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Als Halmalo gänzlich verschwand, hüllte sich der Greis fester in seinen Fischermantel und trat seinen Gang an, langsam, nachdenklich; indessen Halmalo in der Richtung von Beauvoir fortgeeilt war, wendete er sich gegen Huisnes. Hinter ihm ragte das kolossale domgekrönte, mauernumgürtete Dreieck des Mont Saint-Michel mit seinen zwei festen östlichen Thürmen, dem runden und dem viereckigen, die dem Felsenhügel die Last seiner Kirche und seines Dorfes tragen zu helfen scheinen. Der Mont Saint-Michel ist die Pyramide dieser Meereswüste.
Der Triebsand der Bucht von Saint-Michel baut seine Dünen nicht immer an denselben Stellen auf. Damals erhob sich zwischen Huisnes und Ardevon eine sehr hohe, seitdem durch eine besonders heftige Sturmfluth zerstörte Düne, die ausnahmsweise sehr alt und mit einem Gedenkstein geschmückt war, zur Erinnerung an das Konzil, welches im zwölften Jahrhundert nach der Ermordung des heiligen Thomas von Canterbury zu Avranches zusammenberufen worden. Von dieser Düne aus hatte man weit und breit einen deutlichen Ueberblick über die ganze Umgebung. Der Greis ging darauf los und bestieg sie. Oben angelangt, setzte er sich auf eine Stufe unten am Gedenkstein, lehnte sich mit dem Rücken an denselben an und schaute hinab auf die lebende Landkarte, die vor ihm ausgebreitet lag. In der ihm sonst wohlbekannten Gegend schien er einen besonderen Weg ausklügeln zu wollen. Die Dämmerung hatte übrigens das große Bild schon zu trüben begonnen, und scharf hob sich nur der Horizont ab, schwarz vom weißen Himmel; doch konnte man noch die Dächergruppen von elf Flecken oder Dörfern genau unterscheiden, sowie auch auf mehrere Meilen hinaus die Kirchtürme am Strande, die sehr hoch gebaut sind, um den Seeleuten nöthigenfalls zur Orientirung zu dienen.
Nach einer Weile schien der Greis im Zwielicht das entdeckt zu haben, was er suchte, denn sein Blick ruhte nun mitten in der Ebene auf einem Komplex von Bäumen, Mauern und Dächern, die offenbar zu einer Meierei gehörten, und er nickte befriedigt mit dem Kopfe, wie Einer, der zu sich selber sagt: das ist das Richtige; dann begann er, mit dem Finger durch die Luft hin- und herfahrend, sich den Entwurf eines Weges durch Felder und Hecken vorzuzeichnen. Von Zeit zu Zeit richtete er seine besondere Aufmerksamkeit auf einen schwankenden undeutlichen Gegenstand, welcher sich über dem Hauptgebäude der Meierei bewegte, und schien sich zu fragen, was das sei; bei dieser vorgerückten Tageszeit sah dieser Gegenstand farblos und verschwommen aus; ein Wetterhahn konnte es nicht sein, denn er flatterte, und zu der Annahme, es sei eine Fahne, war kein Grund vorhanden.
Der Greis war müde; es that ihm wohl, so dazusitzen und jenem lösenden Vergessen nachzugehen, das mit der ersten Minute des Rastens über den erschöpften Menschen kommt. Es gibt eine Stunde im Tag, die sich durch das Nichtsein jeglichen Geräusches kennzeichnen ließe; es ist die Abendstunde, die Stunde der Weihe. Und die war jetzt da, und der alte Mann ruhte in ihr, und betrachtete ihre Stille und lauschte ihrer Stille. Grausame Naturen empfinden zuweilen eine Regung von Melancholie.
Plötzlich wurde das Schweigen durch menschliche Stimmen eher hervorgehoben als unterbrochen. Frauen- und Kinderstimmen, die, wie die lustige Melodie eines Glockenspiels überraschend, in der ernsten Nacht ertönten. Die Sprechenden, durch Hecken verdeckt, gingen unten an der Düne vorbei, der Ebene und den Wäldern zu, und frisch und klar klang es empor zu dem sinnenden Greis; gerade jetzt war die Gruppe so nah, daß er jedes einzelne Wort vernehmen konnte.
Eine der Frauenstimmen sagte:
– Ist ja die reine Schneckenpost mit der Fléchard. Schneller, Frau! Ist das hier unser Weg?
– Nein, der kleinere dort.
Und nun wurde auf die Fragen der einen, resoluten Stimme von der anderen in schüchternem Tone weiter geantwortet:
– Wie heißt der Meierhof, wo wir kampiren?
– L'Herbe-en-Pail.
– Haben wir noch weit hin?
– Eine starke Viertelstunde.
– Nehmen wir den Weg unter die Füße! Die Suppe wird kalt.
– Wir sind freilich etwas spät dran.
– Laufen wäre eigentlich das Beste. Aber Ihre kleinen Kerle sind müde, und wir zwei können die Würmer doch nicht alle drei auf den Armen fortschleppen. Sie haben an dem Mädel so schon genug zu tragen, Sie Gluckhenne. Ein wahrer Klotz. Entwöhnt haben Sie's freilich, das gefräßige Ding, aber herumtragen thun Sie's immer noch. Schlechte Gewohnheiten das. Sollten's marschiren lassen. Na, jetzt ist doch Alles eins. Kalt ist die Suppe so wie so schon.
– Sind das einmal gute Schuhe, die ihr mir geschenkt habt, ganz wie für mich angemessen.
– Ist doch gescheiter, als barfuß hinzutappen.
– René-Jean, mach doch größere Schritte!
– Ja, denn du bist schuld daran, daß wir uns verspätet haben. Muß der Schlingel bei jedem kleinen Bauernmädel stehen bleiben und schwatzen. Das will schon ein Mannsbild sein.
– Mein Gott, er geht eben in's fünfte Jahr.
– René-Jean, sage einmal, warum hast du die Kleine drüben im Dorf angeredet?
Eine Kinderstimme, der man anhörte, daß sie eines Knaben Stimme war, erwiderte:
– Weil das Eine ist, die ich kenne.
Die resolute Stimme entgegnete: – Was? die kennst du?
– Freilich, heute Morgen hat sie mir ja Herrgottskäferchen geschenkt.
– Das ist mir doch etwas bunt! rief das Weib. Kaum drei Tage hier im Quartier, und die kleine Kröte hat euch schon einen Schatz!
Dann verhallten die Stimmen, und es ward wieder still.
Der Greis regte sich nicht. Er war mehr in ein Träumen als in ein Sinnen vertieft. Rings um ihn her war Alles Friede, Schlummer, Vertrauen, Abgeschiedenheit. Auf der Düne war es noch ganz hell, aber auf der Ebene schon dunkel und gegen die Wälder zu ganz schwarz. In Osten ging der Mond auf und am Zenith durchstachen schon einige Sterne das mattblaue Himmelszelt. Der Mann war, trotz aller Gedanken und Leidenschaften, die in ihm wühlten, versenkt in das unaussprechlich Milde der Unendlichkeit. Er fühlte ein räthselhaftes Dämmern in sich emporsteigen – die Hoffnung, wenn sich das Siegesahnen eines Bürgerkriegs eine Hoffnung nennen kann. Im gegenwärtigen Augenblick, eben entronnen jenem unerbittlichen Meer, unter den Füßen wieder festen Boden, dünkte er sich befreit von jeglicher Gefahr. Niemand wußte um seinen Namen; er war allein, jede Spur hinter ihm verloren, denn auf der See läßt Keiner eine Fährte zurück; geborgen, unbekannt sogar dem Verdacht, empfand er etwas wie eine triumphirende Besänftigung. Um ein Haar wäre er eingeschlafen. Was für ihn, in dem und um den so vieles tobte, dieser flüchtigen Stunde des Friedens einen so seltenen Reiz verlieh, war jenes tiefe Schweigen im Himmel und auf der Erde. Hören konnte man blos den Wind von der See her landeinwärts sausen; aber der Wind ist nur eine fortdauernde Baßbegleitung, an die sich das Ohr so schnell gewöhnt, daß er fast aufhört, ein Geräusch zu sein.
Plötzlich sprang der Mann empor.
Etwas Ueberraschendes hatte ihn aufgeschreckt, etwas, das seinem Blick eine eigene Starrheit verlieh. Sein Blick aber war auf den Horizont geheftet, auf einen Punkt, den Kirchthurm von Cormeray, der im Hintergrund in gerader Linie vor ihm stand. In diesem Kirchthurm ging in der That etwas Absonderliches vor sich. Seine nach oben zu pyramidenförmige Silhouette ragte in scharfen Umrissen, und da wo der Thurm in die Pyramide überging, konnte man den viereckigen, durchbrochenen Glockenstuhl unterscheiden, der, ohne Wetterdach, bretonischem Brauch gemäß nach allen vier Seiten hin offenstand. Dieser Glockenstuhl nun erschien plötzlich abwechselnd offen und verschlossen und zwar in gleichmäßigen Zwischenräumen; einmal war sein hohes Fenster ganz weiß, dann wieder ganz schwarz, bald sah man den Himmel durchscheinen, bald wieder nicht mehr, und dieses Hell und Dunkel, dies Oeffnen und Schließen erfolgte Sekunde auf Sekunde wie der regelmäßige Schlag des Hammers auf den Amboß. Der Kirchthurm von Cormeray stand etwa zwei Meilen weit von der Düne. Der Greis sah nun weiter rechts nach dem Kirchthurm von Baguer-Pican, der gleichfalls am Horizont emporragte; auch dort schloß und öffnete sich der Glockenstuhl gleich dem von Cormeran. Er schaute links nach dem Kirchthurm von Tanis: der Glockenstuhl von Tanis ging auf und zu wie der von Baguer-Pican. So betrachtete er der Reihe nach alle am Horizont sichtbaren Thürme, links die von Courtils, von Précey, von Crollon und von La Croix-Avranchin, rechts die von Raz-sur-Couesnon, Mordray, les Pas, und geradeaus den Thurm von Pontorson: die Glockenstühle all dieser Thürme erschienen abwechselnd schwarz und weiß.
Was sollte das? Das konnte nur bedeuten, daß man die Glocken in Bewegung setzte, und zwar mußte die Bewegung eine ungeheuer gewaltsame sein, sonst hätten die geschwungenen Glocken die Fenster nicht so vollständig decken und wieder frei lassen können. Und warum läuten die Glocken? Sie läuteten offenbar Sturm. Ja, Sturm und wahnsinnig Sturm, Sturm von allen Seiten, von jedem Thurm, in jeder Gemeinde, in jedem Dorf. Und dennoch hörte man nichts, denn die Thürme standen zu fern, so daß der Wind, der von der See herbrauste, keinen Ton bis zur Düne vordringen ließ und den Lärm in entgegengesetzter Richtung über den Horizont hinaustrug.
Dort überall die wüthenden Glocken, mit ehernen Zungen Groß und Klein herbeibrüllend, und hier die Todtenstille: der Gegensatz war grauenvoll.
Der Greis starrte und lauschte. Er sah das Sturmgeläut anstatt es zu hören. Ein Sturmgeläute sehen: fast ein übernatürliches Schauspiel! Für wen aber flogen diese Glocken? Gegen wen läutete man Sturm?
Offenbar wurde Jagd gemacht auf Jemand. Aber auf wen? Durch die Stahlnerven des Greises fuhr ein Schauder. Und doch, ihm konnte das wohl nicht gelten. Seine Ankunft hatte man nicht errathen können; die kommissarisch abgeordneten Konventmitglieder konnten davon unmöglich schon unterrichtet sein; er war ja kaum erst gelandet. Von der Korvette war zweifellos nicht ein Mann am Leben geblieben, und wenn auch, außer Boisberthelot und La Vieuville hatte an Bord keine Seele um seinen Namen gewußt.
Mechanisch betrachtete und zählte er die Kirchtürme, die ihre wilde Thätigkeit ununterbrochen fortsetzten, und seine Gedanken huschten von einer Vermuthung zu der andern mit jener schwanken Hast, welche das Umschlagen gänzlicher Sorglosigkeit in schreckliche Gewißheit mit sich bringt. Da dieses Sturmläuten aber schließlich sich auf die verschiedensten Beweggründe zurückführen ließ, suchte er sich zu guter Letzt durch das Bewußtsein zu beruhigen: »Eigentlich kann weder meine Ankunft noch mein Name irgend wem bekannt sein.«
Seit einigen Augenblicken schon war über und hinter ihm ein leises Geräusch entstanden, ähnlich dem Rascheln des bewegten Blattes eines Baumes. Zuerst beachtete er es nicht; da dieses Geräusch jedoch hartnäckig fortbestand, ja sogar einigermaßen wie auf einer Absicht bestand, drehte er sich endlich um. Und ein Blatt war's auch in der That, aber ein Blatt Papier. Der Wind war nämlich damit beschäftigt, ein großes an den Gedenkstein angeklebtes Plakat gerade über dem Kopf des Greises loszulösen. Das Plakat war dort erst seit Kurzem angeschlagen, denn es war noch feucht und hatte deshalb vom Wind gefaßt werden können, der nun mit ihm spielte und es mit sich fortzureißen drohte. Da der Greis die Düne von der entgegengesetzten Seite bestiegen hatte, war ihm, als er oben ankam, das Plakat nicht aufgefallen. Nun schwang er sich auf die Stufe, wo er eben noch gesessen hatte, und hielt den Zettel an der einen Ecke fest, die im Wind flatterte; der Himmel war noch ziemlich hell, denn im Juni hält die Dämmerung geraume Zeit an; unter der Düne war es stockfinster, aber oben glänzte noch ein Schimmer; übrigens war das Plakat zum Theil mit großen Lettern gedruckt, so daß man es immerhin leidlich lesen konnte. So las der Greis denn Folgendes:
Französische eine und untheilbare Republik.
»Wir, Prieur, Abgeordneter des Departements der Marne, Kommissär des Nationalkonvents bei der Küstenarmee von Cherbourg, verordnen:
Der vormalige Marquis von Lantenac und Vicomte von Fontenay, der sich auch für einen bretonischen Fürsten ausgiebt, ist heimlich an der Küste von Granville gelandet und wird hiermit für außer dem Gesetz stehend erklärt. Auf seinen Kopf ist ein Preis von sechzigtausend Livres gesetzt, welche Summe an denjenigen, der ihn todt oder lebendig einliefern wird, ausgezahlt werden soll, und zwar nicht in Assignaten, sondern in Gold. – Ein Bataillon der Küstenarmee von Cherbourg wird sofort zur Verfolgung und Festnahme des vormaligen Marquis von Lantenac ausrücken. –
Die Gemeindebehörden werden aufgefordert, den Truppen hierzu nach Kräften beizustehen. – Gegeben im Rathhaus zu Granville am 2. Juni 1793. – Gezeichnet: Prieur (Marne)«.
Unter diesem Namen befand sich noch eine zweite Unterschrift, aber in viel kleineren Lettern, so daß sie bei der eintretenden Dunkelheit nicht mehr zu entziffern war.
Der Greis drückte den Hut tiefer in die Stirn, hüllte sich bis an's Kinn in seinen Fischermantel und stieg mit raschen Schritten in die Ebene hinunter. Für ihn war es offenbar von keinem Nutzen, sich im Zwielicht der Anhöhe länger aufzuhalten.
Vielleicht hatte er sich schon zu lang dort aufgehalten; von der ganzen Landschaft war der obere Theil der Düne der einzige noch beleuchtete Punkt.
Unten in der Dunkelheit angekommen, mäßigte der Greis seinen Schritt. Er schlug den Weg nach dem Meierhof ein, wie er sich's bereits oben vorgezeichnet hatte; zu dieser seiner Wahl bewogen ihn aller Wahrscheinlichkeit nach triftige Gründe der Sicherheit.
Alles war wie ausgestorben. Um diese Stunde war Niemand mehr außer Hause.
Hinter einer Hecke blieb er stehen, zog seinen Mantel aus, wendete seine Jacke nach der behaarten Seite, band sich den zerrissenen Mantel wieder um und ging weiter. Man hatte jetzt Mondschein. An einer Stelle, wo sich der Weg abzweigte, erhob sich ein altes, steinernes Kreuz, an dessen Sockel ein weißes Viereck schimmerte, vermuthlich ein ähnliches Plakat wie auf der Düne. Der Greis trat darauf zu.
– Wo gehen Sie hin? rief ihn eine Stimme an.
Er wendete sich um und sah einen Mann zwischen den Hecken stehen, hochgewachsen wie er selbst, wie er alt, wie er weiß von Haar und in der Kleidung noch zerlumpter als er, kurz, beinahe einen Doppelgänger. Dieser Mann, der sich auf einen langen Stock stützte, wiederholte:
– Ich frage Sie, wohin Sie gehen?
– Und ich frage, wo ich bin, lautete die ruhige, fast gebieterische Antwort.
– In der Herrschaft von Tanis, erwiderte der Mann, die mir zum Betteln, Ihnen aber zu eigen gehört.
– Mir zu eigen?
– Ja wohl. Ihnen, Herr Marquis von Lantenac.
Der Marquis von Lantenac – von nun an nennen wir ihn bei seinem Namen – antwortete tiefernst:
– Gut. Liefern Sie mich aus.
– Wir sind Beide hier zu Hause, Sie im Schloß und ich im Busch.
– Machen wir ein Ende. Nur zu! Liefern Sie mich aus, sagte der Marquis.
Der Mann fuhr wieder fort: Sie wollten doch zur Meierei von Herbe-en-Pail, nicht? – Ja. – Bleiben Sie weg. – Warum? – Weil dort die Blauen sind. – Seit wann denn? – Seit drei Tagen. – Und haben sich die Leute vom Hof und vom Weiler gewehrt? – Nein. Sie haben alle Thüren aufgemacht. – Ach! sagte der Marquis.
Und der Mann wies mit dem Finger nach dem Dach des Hauptgebäudes, das in einiger Entfernung aus den Bäumen hervorragte:
– Das Dach sehen Sie doch, Herr Marquis? – Ja. – Sehen Sie auch das Ding droben? – Das hin und herweht? – Ja. – Es ist eine Fahne. – Blau weiß roth, sagte der Mann.
Es war das der Gegenstand, der schon auf der Düne die Aufmerksamkeit des Marquis auf sich gelenkt hatte.
– Wird nicht Sturm gelautet? fragte der Marquis. – Ja. – Und weshalb? – Unzweifelhaft Ihretwegen. – Aber man hört ja nichts? – Von wegen dem Wind. Haben Sie Ihren Zettel schon gesehen? – Ja. – Man fahndet auf Sie. Drüben, setzte er mit einem Blick nach dem Meierhof hinzu, liegt ein halbes Bataillon. – Republikaner? – Pariser. – Nun also, sagte der Marquis, gehen wir! Und er that einen Schritt in der Richtung der Meierei. Der Mann faßte ihn beim Arm: Gehen Sie nicht hin! – Wohin denn sonst? – Zu mir.
Der Marquis schaute den Bettler an.
– Wissen Sie, Herr Marquis, sagte dieser, schön ist es bei mir nicht, aber geheuer. Ein Keller ist höher als meine Hütte. Mein Fußboden ist eine Streu von Seegras und meine Zimmerdecke ein Geflecht von Zweigen und Gräsern. Kommen Sie mit. In der Meierei würden Sie erschossen werden. Bei mir werden Sie schlafen, denn Sie sind gewiß müde. Morgen früh marschiren die Blauen wieder ab, und Sie können dann weitergehen nach Belieben.
Immer noch betrachtete der Marquis diesen Mann.
– Auf welcher Seite stehen Sie denn eigentlich? fragte er ihn; sind Sie Republikaner oder sind Sie Royalist? – Ich bin ein Armer. – Weder Royalist noch Republikaner? – Ich glaube kaum. – Sind Sie für den König oder gegen ihn? – Zu derlei Sachen habe ich keine Zeit. – Aber wie denken Sie über Alles, was hier vorgeht? – Ich kann mich nicht satt essen. – Aber Sie wollen mir doch helfen. – Ich weiß, daß Sie außer dem Gesetz stehen. Was ist das eigentlich, das Gesetz? Es kann Einer also außer ihm stehen? Das begreife ich nicht. Und ich für mein Theil, steh' ich innerhalb des Gesetzes oder außerhalb? Weiß ich's? Verhungern, ist das gesetzlich? – Seit wann verhungern Sie? – Seitdem ich lebe. – Und Sie retten mich? – Ja. – Warum? – Weil ich zu mir selber gesagt habe: Der da ist noch ärmer als du; du hast wenigstens das Recht, zu athmen, und er hat nicht einmal das. – Allerdings. Und Sie wollen mich also retten? – Gewiß. Jetzt sind wir Brüder, gnädiger Herr. Ich verlange ein Stück Brod und Sie ein Stück Leben. Wir sind zwei Bettler. – Wissen Sie aber nicht, daß auf meinem Kopf ein Preis steht? – Ja. – Woher wissen Sie's? – Ich habe den Zettel gelesen. – Lesen können Sie? – Ja, und schreiben auch. Warum sollt' ich sein wie das Vieh? – Da Sie also lesen können und den Zettel auch gelesen haben, müssen Sie doch wissen, daß, wer mich ausliefert, sechzigtausend Francs bekommt? – Das weiß ich auch. – Und nicht etwa in Assignaten. – Nein, ich weiß schon, in Gold. – Und Sie wissen doch, daß sechzigtausend Francs ein Vermögen sind? – Ja. – Und daß demnach, wer mich ausliefert, sich ein Vermögen macht? – Ja, und was weiter? – Sein Glück macht? – Gerade daran habe ich ja gedacht. Wie ich Sie sah, habe ich für mich selber so gemeint: Wenn man sich sagen muß, daß Jeder darauf rechnen kann, sechzigtausend Francs zu bekommen und sein Glück zu machen, wenn er den Mann da ausliefert, – mein Gott! da hat es wahrhaftig Eile, daß ihn Unsereiner in Sicherheit bringt.
Der Marquis folgte dem Bettler. Beide betraten ein Dickicht, das den Schlupfwinkel des Bettlers barg; es war dies eine Art Wohnstätte, in welcher eine große Eiche den Mann duldete, eine unter den Wurzeln des Baumes ausgehöhlte Behausung, der die Wurzeln als Dachsparren dienten, finster, niedrig, eingezwängt, allen Blicken entrückt. Raum war genug vorhanden für Zwei.
– Ich bin schon vorgesehen für den Fall, daß ich Jemand bei mir bewirthe, sagte der Bettler.
Solch ein unterirdisches Obdach kommt in der Bretagne weniger selten vor, als man glauben dürfte, und heißt in der Sprache der dortigen Bauern ein »carnichot«. Mit demselben Namen bezeichnet man auch ein kleines in der Tiefe einer Mauer angebrachtes ähnliches Versteck. Das ganze Mobiliar besteht aus einigen Töpfen, einem elenden Lager von Stroh oder von gewaschenem und getrocknetem Seegras, einer groben Wolldecke und einigen Talglichtern nebst Feuerzeug.
Halb duckend, halb kriechend drangen die beiden Männer in dies Gemach, das durch große Baumwurzeln in wunderliche Fächer eingetheilt war, und setzten sich auf die Streu von Seegras, welche das Bett vorstellte. Der Raum zwischen zwei Wurzeln, durch den sie sich eben durchgezwängt hatten, die Zimmerthür also, gab noch etwas Licht. Es war allerdings Nacht geworden, aber das Auge, wenn es sich einmal an die Dunkelheit gewöhnt hat, findet immerhin noch ein bischen Helle in der Finsterniß; zudem warf der Mond hier und dort einen matten weißlichen Flimmer durch die Zweige in das Dickicht. In einem Winkel lagen in einer Schüssel neben einem Wasserkrug Kastanien und ein dünner Buchweizenfladen.
– Essen wir etwas, sagte der Arme.
Und sie theilten sich in die Kastanien; der Marquis zog sein Stück Zwieback aus der Tasche und Beide aßen sie nun aus einer Schüssel und tranken sich zu aus demselben Krug. Der Marquis eröffnete das Gespräch, indem er den Mann weiter ausforschte:
– Ob also alles Mögliche sich ereignet oder gar nichts, das läßt Sie vollkommen kalt?
– So ziemlich. Sie und Ihresgleichen, die großen Herren, haben sich um derlei zu kümmern.
– Aber wenn nun einmal Dinge geschehen . . .
– Sie geschehen weit über mir. Und dann, setzte der Bettler hinzu, geschehen noch weiter oben auch Dinge; die Sonne geht auf; der Mond nimmt zu oder ab: das sind die Dinge, mit denen ich mich beschäftige.
Er that einen Zug aus seinem Kruge:
– Gutes frisches Wasser, sagte er, und wendete sich dann wieder zu dem Marquis: Wie schmeckt Ihnen dieses Wasser, gnädiger Herr?
– Wie heißen Sie denn? fragte der Marquis.
– Ich heiße Tellmarch, und sie nennen mich den »Caimand«.
– Ja, ich weiß; »Caimand« ist ein altes bretonisches Wort.
– Das so viel bedeutet wie Bettler. Oft werde ich auch der Alte genannt. Schon volle vierzig Jahre, fügte er hinzu, heißen sie mich den Alten.
– Vierzig Jahre! Aber Sie waren doch jung?
– Jung bin ich nie gewesen. Sie, Herr Marquis, sind es immer noch, haben die Beine eines Zwanzigers, können auf die große Düne steigen. Ich fange bereits an, mich des Gehens zu entwöhnen; schon nach der ersten Viertelstunde bin ich erschöpft. Und doch stehen wir in gleichen Jahren. Aber die Reichen haben eben vor Unsereinem das voraus, daß sie jeden Tag essen. Essen erhält bei Kräften.
Nach einer kurzen Pause meinte der Bettler:
– Ja, die Armuth und der Reichthum, das sind heillose Sachen, die sind an jenem großen Unglück Schuld. Mir kommt es wenigstens so vor. Die Armen wollen reich und die Reichen nicht arm werden. Daran scheint mir's zu liegen. Ich mische mich in nichts ein. Was geschieht, lasse ich eben geschehen. Ich halte weder zum Gläubiger noch zum Schuldner. Ich weiß nur, daß es eine Schuld giebt und daß sie bezahlt wird, mehr nicht. Mir wäre lieber gewesen, sie hätten den König nicht umgebracht, aber warum, das könnte ich schwerlich sagen. Uebrigens entgegnet man mir andererseits: Aber früher, wie hat man euch da die Leute baumeln lassen für nichts und wider nichts! Sehen Sie, ich war selber dabei, wie zur Strafe für einen elenden Büchsenschuß auf ein königliches Stück Wild ein Mann gehängt wurde, welcher eine Frau und sieben Kinder hatte. Ueber beide Theile ließe sich eben Manches sagen.
Und nachdem er abermals einige Augenblicke geschwiegen, fuhr er fort:
– Sie verstehen ja schon; das sind blos so Gedanken; man kommt; man geht; es geschehen allerhand Dinge; aber ich, ich betrachte mir die Sterne.
Wieder träumte er eine Weile vor sich hin:
– Ich bin ein klein wenig Bader und Arzt, kenne mancherlei Kräuter und weiß, wofür sie gut sind; weil ich oft bei Kleinigkeiten stehen bleiben kann, halten mich die Bauern so halb und halb für einen Hexenmeister. Aber nachdenken und den Grund finden, sind zweierlei.
– Sie sind wohl in dieser Gegend geboren? fragte der Marquis.
– Ich bin nie draußen gewesen.
– Sie kennen mich?
– Gewiß. Zum letzten Mal habe ich Sie vor zwei Jahren gesehen, als Sie hier durchkamen, um nach England zu gehen. Und als nun vorhin oben auf der Düne ein so großer Mann stand – hochgewachsene Leute sind ja selten bei uns; einen kleinen Menschenschlag haben wir hier zu Land, in der Bretagne – nun, da habe ich recht hingeschaut; den Zettel hatte ich gelesen, und habe zu mir selber gesagt: ei, sieh einmal! Und als Sie nun herunterstiegen, da schien der Mond, und ich habe Sie erkannt.
– Aber ich kenne doch Sie nicht.
– Sie haben mich gesehen und doch nicht gesehen. Ich aber, setzte Tellmarch der »Caimand« hinzu, ich sah Sie jedes Mal.
– Bin ich Ihnen früher denn öfters begegnet?
– Gewiß; ich bettle ja auf Ihrem Grund und Boden. Ich war der Arme unten am Schloßweg; Sie haben mir manchmal ein Almosen gegeben; aber der, welcher schenkt, schaut nicht hin; der nur, der empfängt, beobachtet und prüft. Ein Bettler ist ein Späher; ich aber, wenn ich auch nicht selten traurig bin, suche ein Späher zu sein, der's gut meint. Ich hielt die Hand hin, und Sie sahen blos die Hand und warfen das Almosen hinein, das ich des Morgens bekommen mußte, wenn ich am Abend nicht verhungern sollte. Es kann schon leicht passiren, daß man durch vierundzwanzig Stunden keinen Bissen unter die Zähne kriegt; dann ist ein halber Groschen das geschenkte Leben, und so haben Sie mich am Leben erhalten, und das zahle ich Ihnen zurück.
– In der That; Sie sind mein Retter.
– Ja, der bin ich, gnädiger Herr, sagte Tellmarch fast feierlich, aber unter einer Bedingung.
– Und die wäre?
– Daß Sie nicht hergekommen sind, um das Böse zu thun.
– Nur Gutes zu stiften, kam ich her, erwiderte der Marquis.
– So legen wir uns denn schlafen, sagte der Bettler.
Und sie streckten sich neben einander auf das Lager von Seegras hin. Der Bettler schlief gleich in der ersten Minute ein. Der Marquis aber, obwohl er sehr müde war, richtete sich wieder auf und träumte eine Weile vor sich hin; warf dann in der Dunkelheit einen Blick auf den Bettler und legte sich nieder. Wer in einem solchen Bett liegt, liegt auf der Erde; diesen Umstand benutzte der Marquis, um sein Ohr gegen den Boden zu drücken und zu horchen. Er vernahm ein unterirdisches dumpfes Summen. Bekanntlich findet jeder Lärm seinen Widerhall in den Tiefen des Erdbodens, und so konnte man denn hören, daß immer noch Sturm geläutet wurde. Jetzt erst schlief der Marquis ein.
Als er aufwachte, war es Tag. Der Bettler stand, auf seinen Stock gestützt, draußen am Eingang der Höhle, denn drinnen aufrecht zu stehen, war unmöglich. Sein Gesicht war von einem Sonnenstrahl beleuchtet.
– Gnädiger Herr, sagte Tellmarch, eben hat es vier Uhr geschlagen auf dem Kirchthurm von Tanis; ich habe jeden Glockenschlag gehört. Also hat sich der Wind gedreht und weht jetzt vom Land her; sonst aber läßt sich nichts vernehmen; also wird nicht mehr Sturm geläutet. Im Hof und im Weiler von Herbe-en-Pail ist Alles ruhig; entweder schlafen die Blauen noch oder sie sind schon auf und davon. Die drohendste Gefahr ist vorüber; es wird gut sein, wenn wir uns trennen. Dies ist die Stunde, wo ich mich auf den Weg mache. Und nach einer Seite des Horizonts hindeutend, setzte er hinzu: Nach der Richtung, da gehe ich. Dann bezeichnete er die entgegengesetzte: Gehen Sie nach jener dort.
Hierauf winkte er dem Marquis einen ernsten Gruß zu und sagte noch, indem er auf die Ueberreste des gestrigen Nachtmahls wies:
– Nehmen Sie sich ein paar Kastanien mit, wenn Sie hungrig sind.
In demselben Augenblick war er hinter den Bäumen verschwunden. Der Marquis stand auf und schlug die von Tellmarch angedeutete Richtung ein. Es war gerade jene liebliche Morgenstunde gekommen, die in der alten Sprache der Bauern aus der Normandie als »das Zwitschern des Tages« bezeichnet wird. Die Distelfinken und Sperlinge unterhielten sich mit einander in den Hecken. Der Marquis verließ das Dickicht und betrat den Fußweg, den er am Abend zuvor mit Tellmarch gegangen war. Ueber ein Kurzes befand er sich wieder bei jener Straßenverbindung, wo sich das steinerne Kreuz erhob. Schneeweiß schimmerte das Plakat unter der jungen Sonne; man hätte fast meinen dürfen, es habe eine stille Freude an ihr. Da erinnerte sich der Marquis, daß unter der Hauptanzeige noch etwas stand, das er gestern wegen der Feinheit der Lettern und der vorgerückten Tageszeit nicht hatte lesen können. Er trat an den Sockel des Kreuzes. Die Bekanntmachung schloß in der That, unter der Unterschrift »Prieur (Marne)«, mit den kleingedruckten Zeilen:
»Gleich nach Feststellung der Identität des vormaligen Marquis von Lantenac wird derselbe standrechtlich erschossen werden. – Gezeichnet: der Bataillonschef und Kommandirende der Streifkolonne, Gauvain.«
– Gauvain! murmelte der Marquis, und in tiefem Sinnen, mit beharrlichem Blick den Zettel anschauend, wiederholte er: Gauvain!
Nun that er ein paar Schritte, wendete aber um, trat wieder vor das Kreuz hin und las die Anzeige nochmals. Dann erst entfernte er sich langsam, und wenn Jemand zugegen gewesen wäre, hätte er ihn noch zuweilen vor sich hinmurmeln hören: Gauvain!
Von den Hohlwegen aus, durch die er nun weiter wanderte, waren die Dächer des Meierhofs, den er links liegen gelassen, nicht sichtbar: Er schritt eine steile Anhöhe entlang, die übersät war mit blühenden Stechpfriemen von einer besonderen Gattung, die längere Dornen hat. Diese Anhöhe gipfelte in einer jener Spitzen, die man in der dortigen Gegend einen Kopf nennt. Dicht unten am Abhang verlor sich der Blick in den Bäumen, deren Laub wie getränkt war von Sonnenschein. Die ganze Natur athmete Morgenfreudigkeit.
Da, plötzlich, schlug diese Freudigkeit in ihren Gegensatz um. Wie aus einem Hinterhalt platzte, der Sandsäule in der Wüste gleich, ein Gemisch von Wuthgebrüll und Gewehrfeuer auf die in Licht gebadeten Fluren und Wälder herab, und in der Richtung der Meierei erhob sich über züngelnden Flammen eine Rauchwolke, als wären Weiler und Hof eine einzige brennende Garbe. Der unvermittelt plötzliche Uebergang vom Ruhen zum Rasen, dieser Ausbruch einer Hölle mitten in dem Morgenfrieden, diese Schreckenshöhe ohne Zwischenstufen, boten einen grauenhaften Anblick. Um Herbe-en-Pail tobte der Krieg. Der Marquis blieb stehen. In derartigen Fällen – Jeder hat es an sich schon einmal erprobt – behält die Neugier die Oberhand über das Bewußtsein der Gefahr und lieber als im Unklaren zu bleiben, trotzt man dem Tod. Der Marquis bestieg die Anhöhe, unter welcher sich der Hohlweg hinzog. Zwar konnte er dort gesehen werden, dafür aber sah auch er. In wenig Minuten hatte er den Kopf erklommen und schaute.
Und wirklich, die Gewehrsalve und die Feuersbrunst, das Geschrei und die Flammen ließen nicht mehr daran zweifeln, daß der Meierhof von Herbe-en-Pail den Mittelpunkt einer Katastrophe bildete. Doch welcher Katastrophe? Herbe-en-Pail war angegriffen worden, aber durch wen? War das wirklich ein Gefecht, oder war es nicht eher eine militärische Exekution? Die Blauen steckten häufig, einer revolutionären Verordnung gemäß, die widersetzlichen Höfe und Dörfer zur Strafe in Brand; als abschreckendes Beispiel wurde jeder Hof oder Weiler eingeäschert, der es unterlassen hatte, die gesetzlich vorgeschriebene Anzahl Bäume zu fällen oder der republikanischen Kavallerie durch die Dickichte einen Weg zu brechen und zu bahnen. So war insbesondere die Gemeinde von Bourgon bei Ernée erst vor Kurzem verheert worden. Ob Herbe-en-Pail wohl dieses Schicksal theilte? Daß keine der gesetzlich befohlenen strategischen Arbeiten in den Wäldern und an den Umzäunungen von Tanis und Herbe-en-Pail vorgenommen worden, ließ sich mit Sicherheit behaupten. War das nun die Strafe dafür? Hatte die Avantgarde, welche die Meierei besetzt hielt, einen diesbezüglichen Befehl erhalten? Sie gehörte ja zu einer jener Streifkolonnen, denen der Beiname »infernalisch« zugelegt worden war.
Die Anhöhe, von deren Gipfel aus der Marquis seine Beobachtungen anstellte, war allenthalben von einem äußerst struppigen, wilden Dickicht eingefaßt, das man den Busch von Herbe-en-Pail nannte, trotzdem er die Ausdehnung eines Gehölzes hatte; er erstreckte sich bis an die Meierei und barg wie alle Wälder in der Bretagne ein ganzes Netz von Schluchten, Pfaden und Hohlwegen, in deren Labyrinth die republikanischen Truppen rathlos umherirrten.
Die Exekution, wenn es überhaupt eine solche war, mußte furchtbar gewesen sein, denn sie war von kurzer Dauer; die Brutalität arbeitet rasch, und der Bürgerkrieg bringt die Brutalität mit sich. Während der Marquis sich in hunderterlei Vermuthungen erging und, noch unschlüssig, ob er verschwinden oder bleiben solle, lauschte und spähte, hörte das Vernichtungsgetümmel auf oder stob vielmehr auseinander. Der Marquis vernahm etwas wie das Umherschwärmen wildfröhlicher Schaaren in dem Dickicht, ein schauerliches Hin- und Herwimmeln unter den Bäumen. Von der Meierei hatte sich's in den Wald gewälzt. Geschossen wurde nicht mehr, aber zum Angriff getrommelt. Das Ganze schien jetzt den Charakter eines Treibjagens anzunehmen; das Durchstöbern, Verfolgen und Hetzen deutete darauf hin, daß man Jemand auf der Spur war. Das Lärmen war ein räumlich zerstreutes und dennoch nachhaltiges, eine Mischung von Zorn- und Siegesrufen, die zu einem Getöse ineinanderschmolzen, so daß der Marquis keinen einzelnen Schrei heraushören konnte, bis plötzlich, wie die Form eines Gegenstandes aus einer abnehmenden Rauchwolke hervorsticht, dieser Lärm einen bestimmten deutlichen Laut von sich gab, einen Namen, der dem Lauschenden tausendstimmig in's Ohr schallte: Lantenac! Lantenac! Der Marquis von Lantenac!
Gefahndet wurde auf ihn.
Plötzlich, von allen Seiten, blitzte es im Dickicht ringsum von Gewehrläufen, Bajonetten und Säbeln; hinterher ragte im Halbdunkel eine dreifarbige Fahne; der Ruf »Lantenac!« donnerte dem Marquis entgegen, und ihm zu Füßen erschienen verwilderte Gesichter über den Dornbüschen und zwischen den Zweigen. Der Marquis stand allein, allen Blicken ausgesetzt auf der Anhöhe. Er konnte die, welche ihn beim Namen riefen, kaum sehen; sie aber sahen Alle ihn. Wenn das Dickicht tausend Flinten barg, so gab er die Zielscheibe ab für alle tausend. Deutlich unterschied er im Dickicht blos die vielen glühend nach ihm starrenden Augen.
Er nahm seinen Hut vom Kopf, stülpte die Krempe auf, riß von einer Pfriemenstaude einen langen dürren Dorn weg, zog eine weiße Kokarde hervor, heftete die Kokarde an die Krempe und diese an die Hutform fest und, indem er denselben so wieder aufsetzte, daß seine Stirn unter dem befestigten Hutrand und der Kokarde freistand, rief er laut, damit es der ganze Wald auf einmal höre: – Der bin ich, den ihr sucht. Ich bin der Marquis von Lantenac, Vikomte von Fontenay, bretonischer Fürst, Oberstkommandirender der Streitkräfte Seiner Majestät des Königs. Machen wir ein Ende! Legt an! Feuer!
Und die Jacke von Ziegenfell mit beiden Händen auseinanderreißend, entblößte er seine Brust. Als er hinabschaute, die auf ihn gerichteten Musketen mit dem Blick zu suchen, sah er sich umringt von einer knieenden Menge, die nun jubelnd aufschrie:
– Hoch Lantenac! Der gnädige Herr, hoch! Vivat unser General! Und Hüte flogen in die Höhe; Säbel wurden unter Jauchzen geschwungen und aus jedem Busch braunwollene Mützen auf langen Stöcken geschwenkt. Die Leute um ihn her, die sich bei seinem Anblick auf die Knie niedergeworfen hatten, waren Vendéer Aufständische. Sagenhaften Berichten aus dem Alterthum zufolge, sollen in den wildesten Waldrevieren von Thüringen seltsame gigantische Wesen gehaust haben, die sowohl als übermenschliche wie als unmenschliche Geschöpfe behandelt wurden, denn bei den Römern galten sie für Bestien und bei den Germanen für Halbgötter und kamen also je nach Umständen in die Lage, vertilgt oder angebetet zu werden. Der Marquis empfand jetzt wohl etwas Aehnliches wie eines jener Wesen, das schon darauf gefaßt, als Unthier niedergemetzelt zu werden, nun auf einmal als himmlische Erscheinung verehrt worden wäre. Diese unheimlichen, blitzsprühenden Augen hingen alle an ihm mit einem wilden Ausdruck von Liebe.
Der lärmende Haufen war mit Flinten, Säbeln, Sensen, Stangen und Stöcken bewaffnet; sämmtlich trugen die Leute den großen Filzhut oder die braune Mütze mit der weißen Kokarde, weite, nach unten zu offen stehende kurze Beinkleider, haarige Jacken und lederne Gamaschen, dabei Rosenkränze und Amulette in Fülle; sie hatten langes Haar und nackte Knie, und schauten, wenn auch Viele darunter grausam, so doch Alle gewissermaßen kindlich drein.
Ein junger, stattlicher Mann, welcher sich durch die knieende Menge Bahn gebrochen hatte, eilte nun zum Marquis hinauf. Wie die Bauern trug auch er einen Filzhut mit aufgestülpter Krempe und weißer Kokarde und eine Jacke aus Ziegenfell, nur waren seine Hände weiß und sein Hemd fein, und überdies unterschied ihn von den Uebrigen eine weißseidene Schärpe nebst Degen mit goldenem Griff. Oben angekommen, warf er den Hut weg, nahm Schärpe und Degen ab, und sagte, indem er sich auf ein Knie niederließ und Beides dem Marquis darbot:
– Wir haben Sie in der That gesucht und nun auch gefunden. Hier haben Sie die Zeichen des Kommandos. Diese Leute gehören fortan Ihnen. Bisher war ich der Befehlshaber; jetzt, Monseigneur, avancire ich zu Ihrem Soldaten. Nehmen Sie unsere Huldigung entgegen, Herr General, und gebieten Sie über uns.
Und auf einen Wink von ihm traten einige Männer mit einer dreifarbigen Fahne zwischen den Bäumen hervor, kamen den Hügel herauf und legten dem Marquis jene Trikolore zu Füßen, die er vorhin im Dickicht hatte ragen sehen.
– Herr General, sagte der junge Mann, der ihm Degen und Schärpe überreicht hatte, es ist dies die Fahne, die wir soeben den Blauen, die in der Meierei von Herbe-en-Pail kampirten, abgenommen haben. Mein Name, Monseigneur, ist Gavard. Ich habe schon unter dem Marquis von la Rouarie gedient.
– Schön, sagte der Marquis, und legte ruhig und ernst die Schärpe an, zog dann den Degen und rief, indem er ihn über seinem Haupt schwenkte: Auf! und ein Hoch Seiner Majestät dem König!
Alles erhob sich, und durch die Tiefen des Dickichts wirbelte es fort in siegestrunkener Begeisterung: Hoch der König! Hoch unser Marquis! Lantenac hoch! Nun wendete sich der Marquis wieder zu Gavard:
– Wie stark sind wir?
– Siebentausend Mann.
Und im Hinabsteigen von der Anhöhe, während die Bauern die Pfriemenstauden vor den Schritten des Marquis von Lantenac bei Seite bogen, fuhr Gavard fort: Die Sache verhält sich nämlich in kurzen Worten ganz einfach so: die Pulvermine bedurfte blos mehr eines Funkens, um zu springen, und deshalb hat die Bekanntmachung Ihrer Anwesenheit durch die republikanische Behörde die ganze Gegend zum Kampf für Seine Majestät aufgerufen. Außerdem war uns die Nachricht auch noch unter der Hand durch den Bürgermeister von Granville zugekommen, der uns sehr ergeben ist, und der schon einmal den Abbé Olivier gerettet hat. In der Nacht ist Sturm geläutet worden.
– Wozu?
– Für Sie.
– Ah so! sagte der Marquis.
– Und hier sind wir, setzte Gavard hinzu.
– Also wirklich siebentausend?
– Heute noch; morgen aber sind wir fünfzehntausend; das kann unsere Gegend leisten. Als sich Herr Henri von La Rochejacquelein zur katholischen Armee begeben hat, wurde gleichfalls Sturm geläutet und binnen einer Nacht führten ihm die sechs Gemeinden Isernay, Corqueux, les Echaubroignes, les Aubiers, Saint-Aubin und Nueil allein zehntausend Mann zu. Nur an Munition fehlte es; da fand man noch bei einem Maurer sechszig Pfund Sprengpulver, und damit rückte Herr von La Rochejacquelein in's Feld. Wir dachten wohl, Sie müßten sich irgendwo in diesem Wald aufhalten, und so kommt's, daß wir Sie gleich hier suchten.
– Doch wie war denn das mit den Blauen in der Meierei von Herbe-en-Pail?
– Sie hatten in Folge der Windrichtung von dem Sturmläuten nichts gehört und waren auch sonst ohne allen Verdacht, denn das einfältige Volk im Dörfchen hatte sie freundlich aufgenommen. Heute früh, während die Blauen noch schliefen, haben wir den Hof umzingelt, und im Handumdrehen war Alles vorüber. Herr General, ich bin beritten; darf ich die Ehre haben. Ihnen mein Pferd zur Verfügung zu stellen? – Ja.
Ein Schimmel mit militärischer Schabracke wurde von einem der Bauern vorgeführt. Der Marquis bestieg ihn, ohne von Gavard's angebotener Hilfe Gebrauch zu machen.
– Hurrah! schrieen die Bauern, denn an den Küsten der Bretagne und Normandie, welche in beständiger Geschäftsverbindung mit den Kanalinseln stehen, sind dergleichen Rufe vielfach dem Englischen entlehnt worden.
Gavard fragte salutirend: Monseigneur, wohin verlegen Sie Ihr Hauptquartier?
– Zunächst in den Wald von Fougères. – Eine von Ihren sieben Waldungen, Herr Marquis. – Sorgen Sie mir für einen Geistlichen. – Wir haben einen bereits hier. – Wen? – Den Vikar von La Chapelle-Erbrée. – Den kenne ich. Er hat die Reise nach Jersey gemacht. – Zu dreien Malen, sagte ein Priester, der jetzt vortrat.
Der Marquis wendete sich um:
– Guten Morgen, Herr Vikar. Ich werde Sie sogleich beschäftigen.
– Vortrefflich, Herr Marquis.
– Sie werden Beichte hören, heißt das nur, wenn die Betreffenden einverstanden sind. Gezwungen wird Keiner.
– Herr Marquis, entgegnete der Priester, in Guéménée zwingt Gaston die Republikaner zur Beichte.
– Er ist ein Perrückenmacher. Sterben soll man frei.
Gavard, der sich entfernt hatte, um einiges anzuordnen, kam zurück:
– Herr General, ich erwarte Ihre weiteren Befehle.
– Der Sammelplatz ist der Wald von Fougères. Zunächst haben die Leute also auseinanderzugehen und sich dorthin zu verfügen.
– Die Ordre ist bereits gegeben.
– Sagten Sie mir nicht vorhin, daß in Herbe-en-Pail die Blauen eine freundliche Aufnahme gefunden? – Ja wohl, Herr General. – Und der Meierhof ist niedergebrannt worden. – Ja. – Haben Sie den Weiler mit niedergebrannt? – Nein. – So thun Sie's! – Erst haben sich die Blauen gewehrt; aber sie waren ihrer hundertundfünfzig und wir volle sieben Tausend. – Welche Sorte von Blauen war's? – Blaue von Santerre. – Welcher den Trommelwirbel kommandirte, während man den König enthauptete . . . . Demnach waren es ja Pariser? – Ein halbes Bataillon. – Wie heißt das Bataillon? – Herr General, auf der Fahne steht: »Bonnet-Rouge.« – Bestien also. – Was soll mit den Verwundeten geschehen? – Gebt ihnen den Rest. – Und mit den Gefangenen? – Niederschießen. – Es sind an die achtzig Mann. – Alles nieder. – Dazu noch zwei Weiber. – Mit erschießen. – Mit drei Kindern. – Die gehen einstweilen mit uns, bis ein Weiteres über sie beschlossen ist. Und der Marquis trieb sein Pferd voran.
Während bei Tanis alle diese Begebenheiten aufeinanderfolgten, war der Bettler in der Richtung von Crollon weitergegangen. Er hatte sich tief in die Schluchten verloren, unter das dichte, schweigsame Laubdach, theilnahmlos, wie er selber gesagt, für alles Einzelne und teilnehmend an nichts, mehr in Träumerei als in Gedanken, denn wer denkt, hat ein Ziel vor sich, der Träumer keines. So schlich und schlenderte er zwecklos einher, blieb zuweilen stehen und aß wilden Ampfer, ein Blatt oder zwei, trank auch aus den Quellen, erhob hin und wieder, wenn von Weitem ein Getöse an sein Ohr schlug, das Haupt und fiel dann in den blendenden Halbschlafzauber der Natur zurück, in Lumpen unter der lieben Sonne, die fernen Anklänge menschlichen Treibens vielleicht wohl hörend, lauschend aber dem Gesang der Vögel.
Langsam und gebrechlich; weit konnte er nicht mehr gehen; er hatte es ja dem Marquis von Lantenac gesagt: nach der ersten Viertelstunde war er schon müde; er machte noch einen kleinen Umweg gegen La Croix-Avranchin zu, und als er heimkehrte, war es bereits Abend.
In geringerer Entfernung von Macey führte ihn der Pfad, dem er folgte, zu einer unbewaldeten Erderhöhung mit einer Fernsicht über den ganzen westlichen Horizont bis an's Meer. Dort oben wurde er auf einen Rauch aufmerksam. Ein emporschwebender Rauch kann die sanftesten, aber auch die schreckhaftesten Betrachtungen wecken; es giebt einen friedlichen und einen verruchten Rauch. Ein Rauch kann uns je nach seiner Beschaffenheit und Farbe in grellem Gegensatz an den Frieden erinnern oder an den Krieg, an Verbrüderung oder Haß, Gastlichkeit oder Grabesgrauen, Leben oder Tod. Wenn zwischen Bäumen eine Rauchsäule aufsteigt, bedeutet sie vielleicht das Lieblichste, was in der Welt zu finden ist, den häuslichen Herd, oder wieder das Schauerlichste, die Feuersbrunst. Und alles menschliche Glück wie aller menschliche Jammer liegt oft in so einer Dampfwolke, die im Winde zerstiebt.
Der Rauch, den Tellmarch bemerkt hatte, war ein besorgnißerregender, denn er war schwarz und zuweilen röthlich leuchtend; die Flamme, der er entstammte, schien abwechselnd zu steigen und zu fallen, also dem Erlöschen nahe zu sein, und er stand gerade über Herbe-en-Pail. Tellmarch ging in beschleunigtem Schritt darauf zu. Er war freilich recht erschöpft, aber er wollte doch wissen, wie das sei. Als er den Hügel erklommen hatte, an dessen Fuß Hof und Weiler gelegen waren, war weder Hof noch Weiler mehr zu sehen, nur noch ein glühender Schutthaufen.
Es giebt noch einen schmerzlicher beklemmenden Anblick als einen brennenden Palast, das ist eine brennende Hütte. Aus dem Brande einer Hütte steigt ein unendlich jammervolles Etwas: der innere Widerspruch, der darin liegt, wenn die Vernichtungswuth über das Elend hereinbricht und der Geier den Wurm mit seiner Grausamkeit verfolgt, schnürt Einem das Herz zusammen.
Die biblische Legende erzählt, daß ein Zurückschauen auf eine Feuersbrunst ein menschliches Wesen in eine Salzsäule verwandelt hat. In diesem Moment war Tellmarch zu einer solchen Säule erstarrt, gelähmt durch das Schreckniß, das sich ihm darbot. Ueber der ganzen Verwüstung lag Schweigen. Kein Schrei, kein Wimmern stieg mit dem Rauch empor.
Dieser Schmelzofen fuhr fort, die letzten Ueberreste des Dorfes zu verzehren, ohne daß man etwas Anderes hätte vernehmen können, als das Krachen der Balken und das Knistern des verglimmenden Dachstrohs. Hier und da riß der Rauchschleier, und dann wurden durch die eingestürzten Decken die gähnenden Wohnräume sichtbar; die Esse ließ ihre Rubinen alle flimmern und das oder jenes arme, alte Möbel leuchtete wie von Purpur zwischen den gerötheten Mauern, und Tellmarch schaute dann der Verheerung unheimlich blendende Kehrseite.
Im Kastanienwald, der dicht an die Häuser grenzte, waren einige Bäume von dem Feuer ergriffen worden und flackerten zum Himmel.
Vergebens lauschte der Bettler hinaus nach irgend einer Stimme, einem Hilferuf, einem Klagelaut. Nichts sah er sich bewegen als die Flammen, und Alles schwieg, nur der Brand nicht. So waren denn Alle entflohen? Das lebendige, arbeitsame Völkchen von Herbe-en-Pail, wo mochte es jetzt wohl hingekommen sein?
Tellmarch verließ den Hügel. Langsam und mit stierem Blick näherte er sich den Ruinen, diesem düster starrenden Räthsel, das er vor sich hatte, – langsam wie ein Schatten, denn in dieser Grabstätte kam er selber sich vor wie ein Phantom. Nun hatte er die Stelle erreicht, wo sich früher die Einfahrt der Meierei befunden hatte, und sah in den Hof, welcher nun mit seinen eingesunkenen Mauern eins war mit den umliegenden Trümmergruben. Was der Mann bis jetzt gesehen, war aber noch nichts, war nur das Schreckliche; bald sollte er das Grauenhafte erblicken.
Mitten im Hofe lag, von einer Seite durch den Schein des Feuers, von der anderen durch den Mond blos in wenigen Umrissen undeutlich hervorgehoben, eine schwarze Masse. Diese Masse bestand aus einzelnen Menschen und diese Menschen waren todt. Rings um sie herum stagnirte eine Flüssigkeit, in welcher der Brand sich spiegelte; doch sie bedurfte dessen nicht, um roth zu erscheinen, denn es war Blut.
Tellmarch trat näher und untersuchte diese Körper einen nach dem anderen; sie waren alle leblos. Bei der Beleuchtung der Feuersbrunst und des Mondes konnte er erkennen, daß es Soldatenleichen waren, sämmtlich barfuß; die Schuhe waren ihnen ausgezogen worden; auch hatte man die Waffen mit fortgenommen; die Uniform war blau und die Hüte, die unter dieser Anhäufung von ausgestreckten Gliedmaßen und hängenden Köpfen umherlagen, trugen die dreifarbige Kokarde. Die Todten waren Republikaner, jene Pariser, die noch den Abend zuvor, alle frisch und munter, hier in der Meierei von Herbe-en-Pail ihr Quartier hatten. Eine gewisse Symmetrie, die in dieser Unordnung herrschte, deutete darauf hin, daß sie hingerichtet worden waren, ohne langen Todeskampf, sorgfältig; es war kein einziges Röcheln zu vernehmen; nicht Einer hatte die Übrigen überlebt. Tellmarch vergaß bei seiner Leichenschau keinen Einzigen. Jeder hatte ein paar Kugeln in Kopf und Brust. Diejenigen, durch welche die Exekution vollzogen worden, hatten wahrscheinlich eine solche Eile gehabt, wieder weiter zu marschiren, daß sie sich nicht damit befassen mochten, die Opfer zu begraben.
Schon wendete sich der Bettler zum Gehen, als sein Blick auf einen niedrigen Mauerrest fiel, über den er von der andern Seite her vier Füße herunterhängen sah. Diese Füße waren kleiner als die Übrigen und nicht nackt; Tellmarch trat näher. Es waren Weiberfüße. Hinter der Mauer lagen zwei Frauen nebeneinander hingestreckt, gleichfalls erschossen. Tellmarch beugte sich über sie. Die Eine trug eine Art Uniform; ihr zur Seite lag ein durchlöchertes leeres Fäßchen. Die todte Marketenderin hatte vier Kugeln im Kopf. Nun untersuchte Tellmarch die Andere, eine Bäuerin. Sie lag bleich, mit offenem Munde und geschlossenen Augen da. Am Kopf hatte sie keine Wunden. Ihr Kleid, das wohl unter Mühsalen so zerfetzt worden, war durch den Sturz aufgegangen, und ließ den Oberkörper zum Theil entblößt. Tellmarch schob es noch weiter auseinander und entdeckte an der einen Schulter eine runde Schußwunde. Das Schlüsselbein war entzwei. – Mutter und Amme, murmelte der Bettler vor sich hin, indem er den blutbefleckten Busen ansah. Er berührte ihre Schulter; sie war nicht kalt; andere Verletzungen als der Bruch und der Schuß waren nicht vorhanden. Tellmarch legte ihr nun die Hand auf die Herzgrube und fühlte ein mattes Schlagen. Die Frau lebte noch.
– Ist denn Niemand hier? rief der Bettler hoch aufgerichtet, verzweiflungsvoll.
– Bist du's, Caimand? flüsterte es kaum vernehmbar; ein Kopf tauchte hinter einem Schutthaufen auf, und gleich darauf hinter einem andern ein zweiter. Es waren Bauern, die sich versteckt hatten, die beiden einzig Ueberlebenden. Die wohlbekannte Stimme des Bettlers hatte ihnen Muth gegeben, aus ihren Schlupfwinkeln hervorzukriechen. Sie zitterten noch am ganzen Leib, als sie auf Tellmarch zugingen. Dieser hatte einen Schrei gefunden, aber reden konnte er nicht; so wirken große Erschütterungen auf den Menschen. Er deutete blos auf das Weib zu seinen Füßen hin.
– Lebt sie noch? fragte der eine Bauer.
Tellmarch bejahte mit einem Kopfnicken.
– Und die Andere, lebt die auch? fragte der zweite Bauer.
Tellmarch schüttelte den Kopf, und der Bauer, welcher sich zuerst hatte blicken lassen, sagte wieder:
– Die Andern sind alle todt, nicht wahr? Ich hab's mit ansehen müssen. Ich war drunten in meinem Keller. O, wie dankt man da seinem Schöpfer, daß man nicht Weib und Kind hat! Mein Haus brannte. Jesus Maria! Alles haben sie umgebracht. Die Frau hier hatte Kinder, drei ganz kleine, und die Kinder schrieen: »Mutter!« und die Mutter schrie: »Meine Kinder!« Die Mutter haben sie zusammengeschossen und die Kleinen mitgenommen. Mein Gott! ich habe das mit ansehen müssen, allmächtiger Gott! Die, welche Alles niedergemetzelt haben, sind dann gegangen. Sie waren zufrieden. Die Kinder haben sie mit fortgenommen und die Mutter umgebracht. Aber sie ist nicht todt, nicht wahr? sie ist nicht todt? Höre einmal, Caimand, glaubst du, daß du sie retten kannst? Wie wär's, wenn wir sie zu dir heimbrächten? Tellmarch nickte beistimmend mit dem Kopf.
Da der Wald an die Brandstätte stieß, hatten sie aus Zweigen und Farrenkräutern eine Tragbare bald hergerichtet, auf die sie das immer noch bewußtlose Weib hinlegten, und nun traten sie den Rückzug durch das Dickicht an. Die beiden Bauern trugen die Bahre, der eine zu Häupten, der andere zu Füßen, und Tellmarch hielt den Arm der Frau und fühlte ihr von Zeit zu Zeit nach dem Puls.
Den ganzen Weg entlang redeten die zwei Bauern und warfen einander über die Verwundete hinüber, deren bleiches Gesicht der Mond beschien, abgerissene Worte des Schreckens zu.
– Alles umzubringen! – Alles niederzubrennen! – Ach du lieber Gott! Soll jetzt so drauf losgehaust werden?
– Der große alte Mann, der hat's haben wollen. – Ja, der war der Anführer. – Ich habe ihn nicht gesehen, wie man sie umgebracht hat; ist er dabei gewesen?
– Nein. Er war schon fort. Aber thut nichts; wie er's befohlen hat, so ist's auch geschehen.
– Dann freilich hat er Alles auf dem Gewissen.
– Zusammenschießen! hatte er gesagt; niederbrennen! ohne Pardon!
– Ist es wirklich ein Marquis? – Wenn ich dir sage, daß er unser Marquis ist! – Wie heißt er nur noch? – Er ist Herr von Lantenac.
Tellmarch blickte gen Himmel und murmelte in seinen weißen Bart: Wenn ich geahnt hätte! . . .