! Holt sie heraus oder schmeißt mich hinein! Und in den kurzen Pausen, die diese Wehrufe von einander trennten, hörte man die Feuersbrunst ruhig weiterprasseln.

Der Marquis, seine Tasche befühlend, berührte den eisernen Schlüssel. Dann ging er auf das Gewölbe zu, durch das er sich geflüchtet hatte, bückte sich und trat in die soeben verlassene Galerie zurück.

II.
Von der steinernen zur eisernen Thür

Eine ganze Armee, außer sich, vor einer unlösbaren Aufgabe, viertausend Mann, unfähig, drei Kindern zu Hilfe zu kommen, das war die Situation. Leitern waren keine da, und die von Javené war ausgeblieben; wie wenn sich ein Krater aufthut, griff die Feuersbrunst immer mehr um sich. Der Versuch, mit dem Wasser aus dem beinah versiegten Bach zu löschen, wäre kaum weniger lächerlich gewesen, als wenn man ein Glas Wasser über einen Vulkan ausschütten wollte.

Cimourdain, Guéchamp und Radoub waren in die Schlucht, Gauvain wieder in den Saal des zweiten Stockwerks von La Tourgue gestiegen, wo sich der Drehstein mit dem geheimen Ausgang und die eiserne Thür der Bibliothek befanden, wo der Imânus die Schwefellunte angezündet und von wo aus das Feuer sich verbreitet hatte. Dorthin hatte Gauvain zwanzig Sappeurs mitgenommen, denn nur wenn die eiserne Thür gesprengt wurde, konnte geholfen werden. Sie war verzweifelt gut verschlossen. Man versuchte es zunächst mit Beilhieben, aber die Aexte brachen.

– Auf diesem Eisen, sagte einer der Sappeurs, springt der Stahl wie Glas.

Die Thür bestand auch in der That aus doppelten, mit Riegelnägeln aneinander geschmiedeten, je drei Zoll dicken Platten von Eisenblech. Nun stemmte man Eisenstangen darunter, um sie aus den Angeln zu heben; die Eisenstangen brachen.

– Wie Schwefelfaden, sagte der Sappeur.

Düster murmelte Gauvain vor sich hin: Nur mit Kanonenkugeln wäre der Thür beizukommen. Ein Geschütz müßte hier heraufgeschafft werden können.

– Und dann! sagte der Sappeur.

Eine momentane Niedergeschlagenheit hatte Platz gegriffen. Alle die ohnmächtigen Arme hielten inne, und stumm, besiegt, bestürzt, starrten die Männer die abscheuliche, unerschütterliche Thür an. Ein rother Widerschein schimmerte darunter hervor, denn dahinter nahm die Feuersbrunst immer zu und unheimlich triumphirend lag der gräßliche Leichnam des Imânus in der Nähe. Noch ein paar Minuten vielleicht und das Schlößchen sank in sich zusammen. Was noch versuchen? Es war keine Hoffnung mehr, und mit bitterem Ingrimm, den Blick auf den verdrehten Stein und auf die Lücke in der Mauer geheftet, rief Gauvain: Und dem Marquis von Lantenac hat dieses Loch zur Flucht verholfen!

– Wie zur Rückkehr, sagte eine Stimme, und in dem Mauerrahmen des geheimen Ausgangs erschien ein weißes Haupt.

Es war wirklich der Marquis. Gauvain, der ihn seit langen Jahren so nah nicht gesehen hatte, that einen Schritt rückwärts und wie versteinert verharrten alle Anwesenden in ihrer zufälligen Stellung.

Der Marquis hielt einen großen Schlüssel in der Hand. Mit einem herrischen Blick brachte er einige Sappeurs, die vor ihm standen, zum Weichen, ging schnurstracks auf die eiserne Thür los, bückte sich unter die Wölbung und steckte den Schlüssel ins Loch. Das Schloß knarrte; die Thür sprang auf und mit festem Fuß und hohem Haupte trat der Marquis in den Flammenpfuhl, der dahinter sichtbar wurde, hinein. Schaudernd folgte ihm Alles mit den Blicken. Kaum hatte er in dem brennenden Saal einige Schritte gethan, so sank, vom Feuer angefressen und vom Tritt des Marquis erschüttert, der Fußboden hinter ihm zusammen, so daß jetzt zwischen ihm und der Thür ein Abgrund klaffte. Aber er wendete den Kopf nicht um, und man sah ihn weiterschreiten, bis er im Rauch verschwand. Was war aus ihm geworden? Hatte sich ein neuer Krater unter ihm geöffnet? War ihm blos gelungen, mit zu Grunde zu gehen? Das wußte Keiner. Man hatte eine Mauer von Gluth und Rauch vor sich und hinter dieser Mauer befand sich, todt oder lebendig, der Marquis.

III.
Das Erwachen der Kinder, die man einschlafen sah

Endlich hatten die Kinder die Augen wieder aufgeschlagen.

Die Feuersbrunst, welche den Bibliotheksaal noch nicht ergriffen hatte, warf einen rosenrothen Widerschein gegen die Decke, eine Art Morgenroth, das den Kindern unbekannt war. Sie schauten hin und Georgette träumte sich sogar hinein. Alle Herrlichkeiten des Elements entfalteten sich vor ihren Blicken. In der dunkeln und goldigen Pracht der ungeberdigen Rauchsäulen tummelten sich die schwarze Hydra und der blutrothe Drache. Lange davonfliegende Feuerbrände zogen Flammenstreifen durch die Finsterniß, als wären sie hintereinander herstürzende, kämpfende Kometen. Eine Feuersbrunst ist eine Verschwenderin, welche die Juwelen ihrer Gluthherde in alle Winde streut, und nicht umsonst ist der Diamant identisch mit der Kohle. In der Mauer des dritten Stockwerks waren Risse entstanden, aus denen ganze Kaskaden von Edelsteinen in die Schlucht hinabperlten, und in Lawinen von Goldstaub stoben die entzündeten Hafer- und Strohmassen des Dachbodens aus den Fenstern, und aus den Haferkörnern waren Amethysten und aus den Strohhalmen Karfunkel geworden.

– Nett! sagte Georgette.

Sie saßen alle Drei aufrecht.

– Ha! schrie die Mutter; sie erwachen!

René-Jean stand zuerst auf, dann Gros-Alain und dann Georgette. René-Jean streckte die Aermchen, trat ans Fenster und sagte: Es ist so warm.

– So warm, wiederholte Georgette.

Nun rief die Mutter zu ihnen herauf: Meine Kinder! René! Alain! Georgette!

Die Kinder schauten rings um sich und suchten das Alles zu begreifen. Was Männer mit Grausen erfüllt, weckt bei Kindern nur die Neugierde. Je leichter aber Jemand in Staunen geräth, desto schwerer geräth er in Furcht; wer unwissend ist, ist auch unerschrocken, und Kinder sind ja so unschuldig, daß sie selbst die Hölle, wenn sie sich vor ihnen aufthäte, noch bewundern würden.

– René! Alain! Georgette! wiederholte die Mutter.

René-Jean wendete den Kopf um, denn diese Stimme hatte ihn aus seiner Zerstreutheit herausgerissen; das Gedächtniß der Kinder ist kurz, aber ihre Erinnerungen lassen sich um so rascher wachrufen; ihre ganze Vergangenheit ist für sie ein einziges Gestern; René-Jean fand es nur selbstverständlich, daß er seine Mutter wiedersah, und da, unter den Wunderdingen, die ihn umgaben, ein verworrenes Gefühl der Hilfsbedürftigkeit in ihm aufkam, schrie er: Mama!

– Mama! schrie Gros-Alain.

– Mam! schrie Georgette und streckte die Aermchen nach ihr aus.

– Meine Kinder! brüllte die Mutter.

Jetzt standen sie alle Drei am Fenstersims; glücklicherweise wüthete die Feuersbrunst vor diesem Fenster gerade nicht.

– Es ist zu heiß, sagte René-Jean und setzte noch hinzu: Es brennt mich. Und er blickte wieder nach seiner Mutter: Komm doch her, Mama!

– Her, Mam! wiederholte Georgette.

Mit zerrauftem Haar, zerfetzt, blutend, hatte sich die Mutter von Strauch zu Strauch in die Schlucht hinabgleiten lassen, wo Cimourdain und Guéchamp sich, ganz wie droben im Thurm Gauvain, ihre Ohnmacht eingestehen mußten. Um sie her wimmelte es von Soldaten, die über ihr unnützes Zuschauen ganz außer Fassung geriethen. Die unerträgliche Hitze blieb völlig unbeachtet; Alles war in die Betrachtung der ragenden Brücke, der steilen Pfeiler, der hohen Stockwerke, der unerreichbaren Fenster und der Notwendigkeit schleunigsten Eingreifens versunken. Volle drei Etagen! Ein Hinaufklimmen war undenkbar. Radoub, verwundet, mit einem Säbelstich in der Schulter und einem weggeschossenen Ohr, war, von Schweiß und Blut triefend, herbeigestürzt, und erkannte Michelle Fléchard.

– Sieh da, sagte er, die Füsilirte! Sind Sie denn aus dem Grab auferstanden?

– Meine Kinder! schrie die Mutter.

– Ganz recht, antwortete Radoub; für die Gespenster haben wir keine Zeit.

Und nun machte er einen vergeblichen Versuch an einem der Brückenpfeiler hinaufzusteigen. Er krallte seine Nägel in die Fugen und kletterte ein paar Sekunden; aber die Steinschichten waren glatt, ohne jeden Bruch oder Vorsprung; das Mauerwerk war noch so unversehrt wie am ersten Tag, und Radoub glitt wieder herab. Fürchterlich wüthete die Feuersbrunst weiter. Im Rahmen des gerötheten Fensters sah man die drei blonden Köpfchen auftauchen, und Radoub erhob die geballte Faust zum Himmel, als suche er dort Jemand mit den Blicken, und rief: Ist das eine Aufführung, Du Herrgott?

Auf den Knieen hielt die Mutter einen Brückenpfeiler umfangen und schrie: Gnade!

Durch das Prasseln der Flammen hindurch erdröhnte ein dumpfes Gekrach. Klirrend fielen droben die gesprungenen Scheiben der Wandschränke herab. Das Gebälk gab offenbar schon nach. Hier konnte keine menschliche Kraft mehr Hilfe schaffen. Ein Augenblick noch, so mußte Alles in sich zusammenbrechen, und während man nichts mehr erwartete als die Schlußkatastrophe, hörte man die kleinen Stimmen immer ängstlicher herabrufen: Mama! Mama!

Der Gipfelpunkt des Entsetzens war erreicht.

Plötzlich erschien am Fenster, das dem, wo die Kinder standen, zunächst lag, vor dem purpurrotem Hintergrund der Feuerbrunst eine hohe Gestalt. Mit stieren Blicken staunte jetzt Alles zu ihr hinauf. Droben, im Bibliotheksaal, im Gluthofen, war ein Mann; schwarz hob er sich ab vom Schein der Flammen; nur das Haar schimmerte weiß, und man erkannte jetzt den Marquis von Lantenac. Der schauerlich ragende Greis verschwand wieder, kam aber bald darauf mit einer ungeheuern Leiter zurück. Er hatte die gegen die Wand der Bibliothek gelehnte Rettungsleiter geholt und zum Fenster geschleppt. Er packte sie bei dem einen Ende und ließ sie mit der vollendeten Meisterschaft eines Athleten über den Mauerkranz in die Schlucht hinabgleiten. Von unten streckte Radoub, außer sich vor Freude, die Hände danach aus, faßte sie an und rief, indem er sie an die Brust preßte: Es lebte die Republik!

– Es lebe Seine Majestät der König! antwortete der Greis.

– Meinetwegen schreie Du den blühendsten Unsinn in die Welt, murrte Radoub; der liebe Herrgott bist Du doch.

Sowie die Verbindung zwischen der Schlucht und dem brennenden Saal durch die Leiter hergestellt war, eilten zwanzig Mann herbei und faßten, Radoub voran, von oben bis herab gegen die Sprossen gelehnt, in gleichmäßigen Zwischenräumen Posto darauf, wie die Maurer, wenn sie Backsteine hinauf oder hinunter schaffen. Ganz oben auf dieser Leiter von Holz und von Menschen stand Radoub dicht vor dem Fenster, der Feuersbrunst zugekehrt. Von allen Gemüthsbewegungen gleichzeitig durchschüttert, drängte sich das ganze auf der Haide und der Böschung zerstreute kleine Heer zum Plateau, zur Schlucht, zur Plattform des Thurms.

Wieder verschwand der Marquis und kehrte dies Mal mit einem der Kinder zurück, dem nächstbesten, das er hatte greifen können; es war Gros-Alain, welcher jammerte: Ich fürchte mich.

Der Marquis kehrte mit einem der Kinder zurück.

Der Marquis reichte Gros-Alain dem Sergeanten hin; dieser reichte ihn seinerseits dem unter und hinter ihm lehnenden Soldaten, der ihn in ähnlicher Weise weiter beförderte. Während der erschrockene, schreiende Gros-Alain auf diesem Wege von Arm zu Arm hinuntergelangte, kam der abermals verschwundene Marquis mit René-Jean ans Fenster zurück, der sich unter Thränen wehrte und Radoub ins Gesicht schlug, als er diesem vom Marquis überliefert ward. Und zum dritten Mal eilte Lantenac in den flammenerfüllten Saal zu der allein noch übrig gebliebenen Georgette; da sie ihm zulächelte, fühlte dieser Mann von Erz, wie ihm etwas Feuchtes in die Augen trat und fragte:

– Was hast Du für einen Namen?

– Orgette, sagte sie.

Er nahm die immer noch lächelnde Kleine auf den Arm, und im Augenblick, wo er sie Radoub einhändigte, bewältigte der blendende Abglanz der Unschuld auch dieses steilragende, verdüsterte Gewissen und der Greis gab dem Kind einen Kuß.

– Das kleine Mädel! jubelten die Soldaten, und unter schwärmerischen Zurufen glitt nun auch Georgette von Arm zu Arm zur Erde nieder. Die alten Grenadiere klatschten in die Hände, stampften mit den Füßen, schluchzten, und Georgette lächelte noch immer.

Unten an der Leiter stand die Mutter, athemlos, von Sinnen, von all dem Unerwarteten berauscht, unmittelbar aus der Hölle hinabgeschleudert ins Paradies. Auch die Ueberfülle der Wonne reißt das Herz in Stücke. In ihren weit ausgestreckten Armen empfing sie zuerst Gros-Alain, dann René-Jean, dann Georgette; sie bedeckte sie, ohne sie mehr von einander unterscheiden zu können, mit Küssen, brach in ein krampfhaftes Gelächter aus und fiel ohnmächtig zu Boden.

– Gerettet, Alle! donnerte es in die Weiten.

Gerettet waren in der That Alle, mit Ausnahme des Greises. Aber an den dachte kein Mensch, vielleicht er selber am Wenigsten.

Er blieb eine Zeit lang sinnend am Fenster stehen, als wolle er dem flammenden Schlund eine Frist geben, um sich zu entscheiden. Dann schwang er sich ohne jegliche Hast, gemächlich und stolz, auf das Gesims und stieg ohne umzuschauen, aufrecht gegen die Sprossen gelehnt, die Feuersbrunst hinter sich und dem Abgrund zugewendet, mit der stummen Majestät eines Phantoms allmälig an der Leiter herab. Wer noch darauf stand, eilte hinunter. Alle Anwesenden überlief ein Schauer, und wie vor einem übermenschlichen Gesicht wich Jedermann vor dem niederschreitenden Greis in heiliger Scheu zurück. Feierlich tauchte er immer tiefer in die Finsterniß, die sich unter ihm dehnte, und näherte sich der vor ihm zurückfluthenden Menge. In seinen marmorblassen Zügen war kein Zucken, in seinem geisterhaften Auge kein Aufblitzen zu entdecken; mit jedem Schritt, den er jenen Männern entgegenthat, die in der Dunkelheit ihre starren Blicke auf ihn hefteten, erschien er größer; die Leiter bebte und stöhnte unter seinen gespenstischen Tritten, und man hätte ihn für die Statue des Kommandeurs halten können, der in die Gruft zurückkehrte.

Dann stieg der Marquis, aufrecht gegen die Sprossen gelehnt, an der Leiter herab.

Als der Marquis unten angelangt war, als er den Fuß von der letzten Sprosse auf festen Boden gesetzt hatte, senkte sich eine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich um.

– Ich verhafte Dich, sagte Cimourdain.

– Ich stimme Dir bei, sagte Lantenac.


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