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Diesen ganzen Tag über war die Mutter, die wir mitten auf ihrer Irrfahrt verlassen, unterwegs gewesen. Sie wußte ja überhaupt von nichts Anderem mehr, als tagtäglich unausgesetzt vorwärts zu gehen. Wenn sie, vor Erschöpfung niedersinkend, im nächstbesten Winkel einschlummerte, so konnte dabei ebenso wenig von einem Ruhen die Rede sein, wie von einer Nahrung, wenn sie, dem Vogel gleich, der ein einzelnes Korn aufpickt, hin und wieder etwas zu sich nahm. Sie aß und schlief eben gerade soviel, wie nothwendig war, um nicht leblos zusammenzubrechen.
In einer verlassenen Scheune hatte sie die letzte Nacht zugebracht; ein Bürgerkrieg räumt ja allenthalben aus, und so hatte sie denn auf einem öden Feld vier Wände gefunden, eine offene Thür und unter einem Ueberrest von Dach ein wenig Stroh; darauf hatte sie sich hingelegt. Neben sich hörte sie das Rascheln der huschenden Ratten und über sich, durch das durchlöcherte Dach, sah sie die Sterne aufgehen. Einige Stunden darauf war sie, mitten in der Nacht, aus dem Schlaf gefahren und hatte sich wieder auf den Weg gemacht, um noch vor der Mittagshitze soweit wie möglich zu kommen. Im Sommer ist die zwölfte Nachtstunde für den Fußgänger barmherziger als die zwölfte Stunde des Tages.
Sie verfolgte, so gut sie eben konnte, den ihr vom Bauern in Vantortes summarisch vorgezeichneten Weg und hielt die Richtung gegen Sonnenuntergang ein, fortwährend »La Tourgue« vor sich hinflüsternd. Nebst den Namen ihrer drei Kinder war ihr kaum mehr ein anderes Wort geläufig als dieses. Während sie so vor sich hinging, grübelte sie; sie überdachte alle Abenteuer, die sie erlebt, überdachte Alles, was sie gelitten, Alles was ihr begegnet und was sie hatte hinnehmen müssen an Erniedrigungen, Alles was ihr zugemuthet, was von ihr begehrt und bewilligt worden, bald um ein Obdach, bald um ein Stück Brod, bald wieder um eine bloße Auskunft über ihren Weg. Ein elend Weib ist unglücklicher als ein elender Mann, weil sie immer möglicherweise noch andere Gefühle wecken kann als das Mitleid. O über dieses gräßliche Umherirren! Ihr war übrigens Alles ganz einerlei, wenn sie nur ihre Kinder wiederfand.
Schon beim Morgengrauen dieses Tages hatte sie im nächstgelegenen Dorf Menschen gesehen. Noch war das Dunkel der Nacht nicht geschwunden, und doch standen an der Hauptstraße des Orts einige Hausthüren halb offen und neugierige Gesichter schauten aus den Fenstern. Das Ganze glich einem aufgeschreckten Bienenkorb. Die Leute waren durch Wagengerassel und Eisengeklirr geweckt worden.
Auf dem Platz vor der Kirche stand eine verblüffte Gruppe und betrachtete mit vorgestreckten Köpfen einen Karren, der vom Hügel her gegen das Dorf zufuhr. Auf diesem vierräderigen Wagen, vor dem fünf Pferde an Ketten eingespannt waren, bemerkte man unter einer Blahe, die einem Bahrtuch ähnlich sah, eine unförmige Masse, die auf einer Menge aufgeschichteter Balken zu liegen schien. Voran und hinterher ritten je zehn Männer, welche dreieckige Hüte trugen und über deren Schultern etwas hervorragte wie gezogene Säbel. Das Alles bewegte sich langsam vorwärts und hob sich tiefschwarz vom fahlen Himmel ab, Wagen, Pferde, Reiter, Alles schwarz, und dahinter der aufdämmernde Morgen. Im Dorf angelangt, schlug es die Richtung nach dem Platz ein. Mittlerweile war es schon ein wenig Tag geworden, und nun konnte man das Ganze, das einer Schattenkavalkade glich, so stumm war die Eskorte, deutlich unterscheiden. Die Reiter waren Gensdarmen, in der That mit gezogenem Säbel, und die Blahe war wirklich schwarz.
Die bejammernswerthe irrende Mutter hatte in dem Augenblick den Platz erreicht und sich den zusammengelaufenen Bauern genähert, wo auch die Gensdarmen mit dem Karren ankamen. In der Gruppe wurde fragend und antwortend hin und hergeflüstert: Was ist das?
– Die Guillotine fährt vorbei. – Woher? – Von Fougères. – Und wohin? – Ich weiß nicht. Man sagt, nach einem Schloß gegen Parigné zu. – Nach Parigné? – Laßt sie fahren, wohin sie will, wenn sie nur hier nicht hält!
Dieser große Karren, der wie mit einem Bahrtuch bedeckt war, die Pferde, die schweigenden Gensdarmen, das Kettengeklirr in der Dämmerstunde, machten einen gespenstischen Eindruck. Der Zug bewegte sich über den Platz und verschwand. Da das Dorf in einer Vertiefung zwischen zwei Hügeln lag, erschien er jedoch den Bauern, die wie versteinert stehen geblieben waren, nach einer Viertelstunde auf der andern Anhöhe gegen Westen zu noch ein Mal. Die schweren Räder wurden in den Geleisen hin- und hergerüttelt; die Ketten des Karrens zitterten im Morgenwind, und die Säbel glitzerten unter der aufgehenden Sonne. Jetzt bog es um die Ecke und fort war's.
In demselben Augenblick war im Bibliotheksaal Georgette zwischen den schlafenden Brüdern erwacht und wünschte ihren rosigen Füßchen einen guten Tag.
Die Mutter hatte das schwarze Ding, dessen Bedeutung sie weder begriff noch zu begreifen versuchte, vorbeifahren sehen, aber dabei etwas ganz Anderes vor Augen gehabt: ihre Kinder draußen im Dunklen. Auch sie verließ, kurze Zeit, nachdem der Zug vorüber war, das Dorf auf demselben Weg und folgte in einiger Entfernung der zweiten Abtheilung Gensdarmen. Plötzlich fiel ihr das Wort Guillotine wieder ein; Guillotine! Michelle Fléchard, diese Wilde, wußte nicht, was das sei; aber ein gewisser Instinkt warnte sie davor; ohne daß sie verstanden hätte warum, überlief sie ein Schauder; es schien ihr entsetzlich, hinter dem Ding herzugehen, und nach links von der Straße abbiegend, verlor sie sich unter Bäumen; diese Bäume gehörten zum Wald von Fougères.
Nachdem sie eine Zeit lang umhergeirrt, gewahrte sie am Saum des Waldes den Kirchthurm und die Dächer eines Dorfes; darauf schritt sie zu, denn sie war hungrig. Die Ortschaft lag innerhalb des militärischen Rayons der Blauen und war von einem republikanischen Wachtposten besetzt. Michelle Fléchard ging auf den Marktplatz los. Auch dieses Dorf war voller Aufregung und Angst. Ein Menschenauflauf drängte sich gegen die Stufen des Gemeindehauses, und oben auf dem Perron stand ein Mann, der ein großes entfaltetes Blatt Papier in den Händen hielt; hinter ihm ein paar Soldaten zur Bedeckung, rechts ein Tambour, links ein Zettelankleber mit Kleistertopf und Pinsel. Auf der Altane über der Thür stand, in Bauernkleidern, aber mit umgebundener dreifarbiger Schärpe, der Bürgermeister. Der Mann mit dem Blatt Papier war ein öffentlicher Ausrufer. Er trug sein Reisebandelier und an diesem eine Ledertasche, woraus zu ersehen war, daß er von Dorf zu Dorf wanderte und durch die ganze Gegend etwas bekannt zu machen hatte. Im Augenblick, wo Michelle Fléchard näher trat, hatte er das Papier entfaltet, und begann jetzt mit lauter Stimme, den Inhalt vorzulesen: »Französische eine und untheilbare Republik.«
Der Tambour schlug einen Wirbel. In der Menge entstand gewissermaßen ein Hin- und Herwogen; die Einen nahmen die Mützen ab; Andere drückten den Hut tiefer in die Stirn. Zu jener Zeit und in jener Gegend ließen sich die politischen Gesinnungen beinahe mit Gewißheit an der Kopfbedeckung erkennen; die Schlapphüte waren royalistisch, die Mützen republikanisch. Das verworrene Gemurmel verstummte; man horchte auf, und der Ausrufer fuhr fort: »In Gemäßheit der Uns vom Wohlfahrtsausschuß ertheilten Befehle und Vollmachten . . .«
Abermals schlug der Tambour einen Wirbel. Der Ausrufer las weiter: »und zur Vollziehung des Dekrets des Nationalkonvents, welches die in Waffen ergriffenen Rebellen als außer dem Gesetz stehend erklärt und die Todesstrafe über Jeden verhängt, der ihnen ein Asyl gewährt oder zur Flucht verhilft . . .«
– Was ist das, ein Asyl? fragte mit gedämpfter Stimme ein Bauer seinen Nachbar.
– Weiß nicht, antwortete dieser.
Der Ausrufer machte eine Bewegung mit seinem Papier: »Laut Artikel 17 des Gesetzes vom 30. April, welches die Kommissäre und Unterkommissäre bei den im Feld stehenden Truppentheilen mit unumschränkter Gewalt ausstattet, sind hiermit als außer dem Gesetz stehend erklärt . . .«
Der Ausrufer hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »die unter folgenden Namen oder Beinamen bekannten Individuen . . .«
Alles lauschte hin. Mit dröhnender Stimme las der Ausrufer die Namen: »Lantenac, Räuber . . .«
– Das ist ja der gnädige Herr, murmelte ein Bauer. Und durch die Menge flüsterte es: Der gnädige Herr.
Der Ausrufer wiederholte: »Der vormalige Marquis von Lantenac, Räuber. Der Imânus, Räuber . . .«
Zwei Bauern warfen einander einen Seitenblick zu: Es ist Gouge-le-Bruant. – Ja, Brise-bleu.
Indessen fuhr der Ausrufer fort: »Grand-Francoeur, Räuber . . .«
– Ein geistlicher Herr, murmelte es durch die Menge. – Ja, der Herr Abbé Turmeau. – Freilich, irgendwo beim Wald von La Chapelle ist er Pfarrer. – Und Räuber, setzte ein Mann mit einer Mütze hinzu.
– »Boisnouveau, Räuber,« las der Ausrufer weiter: »Die zwei Brüder Pique-en-Bois, Räuber. Houzard, Räuber . . .«
– Das ist Herr von Quélen, sagte ein Bauer.
– »Panier, Räuber, Place-Nette, Räuber . . .«
– Herr Jamois.
Ohne sich durch diese Erläuterungen stören zu lassen, fuhr der Ausrufer fort: »Guinoiseau, Räuber. Chatenay genannt Robi, Räuber . . .«
– Guinoiseau, flüsterte ein Bauer, das ist Le Blond, und Chatenay ist aus Saint-Ouen.
– »Hoisnard, Räuber,« las der Ausrufer weiter.
Und in der Menge wurde bemerkt: Der ist aus Ruillé. – Ja, er heißt auch Branche-d'Or. – Sein Bruder hat beim Sturm auf Pontorson das Leben lassen müssen. – Hoisnard-Malonnière, ja. – Ein schmucker Bursch von neunzehn Jahren.
– Achtung! mahnte der Ausrufer. Jetzt kommen die Letzten: »Belle-Vigne, Räuber. La Musette, Räuber. Sabre-tout, Räuber. Brin d'Amour, Räuber.«
Bei diesem schäkerhaften Spitznamen (er bedeutet: Ein bischen Liebe) stieß ein Bauernbursch ein Mädel mit dem Ellenbogen in die Seite, und das Mädel schmunzelte dazu.
– »Chante-en-hiver, Räuber,« fuhr der Ausrufer fort. »Le Chat, Räuber . . .«
– Das ist Moulard, meinte ein Bauer.
– »Tabouze, Räuber . . .«
– Der heißt Gauffre, meinte ein Anderer. – Es sind zwei Brüder, die Tabouze, setzte ein Weib hinzu. – Lauter brave Kerle, brummte ein Bursch.
Der Ausrufer schwenkte das Papier, und der Tambour trommelte. – »Genannte Individuen,« begann der Ausrufer wieder, »sollen, wo immer sie auch aufgegriffen werden mögen, nach Feststellung ihrer Identität sofort hingerichtet werden.«
Es entstand eine allgemeine Bewegung.
– »Und wer denselben ein Asyl gewährt oder zur Flucht verhilft,« las der Ausrufer weiter, »wird einem Kriegsgericht überwiesen und gleichfalls hingerichtet. Gezeichnet . . .«
Jetzt herrschte atemlose Stille.
– »Gezeichnet: der Kommissär des Wohlfahrtsausschusses, Cimourdain.«
– Ein Priester, bemerkte ein Bauer. – Ja, der frühere Pfarrer von Parigné, bestätigte ein zweiter. – Turmeau und Cimourdain, sagte ein Bürgersmann, ein weißer Priester und ein Blauer. Und ein anderer Bürgersmann fügte hinzu: Schwarz sind alle Zwei.
Der Gemeindevorsteher auf der Altane nahm den Hut ab und rief: Es lebe die Republik!
Dann wurde durch einen neuen Trommelwirbel bekannt gegeben, daß der Ausrufer noch nicht zu Ende gesprochen habe; in der That winkte dieser mit der Hand und sagte: Aufgepaßt! Jetzt verlese ich die letzten Zeilen der amtlichen Verordnung. Sie sind gezeichnet vom Chef der Streifkolonne von Les Côtes-du-Nord, vom Kommandanten Gauvain.
– Hört! rief es aus der Menge.
Und der Ausrufer hob an: »Bei Todesstrafe . . .«
Alles verstummte.
– »Bei Todesstrafe ist, in Anbetracht obiger Verordnung, Jedem verboten, Hilfe und Vorschub den genannten neunzehn Rebellen zu leisten, welche gegenwärtig im Schloß La Tourgue umzingelt und belagert sind.«
– La Tourgue?! schrie eine Stimme, eine Weiberstimme, die Stimme der Mutter.
Michelle Fléchard stand mitten im Gedränge. Sie hatte nicht zugehorcht; aber wenn man auch nicht horcht, so hört man, und so hatte sie das Wort La Tourgue gehört und war in die Höhe gefahren: Was? wiederholte sie, La Tourgue?
Alles sah zu ihr hin. Sie war in Fetzen.
– Die sieht aus wie eine Räuberdirne, murmelte es.
Eine Bäuerin, die einen Korb mit Buchweizenfladen am Arm trug, flüsterte ihr zu: Seid doch still!
Michelle Fléchard starrte die Frau verwundert an. Sie verstand schon wieder nicht. Dieser Name, La Tourgue, war ihr wie ein Blitz durchs Herz gefahren, und nun verfinsterte sich Alles wieder. Hatte sie denn nicht ein Recht, zu fragen? Und warum schaute man sie so groß an?
Unterdessen hatte der Tambour zum letzten Mal gewirbelt; der Zettelankleber hatte die Bekanntmachung angeschlagen; der Bürgermeister war ins Gemeindehaus zurückgetreten; der Ausrufer hatte sich zu seinem Rundgang aufgemacht und die Menge verlief sich. Aber eine Gruppe war vor dem Plakat stehen geblieben. Zu dieser Gruppe trat Michelle Fléchard hin. Es war von den in Acht und Bann erklärten Insurgenten die Rede, und unter den Bauern befanden sich auch Bürgersleute, also unter den Weißen auch Blaue.
– Thut nichts, sagte ein Bauer, alle haben sie damit noch lange nicht, und neunzehn sind eben nur neunzehn. Sie haben weder Rion, noch Benjamin Moulins und Goupil aus der Gemeinde von Andouillé ebensowenig.
– Und auch Lorieul aus Monjean nicht, bemerkte ein Zweiter. Und andere Stimmen setzten weitere Namen hinzu.
– Dummes Geschwätz, sagte ein alter Weißkopf mit harten Gesichtszügen. Alles ist aus, wenn sie den Lantenac einmal haben.
– Den haben sie aber noch nicht, brummte einer von den Burschen.
– Mit Lantenac wird dem Aufstand das Herz ausgebrochen, fuhr der Greis fort. Stirbt Lantenac, so stirbt auch die Vendée.
– Was ist das denn eigentlich mit diesem Lantenac, fragte einer der Bürgersleute.
– Das ist ein vormaliger Marquis.
Und ein Anderer setzte hinzu: Einer, der die Weiber umbringt.
– Das ist wahr, sagte Michelle Fléchard, welche zugehört hatte. Man wendete sich nach ihr um, und sie fuhr fort: Ja, ich selber bin ja erschossen worden.
Das klang sonderbar; man betrachtete, und zwar etwas schief, diese Lebendige, die sich für todt ausgab. Unheimlich genug sah sie aus, bei der kleinsten Gelegenheit erbebend, verstört, verwildert, unstet, vor lauter Erschrockenheit ein Gegenstand des Schreckens. In der Verzweiflung eines Weibes liegt eine Hilflosigkeit, die ins Furchtbare hinüberspielt. Man glaubt ein Wesen vor sich zu haben, das außerhalb des gewöhnlichen menschlichen Schicksals schwebt. Doch die Bauern fassen die Dinge derber auf, und schon brummte Jemand: Die spionirt wohl.
– Aber so seid doch still und geht Eures Weges! sagte die gute Frau zu ihr, die sie bereits gewarnt hatte.
– Ich thue ja nichts Böses, antwortete Michelle Fléchard. Ich suche meine Kinder.
Die Bäuerin schaute die Leute an, die Michelle Fléchard anschauten, und erklärte, mit den Augen zwinkernd, indem sie den Finger an die Stirn legte: Die ist von Sinnen.
Dann nahm sie sie bei Seite und gab ihr einen Buchweizenfladen. Michelle Fléchard biß gierig hinein, ohne auch nur zu danken. – Ja, meinten die Bauern, sie frißt wie das liebe Vieh; sie ist wirklich von Sinnen.
Und langsam zerstreute sich die übrig gebliebene Gruppe.
Nachdem Michelle Fléchard gegessen hatte, sagte sie zu der Bäuerin: Gut, jetzt bin ich satt. Wo geht es nach La Tourgue?
– Nun kommt es schon wieder über sie! rief die Bauernfrau.
– Nach La Tourgue muß ich. Zeigt mir den Weg nach La Tourgue.
– Nun und nimmer, entgegnete die Bäuerin. Damit Ihr Euch umbringen laßt? Den Weg weiß ich übrigens garnicht. Ja, seid Ihr denn wirklich verrückt? Hört einmal, arme Frau, Ihr schaut recht müde aus. Wollt Ihr nicht ein wenig bei mir rasten?
– Ich raste nie, sagte die Mutter.
– Sie hat ganz wunde Füße, murmelte die Bäuerin.
– Ich habe Euch ja gesagt, fuhr Michelle Fléchard fort, daß man mir meine Kinder gestohlen hat; ein kleines Mädel und zwei Knaben. Ich komme aus der Waldhöhle. Fragt nur Tellmarch den Caimand oder den Mann, den ich drüben auf dem Feld angetroffen habe. Der Caimand hat mich ja geheilt; es scheint, daß etwas an mir gebrochen war. Das Alles sind lauter Dinge, die mir widerfahren sind. Da ist noch der Sergeant, Radoub, auch den könnt Ihr fragen. Der wird es Euch schon sagen, denn er hat uns ja im Wald gefunden. Es sind ihrer Drei; drei Kinder sind es; ich kann es Euch versichern. Wenn ich Euch sage, daß der Aelteste René-Jean heißt. Ich will Alles beweisen. Und der Andere heißt Gros-Alain und das Kleine Georgette. Mein Mann ist todt. Sie haben ihn umgebracht. Er war Pächter zu Siscoignard. Ihr habt ein gutmüthig Gesicht, geht, zeigt mir den Weg! Ich bin keine Närrin; ich bin eine Mutter. Meine Kinder habe ich verloren und jetzt suche ich nach ihnen. Weiter nichts. Ich weiß nicht recht, woher ich komme. Diese Nacht habe ich in einer Scheune auf dem Stroh geschlafen. Nach La Tourgue muß ich gehen. O ich bin keine Diebin. Ihr seht ja, daß ich die Wahrheit spreche. Meine Kinder sollte man mir doch wiederfinden helfen. Ich bin hier fremd. Sie haben mich erschossen, aber ich weiß nicht recht wo.
Die Bäuerin schüttelte den Kopf und sagte: Hört einmal, Frau, in Revolutionszeiten muß man nicht Sachen daherreden, die kein Mensch versteht; das könnte Euch noch in den Thurm bringen.
– Aber La Tourgue! schrie die Mutter. Liebe Frau, bei unserem Heiland und bei der guten heiligen Jungfrau Maria im Himmel bitte ich Euch, liebe Frau, ich beschwöre Euch, mit gefaltenen Händen, sagt mir, wie komme ich nach La Tourgue!
Jetzt wurde die Bäuerin zornig: Ich weiß es nicht, und wenn ich es wüßte, würde ich es Euch erst recht nicht sagen. Das sind Plätze, wo es nicht geheuer ist, und da geht man nicht hin.
– Ich gehe doch hin, sagte die Mutter und machte sich auf den Weg. Die Bäuerin sah ihr nach und brummte: Aber essen muß sie doch. Und ihr nachlaufend, legte sie ihr einen Fladen in die Hand: Da nehmt, für den Abend!
Michelle Fléchard nahm den Fladen, aber antwortete nicht, wendete den Kopf nicht um und ging weiter. Bei den letzten Häusern des Dorfes begegnete sie drei zerlumpten, barfüßigen kleinen Kindern. Sie trat zu ihnen hin und sagte: Das ist das Gegentheil: zwei Mädchen und ein Knabe. Und da die Kinder den Fladen betrachteten, schenkte sie ihn her. Die Kleinen langten danach und fürchteten sich. Sie aber ging waldeinwärts.
Am selben Tage, beim Morgengrauen, hatte sich in der verworrenen Dunkelheit des Waldes auf der Straße zwischen Javené nach Lécousse Folgendes zugetragen: Jeder Weg im Bocage ist ein Hohlweg, besonders aber die sehr tiefgelegene Straße, die von Javené über Lécousse nach Parigné führt. Diese Straße, die von Vitré kommt und die Ehre gehabt hat, die Karosse der Frau von Sévigné hin- und herzuschütteln, macht nebenbei noch sehr scharfe Krümmungen und gleicht überhaupt mehr einer Schlucht als einem Weg; sie ist rechts und links mit Hecken wie zugemauert und in Folge dessen zu einem Hinterhalt geeignet wie sonst keine.
Früh Morgens also, eine Stunde bevor Michelle Fléchard auf einer anderen Seite des Waldes in jenes erste Dorf gekommen war, wo ihr der schauerliche Karren mit der Gensdarmen-Eskorte erschien, wimmelte es im Dickicht, durch das sich bei der Brücke über den Couesnon die Straße von Javené hinzieht, von unsichtbaren Männern hinter den Zweigen. Diese Männer waren Bauern und trugen alle den »Grigo«, jenen Kittel aus Ziegenhaar, der im sechsten Jahrhundert die bretonischen Könige und im achtzehnten die Bauern kleidete. Bewaffnet waren sie theils mit Flinten, theils mit Aexten. Die mit den Aexten hatten soeben aus trockenen Reisigbündeln und Holzklötzen in einer Lichtung eine Art Scheiterhaufen errichtet, den man blos mehr anzustecken brauchte. Die mit den Flinten waren auf beiden Seiten der Straße aufgestellt und schienen auf etwas zu warten. Wer durch das Laubwerk hätte hindurchschauen können, hätte hinter den Lücken zwischen den Zweigen an jedem Drücker einen Finger und allenthalben gesenkte Gewehrläufe erblickt. Die Leute lagen auf der Lauer und alle Büchsen waren gegen die Straße gerichtet, die fahl sich abhob in der Morgendämmerung. Durch das Zwielicht flüsterten Stimmen:
– Weißt Du es auch gewiß? – Wenigstens habe ich es gehört. – Daß sie vorbeifahren wird? – Man sagt, sie sei in der Gegend. – Sie soll nicht wieder hinaus. – Brennen muß sie. – Dafür sind wir ja hier, volle drei Dörfer. – Ja, aber die Bedeckungsmannschaft? – Die wird niedergemacht. – Doch ist es auch gewiß, daß sie diesen Weg fährt? – Man sagt so. – Dann käme sie also von Vitré? – Warum denn nicht? – Aber es wurde doch gesagt, sie komme von Fougères. – Fougères oder Vitré, gleichviel, sie kommt aus der Hölle. – Ja. – Und dorthin muß sie zurück. – Gewiß. – Also fährt sie nach Parigné? – So scheint es. – Das soll sie nicht. – Nein. – Freilich nicht, nein, nein! – Aufgemerkt!
Und in der That war das Schweigen jetzt am Platz, denn es begann schon ein wenig zu tagen.
Plötzlich hielten die lauschenden Männer den Atem an; sie hatten Pferdegetrampel und das Rollen eines Wagens gehört, und, zwischen den Zweigen durchblickend, sahen sie die undeutlichen Umrisse eines langen Karrens, auf dem etwas lag und der mit einer Reitereskorte den Hohlweg heraufkam.
– Da ist sie, flüsterte Derjenige, der das Kommando zu führen schien.
– Ja, sagte Einer, der hinausspähte, unter Bedeckung.
– Wieviel Mann?
– Zwölf.
– Es hieß doch, sie seien ihrer zwanzig.
– Zwölf oder zwanzig, alle müssen hin werden.
– Nur abwarten, bis sie uns recht in den Schuß kommen.
Bald darauf bogen Karren und Eskorte um die Ecke, und waren da.
– Der König hoch! rief der Anführer der Bauern, und hundert Flintenschüsse fielen mit einem Knall. Als der Rauch zerstob, war auch die Eskorte zerstoben. Sieben Reiter waren gefallen, die fünf andern geflohen. Die Bauern eilten zum Karren hin.
– Da schau, rief der Anführer, das ist ja die Guillotine garnicht; das ist nur eine Leiter.
Und wirklich, die Ladung des Karrens bestand einzig und allein in einer langen Leiter. Die beiden Pferde waren verwundet niedergestürzt, der Fuhrmann erschossen, aber nur aus Versehen.
– Gleichviel, sagte der Anführer, eine Leiter unter Kavalleriebedeckung ist immerhin verdächtig, und in der Richtung von Parigné . . . Was gilt's? Die Leiter sollte nach La Tourgue.
– Ins Feuer mit ihr! schrieen die Bauern, und die Leiter wurde verbrannt. Während dessen war der unheimliche Karren, dem sie aufgelauert hatten, auf einer andern Straße schon zwei Meilen weiter in jenem Dorf, wo ihn Michelle Fléchard bei Sonnenaufgang vorbeifahren sah.
Als Michelle Fléchard die drei Kinder verließ, denen sie ihren Buchweizenfladen geschenkt hatte, streifte sie aufs Gerathewohl durch den Wald. Da man ihr den Weg nicht sagen wollte, mußte sie ihn schon selber finden. Zuweilen setzte sie sich, wanderte dann weiter und setzte sich wieder. Auf ihr lastete jene Müdigkeit, die von den Muskeln bis ins Mark der Knochen übergeht, die Sklavenmüdigkeit, und eine Sklavin war sie auch, die Sklavin ihrer verlorenen Kinder, ihrer Muttersehnsucht, ihrer Angst, jede versäumte Minute könnte möglicherweise die Trennung zu einer ewigen machen. Sklavin einer Pflicht, welche kein Recht neben sich duldet, nicht einmal das Recht, aufzuatmen. Aber sie war sehr matt, so erschöpft, daß jeder neue Schritt in Frage gestellt war; hatte sie zu diesem einen Schritt überhaupt noch die Kraft? Seit Sonnenaufgang war sie unterwegs; ein Dorf oder sogar nur ein Haus war ihr nicht mehr zu Gesicht gekommen. Zuerst schlug sie den richtigen, dann den unrechten Pfad ein, und schließlich stand sie rathlos mitten im Einerlei des Dickichts. Näherte sie sich dem Ziel? War sie bald am Ende ihrer Leiden angelangt? Ihr Weg war der Weg zum Kreuz und sie empfand die Todesschwäche der letzten Station. Wenn sie jetzt zusammenbräche und stürbe? Es trat ein Augenblick ein, wo ihr das Weitergehen als ein Ding der Unmöglichkeit erschien. Am Himmel sank schon die Sonne; es dunkelte bereits im Wald; die Pfade verloren sich in Grasflächen und sie wußte nicht, was aus ihr werden sollte; keinen Halt hatte sie mehr auf Erden, außer ihrem Gott. Sie rief um Hilfe, aber Niemand antwortete.
Sie blickte um sich her, und es fiel ihr eine Stelle auf, wo sich das Dickicht lichtete; in dieser Richtung schleppte sie sich fort und befand sich plötzlich im Freien. Vor ihr lag ein Thalgrund, der kaum breiter war als ein Laufgraben und in dem ein klares Wässerchen zwischen Steingeröll rieselte. Jetzt erst wurde sie auf ihren quälenden Durst aufmerksam; sie stieg zum Bächlein nieder, trank, und, da sie nun schon einmal kniete, verrichtete sie auch ein Gebet. Als sie wieder aufstand, suchte sie sich zu orientiren. Sie schritt über das Rinnsal weg. Hinter dem kleinen Thalgrund dehnte sich, soweit der Blick reichte, eine weite mit niedrigem Gesträuch bewachsene Ebene, welche, vom Bett des Baches ab verlorenerweise steigend, die ganze Breite des Horizonts einnahm. Der Wald war die Einsamkeit, diese Ebene die Wüste; im Wald konnte man hinter jedem Busch vielleicht einem Menschen begegnen, aber hier auf dem Plateau war weit und breit nicht die geringste Spur von Leben zu entdecken; nur ein paar Vögel, die den Ort zu fliehen schienen, flatterten über dem Haidekraut davon.
Und nun, im Angesicht dieser endlosen Verlassenheit, mit wankenden Knien und wie irrsinnig, ließ die verstörte Mutter den wunderlichen Schrei in die Wüstenei hinausgellen: Ist denn Niemand hier?
Sie wartete auf eine Antwort.
Dies Mal wartete sie nicht vergebens. Vom fernen Horizont her erhob sich eine dumpfe, tiefe Stimme, die von Echo zu Echo wiederholt wurde, etwas wie ein Donnerrollen oder ein Kanonenschuß, der die Frage der Mutter mit einem Ja zu erwidern schien.
Dann wurde es wieder still. Die Mutter raffte sich neu gestärkt auf; es war doch wenigstens etwas zugegen; ihr war, als habe sie jetzt Jemand, mit dem sich reden ließ. Der Labetrunk und das Gebet gaben ihr Kraft, und sie schritt aufwärts, der Stelle des Plateaus zu, wo sich die ungeheure, ferne Stimme erhoben hatte.
Plötzlich sah sie am äußersten Horizont einen hohen Thurm emporragen. Der Thurm stand einsam, von der untergehenden Sonne röthlich angeglüht, in der wilden Gegend, in einer Entfernung von über einer Meile; hinter ihm verlor sich in Nebeln eine verschwimmende grünliche Baumwand, der Wald von Fougères. Der Thurm stand an eben derselben Stelle des Horizonts, von wo aus der rollende Lärm ertönt war, den Michelle Fléchard als eine Art Zuruf begrüßt hatte. Also rührte der Lärm wohl vom Thurm her. Die Mutter hatte das Plateau erstiegen, und vor ihr lag jetzt eine flache Ebene; auf dieser schritt sie in der Richtung des Thurms voran.
Der Augenblick warda. Der Unerbittliche war über den Unbarmherzigen gekommen. Cimourdain hielt Lantenac in seiner Hand. Der alte rebellische Royalist saß in seiner Höhle gefangen; an eine Flucht war nicht zu denken und Cimourdains Plan zufolge sollte der Marquis in der Heimath, an Ort und Stelle, auf seinem Grund und Boden und gewissermaßen in seinem eigenen Haus enthauptet werden; damit das Beispiel recht unvergeßlich bleibe, sollte die mittelalterliche Burg den Kopf ihres mittelalterlichen Herrn fallen sehen. Zu diesem Zweck hatte Cimourdain die Guillotine von Fougères herbestellt, und diese war, wie wir wissen, auch bereits unterwegs. Lantenacs Tod war der Tod der Vendée und der Tod der Vendée die Rettung Frankreichs. Cimourdain wankte nicht; ihm wurde wohl bei der blutigen Erfüllung seiner Pflicht.
Der Marquis war schon so gut wie hingerichtet; darüber machte sich Cimourdain keine Sorgen; aber ein anderer Gedanke beunruhigte ihn. Es mußte ein gräßlicher Kampf werden und Gauvain, der ihn leitete, war der Mann nicht, blos zuzuschauen; der junge Führer hatte schon so oft mit eingehauen wie ein alter Soldat. Wenn er sich nun mitten ins Gewühl hineinstürzte? Wenn er umkäme? Gauvain! Cimourdains Kind, der einzige irdische Gegenstand seiner Einzelliebe! Bis jetzt hatte Gauvain wohl Glück gehabt, aber das Glück ist wandelbar, und davor zitterte Cimourdain, durch ein seltsam Geschick zwischen zwei Menschen hingestellt, die denselben Namen trugen und für deren einen er Vernichtung, für deren andern er Leben ersehnte. Der Kanonenschuß, der Georgette weckte und die Mutter aus ihrer rathlosen Einsamkeit herbeirief, hatte sich damit nicht begnügt. Der Zufall oder der Soldat, der das Geschütz gerichtet, hatte es gefügt, daß durch die Kugel, die doch nur mahnen sollte, das eiserne Gitterwerk, das die große Schießscharte der ersten Etage des Thurmes markirte und schloß, getroffen, zerfetzt und zur Hälfte losgebrochen wurde. Diesen Schaden auszubessern, hatten die Belagerten keine Zeit mehr gehabt.
Mit den Munitionsvorräthen hatte der Imânus blos geprahlt; sie waren in Wirklichkeit sehr gering. Ueberhaupt war die Situation – der Umstand muß betont werden – noch kritischer, als die Belagerer es sich vorstellten. Wäre genug Pulver vorhanden gewesen, so hätten die Vertheidiger La Tourgue, sich und den Feind mit in die Luft gesprengt; es war das ihr Traum; aber die Mittel reichten nicht aus. Es kamen auf den Mann kaum dreißig Schüsse; Flinten, Karabiner und Pistolen gab es die Menge, aber nur wenig Patronen. Um ein ununterbrochenes Feuer zu ermöglichen, waren sämmtliche Waffen geladen worden; aber wie lange konnte dies Feuer andauern, das zugleich genährt und aufgespart werden wollte? Darin lag die Schwierigkeit. Zum Glück – ein entsetzliches Glück – würde hauptsächlich Mann gegen Mann, mit blanker Waffe, Säbel oder Dolchmesser, gekämpft, also mehr gerungen als geschossen werden. Mit der Hoffnung auf ein derartiges Gemetzel trösteten sich die Vertheidiger.
Das Innere des Thurmes schien uneinnehmbar. Im ebenerdigen Saal, in den die Bresche mündete, stand der Abschnitt, jene von Lantenac kunstvoll errichtete Barrikade, die den Eingang wehrte; dahinter ein langer Tisch mit geladenen Büchsen, Stutzen, Karabinern, Musketen, Aexten und Dolchmessern. Da das an den Saal stoßende Kerkerverließ zur Sprengung des Thurmes nicht hatte benutzt werden können, hatte der Marquis die Thür dazu verschließen lassen. Ueber diesem Saal lag die Kammer des ersten Stockwerks, zu der man nur durch eine sehr enge Wendeltreppe gelangen konnte. Diese Kammer, in der sich wie im unteren Saal ein Tisch mit schußbereiten Waffen befand, nach denen man die Hand blos auszustrecken brauchte, war durch die große Schießscharte erhellt, deren Gitter durch die Kanonenkugel zerschlagen worden. Von hier aus stieg die Wendeltreppe zur runden Kammer des zweiten Stockwerks, wo die eiserne Thür des Brückenschlößchens angebracht war; dieser Raum hieß entweder »das Zimmer mit der eisernen Thür« oder »das Spiegelzimmer,« weil dort unmittelbar auf dem nackten Stein an verrosteten Nägeln viele kleine Spiegel hingen, ein sonderbarer Luxus an einer sonst so verwahrlosten Stätte. Da sich die obersten Kammern nicht erfolgreich vertheidigen ließen, war das Spiegelzimmer der Ort, den Manesson-Mallet, eine maßgebende Autorität in derartigen Dingen, »die letzte Stellung« nennt, »in der den Belagerten meistens nichts mehr übrig bleibt, als zu kapituliren.« Es handelte sich, wie gesagt, darum, dem Feind das Vordringen in diesen Raum unmöglich zu machen. Trotzdem durch mehrere Schießscharten Licht genug hereinfiel, brannte hier eine Fackel; diese Fackel, die, gleich der des ebenerdigen Saales, in einem eisernen Halter stand, war durch den Imânus, und zwar in nächster Nähe der geschwefelten Lunte, angezündet worden, in einer gräßlichen Absicht.
Im Hintergrund des ebenerdigen Zimmers war, wie in einer homerischen Höhle, für Hunger und Durst gesorgt; große Schüsseln mit Reis, mit Buchweizensuppe und gehacktem Kalbfleisch, runde Kuchen aus Mehl und gedünstetem Obst und Krüge voll Aepfelwein standen dort auf einem quer über zwei Böcke gelegten Brett. Jeder konnte nach Belieben zugreifen.
Der Kanonenschuß hatte eine allgemeine Spannung hervorgerufen. In der nächsten halben Stunde mußte es ja zur Entscheidung kommen. Vom Thurm herab beobachtete der Imânus die Bewegungen der Feinde. Lantenac halte Befehl gegeben, sie heranrücken zu lassen, ohne einen Schuß zu thun. Sie sind ihrer Viertausendfünfhundert, hatte er gesagt; draußen ein paar umzubringen, wäre nutzlos. Wartet damit, bis sie drinnen sind, hier gleicht es sich wieder aus. Und lachend hatte er hinzugesetzt: Gleichheit, Verbrüderung. Der Imânus sollte, einer Verabredung gemäß, den Anmarsch der Blauen durch ein Hornsignal ankündigen.
Hinter dem Abschnitt und auf den untersten Treppenstufen aufgestellt, in stummer Erwartung, hielt Jeder mit der einen Hand sein Gewehr, mit der anderen seinen Rosenkranz. Die Situation war vollkommen klar. Die Stürmenden hatten eine Bresche zu ersteigen, eine Barrikade zu nehmen, drei über einander liegende Säle nach einander in hartem Kampf zu erobern und unter einem Kugelregen zwei Wendeltreppen Stufe für Stufe dem Gegner abzuringen. Die Belagerten hatten weiter nichts zu thun, als zu sterben.
Seinerseits traf Gauvain die letzten Vorkehrungen für den Angriff und gab Cimourdain und Guéchamp noch einige ergänzende Winke. Cimourdain sollte, wie schon gesagt worden, ohne in die Aktion einzugreifen, das Plateau bewachen und Guéchamp hatte den Befehl, im Wald mit dem Gros der Truppen eine beobachtende Stellung einzunehmen. Es war ausgemacht worden, daß sowohl die tiefgelegene Batterie am Waldsaum wie die hohe Batterie auf dem Plateau nur im Fall eines Hervorbrechens oder eines Fluchtversuches feuern sollten. Gauvain hatte sich, zu Cimourdains heimlichem Bedauern, das Kommando über die Sturmkolonne vorbehalten.
Eben war die Sonne untergegangen.
Ein Thurm auf freiem Felde gleicht einem Schiff auf offener See und muß auch in ähnlicher Weise angegriffen werden; es ist dies mehr ein Entern als ein Stürmen, wobei die Kanonen überflüssig werden und wie alles Ueberflüssige wegfallen; was können auch Kanonen einer fünfzehn Fuß dicken Mauer anhaben? Ein Loch an der Stückpforte, dessen Eingang die Einen vertheidigen und die Anderen erzwingen, Beile, Messer, Pistolen, Fäuste und Zähne, mehr braucht es nicht.
Gauvain wußte, daß es kein anderes Mittel gab, La Tourgue zu bewältigen; aber er wußte auch, daß es nichts Mörderischeres giebt als einen Kampf Brust gegen Brust; er kannte aus seinen Kinderjahren her die gewaltige innere Einrichtung des Thurms und stand in tiefernsten Gedanken. Da rief Guéchamp, der, einige Schritte weiter, den Horizont gegen Parigné zu durch ein Fernrohr betrachtete, plötzlich: Ah! endlich!
Dieser Ausruf riß Gauvain aus seiner Träumerei:
– Guéchamp, was giebt's?
– Kommandant, dort kommt die Leiter.
– Unsere Rettungsleiter?
– Jawohl.
– Wie? erst jetzt?
– Ja, Kommandant, und ich war schon in Sorgen. Der Reiter, den ich nach Javené abgeschickt, ist ja längst zurück.
– Ich weiß.
– Er hat auf dem Zimmerhof von Javené eine Leiter in der erforderlichen Länge vorgefunden, hat sie requirirt, auf einen Karren bringen und unter Bedeckung von zwölf Mann Kavallerie nach Parigné abgehen lassen. Er selber hat die Leiter noch fortfahren sehen und ist dann in gestrecktem Galopp hergesprengt.
– Ja, und hat das Alles gemeldet. Er hat auch noch hinzugefügt, der Karren werde, da er kräftig bespannt und schon gegen zwei Uhr fortgefahren sei, vor Sonnenuntergang hier eintreffen. Das weiß ich schon; was weiter?
– Was weiter, Kommandant? Untergegangen ist die Sonne bereits, und der Karren mit der Leiter war noch nicht da.
– Wie ist das nur möglich? Aber wir müssen dennoch angreifen. Die halbe Stunde ist vorüber. Einen Aufschub würde der Feind mißdeuten.
– Es kann angegriffen werden, Kommandant.
– Aber die Rettungsleiter haben wir doch nöthig.
– Allerdings.
– Und die haben wir nicht.
– Wir haben sie.
– Wieso?
– Darum sagt ich ja: Endlich kommt sie! Gerade weil sie nicht kam, habe ich mir die Straße von Parigné hierher durch das Fernrohr betrachtet und bin jetzt beruhigt. Dort drüben, Kommandant, können Sie den Karren, von den Reitern eskortirt, die Anhöhe herunterfahren sehen.
Gauvain nahm das Glas und schaute hin: In der That, da ist er. In der Dunkelheit läßt sich nicht Alles mehr unterscheiden; aber man sieht ja die Reiter. Es ist kein Zweifel. Nur scheint mir die Bedeckung stärker, als Sie gesagt hatten, Guéchamp.
– Mir auch.
– Sie haben ungefähr noch eine Viertelmeile hierher.
– In fünfzehn Minuten ist die Leiter da, Kommandant.
– Nun kann gestürmt werden.
Was hergefahren kam, war wirklich ein Karren, aber der nicht, den die Beiden meinten.
Als Gauvain sich umwendete, erblickte er den Sergeanten Radoub, der in militärischer Positur, aufrecht und gesenkten Blicks mit Achtung dastand.
– Was ist, Sergeant Radoub?
– Bürger Kommandant, wir, die Leute vom Bataillon Bonnet-Rouge, möchten Sie um eine Vergünstigung bitten.
– Die wäre?
– Uns doch wieder mitsterben zu lassen.
– Ah so! sagte Gauvain.
– Wollen Sie uns die Liebe erweisen?
– Aber . . . je nach Umständen, antwortete Gauvain.
– Sehen Sie, Kommandant, seit der Affaire von Dol gehen Sie haushälterisch mit uns um. Wir sind noch unser Zwölf.
– Nun?
– Wir fühlen uns zurückgesetzt.
– Ihr gehört zur Reserve.
– Wir gehören lieber zur Avantgarde.
– Aber ich bedarf Eurer für den entscheidenden Ruck gegen Ende der Aktion. Ich bewahre Euch auf.
– Leider.
– Und dann, zur Sturmkolonne gehört Ihr ja schon; Ihr marschirt ja mit.
– Hinterher. Paris hat ein Recht voraus zu marschiren.
– Ich will mir es überlegen, Sergeant Radoub.
– Jetzt gleich, Kommandant. Eine bessere Gelegenheit wird sich kaum finden lassen. Heute gilt es eine Mordsuppe einzubrocken oder auszuessen. Es setzt was ab. An La Tourgue wird sich mehr als Einer die Finger verbrennen. Da bitten wir denn um die Gunst, mitthun zu dürfen.
Der Sergeant hielt inne, drehte seinen Schnurrbart und fuhr mit bewegter Stimme fort:
– Und dann, Kommandant, in dem Thurm, wissen Sie, sind unsere drei kleinen Kerlchen, unsere Kinder, die Kinder des Bataillons, und diese Schandfratze von einem Himmelsakramenter, dieser sichere Brise-bleu, dieser sichere Imânus Gouge-le-Bruand oder Bouge-le-Gruand oder Fouge-le-Truand, der Gottsdonnerwetterschuft des Teufels, bedroht unsere Kinder, sage unsere Kinder, unsere drei Würmer, Kommandant. Und wenn auch alle Schwerenoth dazwischenfährt, es soll ihnen kein Leids geschehen; verstanden, Obrigkeit? Wir leiden es nicht. Vor Kurzem habe ich die Waffenruhe benutzt und bin auf das Plateau gestiegen und habe sie durch die Fenster betrachtet; ja, sie sind wirklich da; vom Rand der Schlucht aus kann man sie sehen, und ich habe sie auch gesehen, und sie haben sich vor mir gefürchtet, die lieben Dinger. Kommandant, wenn Ihnen nur ein einziges Härchen an ihren kleinen Engelsperrücken gekrümmt wird, ich schwör es, Kreuzmillionenschockdonnerwetter, bei Allem was nur irgendwie heilig ist, so ziehe ich, der Sergeant Radoub, die alten Knochen des himmlischen Vaters zur Rechenschaft. Wir wollen unsere drei Rangen retten oder draufgehen, so spricht das Bataillon; das ist unser gutes Recht, Hagelstrambach! Draufgehen alle Zwölf, Kommandant, versteht sich, mit allem schuldigen Respekt.
Gauvain reichte Radoub die Hand und sagte: Ihr seid die Tapfern unter den Tapfern und sollt stürmen. Ich will die Arbeit zwischen Euch theilen; sechs vorn, um den Impuls zu geben, und sechs bei der Arrièregarde, um nachzuschieben.
– Kommandire wiederum ich die Zwölf?
– Gewiß.
– Dann dank ich, Kommandant, denn ich gehöre zur Avantgarde.
Und Radoub machte die Honneurs und trat in die Reihen zurück. Gauvain sah nach der Uhr, flüsterte Guéchamp ein paar Worte ins Ohr, und die Sturmkolonne wurde formirt.
Cimourdain, der seinen Posten auf dem Plateau noch nicht bezogen hatte und neben Gauvain stand, trat zu einem Trompeter hin und sagte: Blase noch einmal zur Unterhandlung.
Der Trompeter blies und das Horn antwortete. Auch auf die zweite Anfrage antwortete das Horn.
– Was soll das? sagte Gauvain zu Guéchamp. Was will nur Cimourdain?
Cimourdain schwenkte sein weißes Tuch und näherte sich dem Thurm.
– Ihr Männer da droben, rief er mit lauter Stimme, kennt Ihr mich?
– Ja, erwiderte eine Stimme, die Stimme des Imânus, von den Zinnen des Thurms herab.
Beide Stimmen tauschten nun Rede und Gegenrede aus, und man vernahm folgendes Gespräch:
– Ich bin der Abgesandte der Republik.
– Du bist der frühere Pfarrer von Parigné.
– Ich bin der Bevollmächtigte des Wohlfahrtsausschusses.
– Du bist ein Priester.
– Ich bin der Vertreter des Gesetzes.
– Du bist ein Renegat.
– Ich bin der Kommissär der Revolution.
– Du bist ein Abtrünniger.
– Ich bin Cimourdain.
– Du bist der Satan.
– Ihr kennt mich?
– Wir verabscheuen dich.
– Ihr möchtet mich wohl gern in Eurer Gewalt haben?
– Wir sind hier unser Achtzehn, die ihren Kopf hergeben würden für den Deinen.
– Nun denn, ich bin bereit, meine Person an Euch auszuliefern.
– Vom Thurm gellte ein wildes Auflachen und der Schrei: Komm!
Das Schweigen höchster Spannung herrschte im Lager. Cimourdain fuhr fort: Ich stelle nur eine Bedingung.
– Welche?
– Hört mich.
– Sprich.
– Ihr haßt mich doch?
– Ja.
– Ich, ich liebe Euch und bin Euer Bruder.
– Bruder Kain, rief die Stimme vom Thurm.
– Schmäht nur, aber hört, entgegnete Cimourdain in einem eigenthümlichen Ton, der streng und mild zugleich klang. Ihr seid arme, irrgeleitete Menschen. Ich bin Euer Freund. Ich bin das Licht und rede zu der Unwissenheit. Im Licht wohnt Bruderliebe, und eine gemeinsame Mutter haben wir ja, das Vaterland. Also hört. Später werdet Ihr oder werden Eure Kinder oder Kindeskinder noch erfahren, daß Alles, was in diesem Augenblick geschieht, die Erfüllung höherer Gesetze fördert, und daß hinter der Revolution Gott steht. Soll sich bis zur Stunde, die in jedes Gewissen, auch in das Eure, Klarheit bringen und wo jeder Fanatismus, auch der unsere, schwinden wird, soll sich bis zum Aufdämmern jener großen Morgenröthe nicht eine Seele finden, die sich Eurer Verfinsterung erbarmt? Ich trete vor Euch hin und biete Euch meinen Kopf, mehr noch, ich reiche Euch die Hand und bitte Euch um die Gnade, Euch sterbend retten zu dürfen. Ich bin mit unbegrenzter Vollmacht ausgestattet und kann also erfüllen, was ich verspreche. In diesem Augenblick der Entscheidung strenge ich einen letzten Versuch an. Ja, ein Bürger ist, der zu Euch redet, und dieser Bürger ist zugleich ein Priester. Der Bürger bekämpft Euch, aber der Priester darf zu Euch stehen. Hört auf mich. Viele von Euch haben Weib und Kinder. Ich ergreife die Partei Eurer Weiber und Eurer Kinder, ergreife sie gegen Euch selber. O meine Brüder . . .
– Predige nur zu, grinste der Imânus.
– Brüder, fuhr Cimourdain fort, laßt die fluchwürdige Stunde nicht schlagen. Es soll hier zu einem Gemetzel kommen, und Viele der Unsern, die hier vor Euch stehen, werden morgen die Sonne nicht mehr aufgehen sehen; ja, es werden Viele von uns fallen, und Euch ist Allen der Tod gewiß. Uebt Barmherzigkeit an Euch selber. Wozu dies Blutbad, wenn es überflüssig ist? Wozu so viele Menschen umbringen, wenn deren zwei genügen?
– Zwei? fragte der Imânus.
– Ja wohl, zwei.
– Wer?
– Lantenac und ich. Und mit gesteigertem Affekt sprach Cimourdain: Zwei Männer sind hier zu viel auf der Welt: für uns Lantenac und ich für Euch. Nehmt mein Anerbieten an, und Alle sollt Ihr das Leben behalten: gebt uns Lantenac und nehmt dafür mich hin. Lantenac wird guillotinirt werden und mit mir könnt Ihr anfangen, was Euch beliebt.
– Pfaffe, brüllte der Imânus, wenn wir Dich hätten, wir würden Dich auf glühenden Kohlen rösten.
– Thut das, sagte Cimourdain und fuhr dann fort: Ihr, die Verurtheilten im Thurm, könnt Euch binnen einer Stunde sammt und sonders Eures Leben und Eurer Freiheit erfreuen. Ich trage Euch die Rettung entgegen. Geht Ihr drauf ein?
Jetzt brach der Imânus los: Nicht allein bist Du ein Schurke; Du bist auch noch ein Narr. Ja, warum hältst Du uns überhaupt denn hin? Wer heißt Dich überhaupt zu uns reden? Wir unsern gnädigen Herrn ausliefern? Ja, was forderst Du denn da?
– Seinen Kopf, und Euch biete ich dafür . . .
– Deine Haut, denn Dich würden wir bei lebendigem Leib schinden wie einen Hund, Pfarrer Cimourdain. Aber nein, sein Kopf ist uns Deine Haut nicht werth. Hebe Dich weg.
– Es wird gräßlich werden. Zum letzten Mal, besinnt Euch.
Während dieses düstern Wortwechsels, den sowohl die in, wie die vor dem Thurm mit anhörten, wurde es Nacht. Der Marquis von Lantenac schwieg und ließ den Imânus reden; bei Feldherren ist dieser düstere Egoismus ein Vorrecht ihrer Verantwortlichkeit.
Mit dröhnender Stimme rief der Imânus über Cimourdain hinweg ins Weite: Männer, die Ihr uns angreift, unsern Vorschlag habt Ihr gehört; er ist ein für allemal gemacht, und nichts haben wir daran zu ändern. Nehmt ihn an, wo nicht wehe! Wollt Ihr? Wir geben Euch die drei Kinder zurück, die hier sind und Ihr sichert uns Allen das Leben und freien Abzug.
– Allen, ja, erwiderte Cimourdain, mit Ausnahme eines Einzigen.
– Wessen?
– Lantenacs.
– Der gnädige Herr! unsern gnädigen Herrn ausliefern? Nie.
– Lantenac müssen wir haben.
– Nie.
– Unter der Bedingung allein können wir uns verständigen.
– Dann fangt an.
Es wurde wieder still. Der Imânus gab das Hornsignal und stieg zu den Seinen herab. Der Marquis zog den Degen. Schweigend faßten die neunzehn Belagerten im ebenerdigen Saal hinter dem Abschnitt Posto und knieten nieder. Sie hörten, wie die Sturmkolonne mit regelmäßigem Schritt in der Dunkelheit gegen den Thurm heranmarschirte, immer näher; plötzlich stand die Kolonne still, dicht vor der Mündung der Bresche. Und jetzt, immer noch auf den Knieen, legten Alle durch die Schießscharten des Abschnittes auf den Feind an, und Einer unter ihnen, Pfarrer Turmeau genannt Grand-Francoeur, erhob sich und sprach, in seiner Rechten den Säbel und in der Linken ein Kruzifix schwingend, mit feierlicher Stimme:
– Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!
Alles feuerte, und der Sturm begann.
Es war auch in der That gräßlich, denn den gräßlichsten Traum übertraf noch dieses Handgemenge. Um etwas Aehnliches zu finden, müßte man zu den großen Zweikämpfen im Aeschylos oder zu den alten Metzeleien aus der Feudalzeit zurückgreifen, zu jenen »Angriffen mit kurzen Klingen«, die bis ins siebzehnte Jahrhundert hineinreichen, tragische Erstürmungen, bei denen man durch das Hinterpförtchen vordrang und die der alte Kriegsmann der Provinz Alentejo folgendermaßen beschreibt: »Nachdem die Mine ihre Schuldigkeit gethan, gehen die Belagerer mit blechbeschlagenen Brettern, Rundschilden, Sturmdächern, sowie auch reichlich mit Handgranaten versehen, vorwärts und bemächtigen sich der Verschanzungen oder Abschnitte, indem sie deren Vertheidiger durch eine lebhafte Attacke aus denselben vertreiben.«
Der Schauplatz des Angriffs war fürchterlich; es war eine jener Breschen, welche die Fachmänner »gewölbte Breschen« nennen, das heißt kein offener Durchbruch unter freiem Himmel, sondern, wie man sich wohl noch entsinnen wird, ein Riß durch die Mauer. Das Pulver hatte wie ein Bohrer gearbeitet, und seine Wirkung war so kräftig gewesen, daß es den Thurm mehr als vierzig Fuß über der Minenkammer gesprengt hatte; aber dennoch war es nur ein Spalt, und die praktikable Oeffnung der Bresche, die in den ebenerdigen Saal führte, erinnerte mehr an einen stechenden Lanzenstoß als an den schneidenden Hieb einer Axt. Es war eine Punktion an der Seite des Thurms, ein langer, durchdringender Einbruch, etwas wie ein horizontaler Schacht, ein darmartig geschlängelter, unmerklich aufsteigender Durchgang durch eine fünfzehn Fuß dicke Mauer, eine Art Cylinder, dessen ungestalte Höhlung von Hindernissen, Fallen und sonstigen Gefahren strotzte und in dem man mit der Stirn gegen den Granit, mit den Füßen gegen den Schutt, mit den Blicken gegen die Nacht stieß. Diese schwarze Wölbung gähnte die Angreifer gleich einem Schlund an, dessen Ober- und Unterkiefer durch die Steine der zerrissenen Mauer gebildet wurden, und starrte von Zacken wie ein Haifischrachen von Zähnen. Durch dieses entsetzliche Loch mußte man ein- und ausgehen; drinnen hagelte es Kugeln, und drüber hinaus, das heißt in dem niedrigen Parterresaal, erhob sich der Abschnitt.
Nur das Aufeinanderprallen der Sappeurs in den Galerien, wenn die Gegenmine die Mine durchschnitten hat, oder die Metzeleien mit dem Beil im Zwischendeck eines in der Seeschlacht geenterten Schiffes lassen sich mit diesem über alles Maß gräßlichen Grubenkampf an Gräßlichkeit vergleichen. Nichts Schaudervolleres als ein Blutbad in einem geschlossenen Raum.
Im Augenblick, wo die erste Woge der Belagerer hereinbrach, bedeckte sich die ganze Barrikade mit Blitzen, als schlügen unterirdische Wetterstrahlen ein. Der angreifende Donner antwortete dem Donner im Hinterhalt und zwischen den hin- und herknallenden Schüssen schmetterte Gauvain's Ruf: »Drauf los!« dann der Ruf des Marquis: »Fest gegen den Feind!« dann der Ruf des Imânus: »Zu mir, die Männer von le Maine!« dann wieder das Geklirr der einhauenden Säbel und, Schlag auf Schlag, gräßliche lückenreißende Gewehrsalven. Die Fackel, die an der Wand hing, warf einen verschwommenen Flimmer auf das Entsetzliche; unterscheiden konnte man nichts; über Allem dehnte sich eine röthliche Schwärze, und wer hereindrang, wurde plötzlich blind und taub, taub vor Lärm und blind vor Rauch. Die Verwundeten lagen unter dem Geröll herum. Man trat auf Leichen, stampfte auf Wunden, quetschte gebrochene Gliedmaßen, aus denen sich ein Geheul erhob, und wurde in die Füße gebissen von Sterbenden. Die Stille, die zuweilen entstand, war noch abscheulicher als das Getümmel; man hörte, wie unter schauerlichem Ringen nach Athem, zähneknirschend, röchelnd, fluchend, Brust an Brust gerauft wurde; dann brach der Donner wieder los. Ein Blutbach rann durch die Bresche in die Dunkelheit hinaus und staute sich draußen im Gras zu einer dampfenden Lache. Fast hätte man glauben können, es blute der Thurm selber aus seiner riesigen Seitenwunde.
Merkwürdigerweise war von all dem Lärm im Freien kaum etwas zu vernehmen; rings um die angegriffene Festung, im Wald wie auf dem Plateau, herrschte in der stichdunkeln Nacht ein unheimlicher Friede. Drinnen wüthete die Hölle; draußen schwieg das Grab. Dieser Anprall von Menschen, die sich in der Finsterniß hinwürgten, das Gewehrfeuer, das Geschrei, das Wuthgebrüll, das ganze rasende Getümmel verhallte zwischen den Steinmassen der Mauern und Gewölbe; durch den luftkargen Raum wurde der Schall erstickt, und dem Gemetzel gesellte sich noch die Beklemmung zu. So wenig war außerhalb des Thurms von Allem zu hören, daß die kleinen Kinder in der Bibliothek weiterschliefen.
Mit der Hartnäckigkeit der Vertheidigung wuchs die Erbitterung des Angriffs. Es bietet keine Verschanzung größere Schwierigkeiten als diese Art Barrikaden mit einspringendem Winkel, und was den Belagerten an numerischer Stärke abging, das wurde durch die Vortheile ihrer Stellung ausgeglichen. Die Sturmkolonne erlitt bedeutende Verluste. Draußen am Fuß des Thurms in einer langgestreckten Zeile aufgestellt, drang sie langsam durch die Mündung der Bresche vor, immer kürzer werdend, wie eine Schlange, die in ein Mauerloch schlüpft.
Gauvain bewegte sich im dichtesten Gewühl des ebenerdigen Saals, mitten im Kugelregen, mit der Tollkühnheit des jungen Feldherrn und der Zuversicht des Mannes, der noch nie verwundet worden. Da er sich eben umwendete, um einen Befehl zu ertheilen, beleuchtete das Aufblitzen eine Gewehrsalve in seiner nächsten Nähe ein Gesicht.
– Cimourdain! rief er, was wollen Sie hier?
Es war richtig Cimourdain.
– Ich will bei Dir sein, antwortete er.
– Aber Sie setzen ja Ihr Leben aufs Spiel!
– Und Du, was thust Du mit dem Deinen?
– Mein Hiersein ist nothwendig, Ihres nicht.
– Wo Du bist, muß auch ich sein.
– Nicht doch, liebster Lehrer.
– Doch, mein Kind.
Und Cimourdain blieb bei Gauvain.
Auf den Steinplatten des Saals häuften sich die Todten. Wiewohl die Barrikade immer noch Stand hielt, schließlich mußte sie offenbar der Uebermacht erliegen. Wohl waren die Angreifenden ohne Deckung, die Angegriffenen hingegen in sicherer Hut; wohl fielen für einen der Vertheidiger zehn der Belagerer; aber diese füllten ihre Lücken wieder aus und vermehrten sich, während Jene an Zahl abnahmen. Die neunzehn Belagerten befanden sich Alle hinter dem Abschnitt, gegen den ja der Sturm gerichtet war; sie hatten bereits Verwundete und Todte und konnten höchstens mehr ihrer fünfzehn weiterkämpfen. Einer der Wildesten, Chant-en-hiver, ein untersetzter Bretone, mit krausem Haar, war gräßlich verstümmelt; er hatte ein Auge verloren und die Kinnlade war ihm zerschmettert worden. Da er noch gehen konnte, schleppte er sich zur Wendeltreppe, stieg in die Kammer des ersten Stocks hinauf, um dort zu beten und zu sterben, und lehnte sich, weil ihm der Athem ausging, bei der großen Schießscharte gegen die Mauer.
Unten wurde das Gemetzel vor der Barrikade mit jedem Augenblick grauenvoller.
– Belagerte! rief Cimourdain, einen stillen Moment zwischen zwei Salven erhaschend, soll denn noch länger Blut fließen? Ihr seid verloren. Ergebt Euch. Bedenkt, daß wir unser viertausendfünfhundert sind gegen Euch neunzehn, das heißt über zweihundert gegen Einen. Drum streckt die Waffen!
– Lassen wir die sentimentalen Stilübungen, entgegnete der Marquis.
Und zwanzig Kugeln sausten als Antwort von der Barrikade herab.
Die Verschanzung stieg nicht bis zur Decke hinauf; dieser Umstand, der den Belagerten erlaubte, darüber hinwegzuschießen, erlaubte aber auch den Angreifenden, hinüberzuklettern. – Sturm auf die Barrikade! rief Gauvain. Meldet sich Einer, der hinauf will?
– Ich, sagte Radoub der Sergeant.
Den Belagerungstruppen stand eine große Ueberraschung bevor: Nachdem Radoub, der mit sechs Mann seines Bataillons an der Spitze der Sturmkolonne durch die Bresche gedrungen war – jetzt lagen von den sechs Parisern bereits vier todt am Boden –, nachdem also Radoub gerufen hatte: »Ich!« sah man ihn, statt voranzustürzen, zurückweichen und gebückt, geduckt, fast hinkriechend zwischen den Beinen der Soldaten, den Eingang der Bresche wieder erreichen und hinauseilen. War er geflohen? Radoub und Flucht? Wie reimte sich das wohl zusammen?
Als Radoub ins Freie kam, rieb er sich, noch ganz blind von all dem Rauch, die Augen, gleichsam um das Grauen der Nacht daraus wegzuwischen, und untersuchte beim Sternenschein die Mauer. Gleich darauf nickte er zufrieden mit dem Kopf wie Jemand, der zu sich selber sagt: Gut, ich habe mich nicht geirrt. Er hatte bemerkt, daß der tiefe Riß der explodirten Mine sich über der Bresche bis zu jener Schießscharte im ersten Stockwerk hinaufzog, deren Vergitterung durch eine Kanonenkugel eingeschlagen und losgelöst worden war. Die verbogenen Eisenstäbe hingen halb zerschmettert herunter, so daß ein Mann schon durchschlüpfen konnte, durchschlüpfen freilich, aber wie ließ sich denn das Fenster erreichen? Durch den Riß vielleicht, doch dazu war die Gewandtheit einer Katze erforderlich. Dem Sergeanten Radoub war eine solche Gewandtheit eigen; er gehörte zu jener Gattung von Kämpfern, welche Pindar »die geschmeidigen Athleten« nennt. Bei einem alten Soldaten kann sich unter Umständen die Behendigkeit der Jugend erhalten. Radoub, der früher bei den Gardes-françaises gedient hatte, war noch kein Vierziger und unbeschadet seiner herkulischen Stärke ein flinker Gesell. Er stellte seine Muskete hin, legte sein Wehrgehäng ab, zog Waffenrock und Weste aus und behielt nur seinen Säbel, den er zwischen die Zähne nahm, und seine zwei Pistolen, die er mit den Kolben nach oben in seinen Hosengurt steckte. Allen Ballastes also entledigt begann er unter den Augen desjenigen Theils der Kolonne, der noch nicht in die Bresche vorgedrungen war, an den Steinen des Mauerrisses wie über die Stufen einer Treppe hinaufzuklettern. Daß er keine Schuhe anhatte, kam ihm dabei nur zu Statten, denn nichts ist schmiegsamer als ein nackter Fuß; mit den Zehen in die Vertiefungen des Steins festgekrallt, arbeitete er sich mit Händen und Knieen empor. Es war ein mühseliges Steigen, etwas wie ein Aufklimmen an der gezähmten Klinge einer Säge. Ein wahres Glück, sagte er zu sich selber, daß Niemand im ersten Stock ist, sonst käm ich nicht so gemüthlich weiter.
Er hatte eine Höhe von wohlgemessenen vierzig Fuß in dieser Weise zu bewältigen, und dabei waren ihm noch die vorstehenden Kolben seiner Pistolen etwas hinderlich. Auch wurde, je höher er stieg, der Riß in der Mauer desto enger, so daß die Schwierigkeiten immer wuchsen und mit der Tiefe des Abgrunds die Gefahr eines Sturzes verhältnißmäßig zunahm.
Endlich hatte er den Sims der Schießscharte erreicht; er schob das verdrehte, gelockerte Gitter bei Seite, schwang sich, da die Oeffnung nun weitaus groß genug war, mit einer gewaltigen Kraftanstrengung empor, stemmte sich mit einem Knie auf den Fenstervorsprung, packte mit der einen Hand links und mit der andern rechts den festgebliebenen Stummel einer Eisenstange und bog, mit dem Säbel zwischen den Zähnen an beiden Fäusten über der Untiefe hängend, den Oberkörper in die Schießscharte vor. Nur noch ein Satz, und er stand im Saal des ersten Stockwerks.
Da erschien am Fenster eine Gestalt; urplötzlich tauchte vor Radoub etwas Grauenvolles in der Dunkelheit auf, ein blutiges Gesicht mit einem ausgeschlagenen Auge und einer zerschmetterten Kinnlade, und diese einäugige Schreckensmaske starrte ihn an. Nun langte die Gestalt mit ihren zwei Händen aus der Finsterniß heraus nach Radoub, und die eine zog ihm mit einem einzigen Griff die beiden Pistolen aus dem Gürtel, während die andere ihm dem Säbel zwischen den Zähnen wegriß.
Radoub war wehrlos. Ihm glitt das Knie auf der abschüssigen Brüstung der Schießscharte zurück; kaum konnte er sich noch mit seinen festgekrampften Händen an den zwei abgebrochenen Gitterstäben halten und hinter ihm klaffte ein vierzig Fuß tiefer Abgrund.
Die Schreckensgestalt war Chante-en-hiver, welcher, im Rauch, der von unten aufstieg, erstickend, sich zu der Fensteröffnung emporgerafft und dort wieder ein wenig erholt hatte, weil ihn die frische Nachtluft, die er jetzt einathmete, erquickte und ihm das Blut an den Wunden gerinnen machte. Plötzlich war auch vor ihm eine dunkle Gestalt aufgetaucht, und da Radoub, mit den Händen an die Eisenstäbe angeklammert, sich entweder ins Leere hinabstürzen oder entwaffnen lassen mußte, hatte ihm Chante-en-hiver mit entsetzlicher Kaltblütigkeit die Pistolen vom Gürtel und den Säbel aus den Zähnen gewissermaßen abpflücken können. Und jetzt entspann sich ein unerhörter Zweikampf, der Zweikampf zwischen dem Wehrlosen und dem Verwundeten, in dem der Sterbende offenbar Sieger bleiben mußte, denn eine Kugel genügte, um Radoub in den Abgrund niederzuschmettern, der unter ihm gähnte.
Zum Glück für Radoub konnte Chante-en-hiver die Pistolen, die er Beide in einer Hand hielt, nicht sofort verwenden und bediente sich einstweilen des Säbels, mit dem er einen Stoß nach Radoub's Schulter führte. Durch diesen Stoß aber wurde Radoub zugleich verwundet und gerettet. Ohne Waffen, doch im Besitz seiner Vollkraft und seiner Wunde nicht achtend, die übrigens auch nicht gefährlich war, schwang er sich, die Gitterstäbe loslassend, voran, setzte mit mächtigem Sprung über die Fensterbrüstung und stand nun dicht vor Chante-en-hiver, der den Säbel weggeworfen hatte, und mit einem Pistol in jeder Hand, sich auf den Knieen aufrichtend, in unmittelbarster Nähe auf ihn anlegte, aber nicht sofort losdrückte, weil ihm vor Schwäche der Arm zitterte.
Radoub lachte dem Zögernden ins Gesicht: – Du Pfuiteufelslarve, schrie er ihn an, willst mir wohl gar bange machen mit Deinem Boeuf-à-la-mode-Rüssel? Donnerwetter, Dir haben sie die Schnauze nach Noten beschädigt.
Chante-en-hiver zielte noch immer.
– Nichts für ungut, Kamerad, lachte Radoub weiter, aber die blauen Bohnen haben Dir die Fratze recht gediegen zugestutzt. Armer Junge, Dir hat Bellona die Physiognomie zertrümmert. Nun ja, spuck ihn nur einmal heraus, Deinen kleinen Pistolenknaller, lieber Alter.
Der Schuß fiel und fuhr Radoub so hart am Kopf vorbei, daß er ihm das halbe Ohr mit fortriß. Chante-en-hiver erhob den andern Arm mit dem zweiten Pistol, aber Radoub ließ ihn nicht mehr zum Zielen kommen. – Ich habe genug, rief er, an dem einen abgeschossenen Ohr. Zwei Mal hast Du mich schon verwundet. Jetzt ist die Reihe an mir.
Und auf Chante-en-hiver losstürzend, fiel er ihm in den Arm, so daß die Kugel in die Wand einschlug, und schüttelte ihn bei der Kinnlade. Der Bauer stieß ein Gebrüll aus und sank in Ohnmacht. Radoub schritt über ihn weg und ließ ihn liegen. Jetzt da mein Ultimatum an Dich ergangen ist, sagte er, rühr Dich nicht mehr. Bleibe ruhig liegen, bösartige Blindschleiche. Du wirst wohl begreifen, daß es juxlos für mich wäre, Dich zu vertilgen. Krieche nur nach Herzenslust am Boden herum, Mitbürger meiner Pantoffeln. Stirb; das ist immerhin etwas; dann siehst Du wenigstens ein, daß Dir Dein Herr Pfarrer lauter dummes Zeug vorgeschwatzt hat. Fahr ab in das große Problem, Bauernseele.
Und er sprang in den Saal hinein. Stockfinstere Nacht, brummte er vor sich hin. Da Chant-en-hiver in den Zuckungen der Agonie heulte, drehte sich Radoub abermals um: Thu mir nur den einzigen Gefallen, und sei still, Du latenter Bürger. Mit Deinen Privatangelegenheiten befasse ich mich nicht weiter, und Dir den Rest zu geben, verschmäh ich. Laß mich ungeschoren.
Und unschlüssig fuhr er sich, während er Chante-en-hiver betrachtete, mit der Hand durch die Haare.
– Holla, was fang ich nur gleich an? Alles wäre schön und gut, aber da steh ich jetzt wie der Ochs am Berge. Ueber zwei Schüsse hätte ich verfügen können; Du hast den Stoff vergeudet, einfältiger Tropf, und dazu noch dieser Malefizrauch, der einem die Augen beizt. . . . Au! unterbrach er sich, da er zufällig sein Ohr berührt hatte, und wendete sich wieder zu Chante-en-hiver: Was hast Du jetzt davon, mir ein Ohr konfiszirt zu haben? Uebrigens entbehre ich das noch lieber als sonst etwas; es ist so nur ein Zierrath. Du hast mir auch die Schulter aufgeritzt, aber darauf pfeif ich. Gieb Deinen Geist in Frieden auf, ich verzeihe Dir, Landbewohner.
Er lauschte. Das Getöse im ebenerdigen Saal war schauderhaft. Der Kampf tobte toller denn je.
– Da drunten gehts hoch her, meinte er. Sie gröhlen »Vivat der König«; allen Respekt davor: sie krepiren mit Anstand.
Er stieß mit dem Fuß gegen seinen Säbel, hob ihn vom Boden auf und sagte noch zu Chante-en-hiver, der sich nicht mehr regte und vielleicht schon todt war: Siehst Du, Waldmensch, ein Säbel oder ätsch, das bleibt sich für das, was ich vorhatte, ganz gleich. Ich nehm ihn nur aus alter Freundschaft wieder zu mir. Meine Pistolen aber, die gehen mir ab. Hol Dich der Teufel, Du Kaffer! Wetter, was fang ich jetzt an? So richte ich hier nichts aus.
Er trat weiter vor und schaute um sich her, um sich zu orientiren. Da erblickte er plötzlich im Halbdunkel hinter dem Mittelpfeiler einen langen Tisch mit undeutlich schimmernden Gegenständen. Er tastete hin. Es waren Stutzbüchsen, Pistolen, Karabiner, eine ganze Reihe sorgfältig geordneter Feuerwaffen, die nur darauf zu warten schienen, daß ein Schütze sie zur Hand nehme. Diese Waffensammlung war der Kriegsvorrath, den die Belagerten für die zweite Phase des Kampfes aufgestapelt hatten.
– Man bediene sich beim Büffet, rief Radoub und warf sich freudestrahlend drüber her.
Jetzt konnte er walten wie ein Verhängniß.
Die Thür der Treppe, welche in das obere und untere Stockwerk führte, stand weit offen hinter dem Tisch mit den Waffen. Radoub ließ seinen Säbel fallen, faßte mit jeder Hand ein doppelläufiges Pistol an und entlud Beide zugleich unter der Thür aufs Gerathewohl in die Wendeltreppe; dann griff er nach einem Karabiner, mit dem er gleichfalls feuerte, und schoß ferner noch eine schwergeladene Stutzbüchse, die kartätschenähnlich fünfzehn Rehposten ausspieh. Darauf hin schöpfte er wieder Athem und schrie mit Donnerstimme die Treppe hinab: – Es lebe Paris! Dann, eine zweite Stutzbüchse packend, die noch dicker war als die Erste, legte er auf die gewundene Höhlung der Wendeltreppe an und wartete.
Die Bestürzung im Erdgeschoß war unbeschreiblich; gegen dergleichen sinnverwirrende Überraschungen hält kein Widerstand mehr Stich. Von den drei Schüssen, die Radoub abgefeuert, hatten zwei Kugeln getroffen; die Eine hatte den ältern Pique-en-Bois niedergestreckt, die Andere Herrn von Quélen genannt Houzard.
– Sie sind oben! rief der Marquis, und mit diesem Ruf war auch der Rückzug entschieden. Nicht rascher fliegt ein aufgeschreckter Schwarm Vögel davon, als jetzt Alles nach der Treppe stürzte. Der Marquis drängte selber zur Flucht: – Macht schnell, sagte er; der Muth besteht hier im Entrinnen. Im zweiten Stock sammeln wir uns: dort nehmen wirs wieder auf.
Er war der Letzte, der die Barrikade verließ, und dieser seiner Tapferkeit verdankte er das Leben, denn, hinter der Thür des ersten Stockwerks verschanzt, den Finger am Drücker der Stutzbüchse, lauerte Radoub den Entweichenden auf. Die Ersten, die um die Krümmung der Treppe bogen, erhielten die Ladung mitten in die Brust und wurden niedergeschmettert. Wäre der Marquis zuerst geflohen, so war auch er des Todes. Ehe Radoub zu einer andern Flinte greifen konnte, eilten die Andern vorüber; der Marquis kam zuletzt und stieg weniger rasch hinauf als seine Leute. Sie glaubten Alle, das erste Stockwerk wimmle von Soldaten und stürmten, ohne auch nur hineinzuschauen, in die zweite Etage, ins Spiegelzimmer, wo sich die eiserne Thür, wo sich die geschwefelte Lunte befand, und wo kapitulirt werden mußte oder gestorben.
Gauvain, den das Gewehrfeuer auf der Treppe nicht weniger überrascht hatte als seine Gegner und der nicht begreifen konnte, von wannen ihm diese Hilfe kam, hatte sie sich, ohne weiter darüber nachzugrübeln, zu Nutzen gemacht und mit den Seinen über die Barrikade setzend, die Belagerten mit dem Degen im Rücken bis zum ersten Stockwerk verfolgt. Dort fand er Radoub, der salutirend meldete: – Nur auf zwei Worte, Kommandant: Der Urheber bin ich; ich habe mich an Dol erinnert, es gehalten wie Sie und den Feind in ein Kreuzfeuer genommen.
– Der Schüler macht mir alle Ehre, sagte Gauvain mit einem Lächeln.
Wenn man eine geraume Zeit im Finstern zugebracht hat, gewöhnen sich die Augen schließlich daran wie die Nachtvögel; so bemerkte denn Gauvain, daß Radoub ganz mit Blut bedeckt war.
– Aber Kamerad, da bist ja verwundet!
– Ist nicht der Rede werth, Commandant. Ein Ohr mehr oder weniger, was hat das zu bedeuten? Ich hab auch einen Säbelstich abgekriegt, aber ich pfeife drauf. Wer eine Fensterscheibe eindrückt, schneidet sich immer ein wenig in die Finger. Uebrigens ist auch noch fremdes Blut dabei.
In dem von Radoub eroberten ersten Stock wurde nun eine Zeit lang gerastet. Man schaffte eine Laterne herbei. Cimourdain kam herauf und berieth sich mit Gauvain. Es mußte auch in der That Alles reiflich überlegt werden. Die Belagerer waren im Unklaren über die Absichten der Belagerten; sie wußten von deren Munitionsmangel nichts, ahnten nicht, daß es ihnen an Pulver gebrach, und da der zweite Stock die letzte haltbare Vertheidigungslinie war, konnte möglicherweise in der Treppe eine Mine angebracht worden sein.
So viel jedoch war gewiß: zu entrinnen vermochte der Feind nicht. Wer nicht gefallen war, saß oben wie unter Schloß und Riegel; Lantenac war in einer Mausefalle. Mit dieser Gewißheit durfte man sich wohl schon etwas Zeit lassen, um die beste Lösung auszuersinnen, und da man schon viele Verluste zu beklagen hatte, wollte man bei diesem neuen Angriff möglichst wenig Menschenleben opfern. Dieser letzte Sturm schien mit großen Gefahren verbunden, und aller Wahrscheinlichkeit nach war dabei ein verheerendes erstes Feuer auszuhalten.
Der Kampf war also unterbrochen. Im Besitz des Erdgeschosses und ersten Stockwerks, warteten die Belagerer, daß ihn der Kommandant wieder aufnehme. Gauvain und Cimourdain aber hielten noch immer Kriegsrath, und Radoub wohnte der Besprechung schweigend bei. Auf ein Mal wagte er, schüchtern salutirend, eine Frage: – Kommandant?
– Was wünschen Sie, Radoub?
– Verdiene ich nicht eine kleine Belohnung?
– Freilich. Verlange, was Du immer magst.
– So verlange ich, wiederum der Erste zu sein.
Das durfte ihm allerdings nicht abgeschlagen werden, und gethan hätte er es übrigens auch ohne Erlaubniß.
Während man sich im ersten Stock berieth, verschanzte man sich im zweiten. Im Erfolg steckt etwas wie Raserei, in der Niederlage die Tollwuth; ein wahnsinniger Zusammenstoß stand bevor. Den Sieg aus nächster Nähe winken sehen, berauscht; unten herrschte die Hoffnung, von allen Seelenkräften die mächtigste, wenn die Verzweiflung nicht wäre. Oben aber herrschte Verzweiflung, klare, überlegte, grausige Verzweiflung. Die erste Sorge der Belagerten, nachdem sie die Zufluchtstätte erreicht hatten, die letzte, die ihnen noch zu Gebot stand, war, den Eingang zu versperren. Die Thür verschließen, war unnütz, praktischer hingegen, die Treppe zu verrammeln, denn in einer solchen Situation ist ein Hinderniß, hinter welchem man sehen und kämpfen kann, einer verriegelten Pforte vorzuziehen. Der Raum war durch die Fackel erhellt, die der Imânus bei der Schwefellunte an der Maurer angebracht hatte. In diesem zweiten Stockwerk stand eine jener starken und schweren Truhen aus Eichenholz, in denen, vor Erfindung der Kasten mit Schubladen, Kleider und Wäsche aufbewahrt wurden; diese Truhe schleiften nun die Belagerten zur Treppenthür hin und zwängten sie in aufrechter Stellung so fest hinein, daß die Oeffnung der Breite nach ganz verstopft war und nur oben unter dem Gewölbe ein enger Raum freiblieb, der blos einen einzigen Mann durchließ und also den Vortheil bot, daß man die Eindringlinge einzeln niedermachen konnte; ob irgend Jemand sich durchwagen würde, war überhaupt zweifelhaft. Nachdem der Eingang nun versperrt war, gönnten sich die Männer etwas Ruhe und zählten sich. Von den Neunzehn waren nur noch sieben übrig, darunter der Imânus; außer diesem und dem Marquis waren sie Alle verwundet, nichtsdestoweniger aber sehr lebendig, denn in der Hitze des Gefechts behält Jeder, der nicht tödtlich getroffen ist, seine Rührigkeit. Die fünf Verwundeten waren Chatenay genannt Robi, Guinoiseau, Hoisnard Branche-d'Or, Brin-d'Amour und Grand-Francoeur. Die andern waren sämmtlich gefallen. Munition gab es keine mehr. Der Vorrath war erschöpft. Man zählte die Patronen, und es stellte sich heraus, daß die Sieben blos noch vier Schüsse abfeuern konnten. Es war also der Augenblick gekommen, wo es zu sterben galt. Man war hingedrängt zum furchtbar gähnenden Abgrund, und zwar an den äußersten Rand. Mittlerweile hatte der Angriff wieder begonnen, bedächtig und deshalb um so bedrohlicher. Man hörte, wie die Aufsteigenden die Treppe Stufe für Stufe mit den Gewehrkolben prüften. Kein Entrinnen; wohin auch? Durch die Bibliothek? Drüben auf dem Plateau standen die Kanoniere mit glimmender Lunte bei ihren Geschützen. Oder hinauf in die obersten Stockwerke? Wozu? Sie führten zur Plattform, und dort blieb kein anderer Ausweg, als sich vom Thurm herabzustürzen. Die sieben Ueberlebenden dieses epischen Kampfes sahen sich in dieser runden Mauer, welche sie zugleich schützte und preisgab, unerbittlich eingeschlossen und festgehalten; ohne gefangen zu sein, waren sie doch schon Gefangene. Jetzt ergriff der Marquis das Wort: Freunde, Alles ist verloren. Und nach einer Pause setzte er hinzu: Grand-Francoeur wird nun wieder der Abbé Turmeau.
Alle knieten mit ihren Rosenkränzen nieder. Immer lauter dröhnten die Kolbenschläge der Belagerer auf der Treppe. Grand-Francoeur, der mit Blut übergossen war, weil ihm ein Streifschuß einen Theil der Kopfhaut weggerissen hatte, erhob in der Rechten das Kruzifix. Der Marquis, wenn auch im Grund ein Skeptiker, war gleichfalls niedergekniet.
– Jeder, sagte Grand-Francoeur, bekenne jetzt lautvernehmlich seine Sünden; zuerst Sie, gnädiger Herr.
– Ich habe getödtet, antwortete der Marquis.
– Ich habe getödtet, beichtete Hoisnard.
– Ich habe getödtet, beichtete Guinoiseau.
– Ich habe getödtet, beichtete Brin-d'Amour.
– Ich habe getödtet, beichtete Chatenay.
– Ich habe getödtet, beichtete der Imânus.
Und Grand-Francoeur hob wieder an: Im Namen des dreieinigen Gottes ertheile ich Euch die Absolution. Fahrt hin in Frieden.
– Amen, setzten Alle hinzu.
– Jetzt laßt uns sterben, sagte der Marquis, indem er aufstand.
– Und weiter tödten, sagte der Imânus.
Nun schmetterten die Kolbenstöße bereits gegen die Truhe, welche die Thür versperrte.
– Denkt nur noch an Euren Gott, sagte der Priester. Die Erde ist für Euch nicht mehr vorhanden.
– Ja, bemerkte der Marquis, wir liegen schon im Grab.
Und alle neigten die Stirn und schlugen an ihre Brust. Nur der Marquis und der Geistliche standen aufrecht. Jeder Blick war gesenkt; der Abbé betete; die Bauern beteten; der Marquis brütete vor sich hin, und die Truhe erdröhnte schauerlich wie unter Hammerschlägen. Da erhob sich plötzlich hinter den Betenden eine frische, kräftige Stimme und rief: Hatte ich's nicht gesagt, gnädiger Herr?
Staunend wendeten sich Alle um. Die Mauer hatte eine Lücke. Diese Lücke rührte davon her, daß ein Stein, der vollständig, aber nur nicht mit Mörtel, an die übrigen angepaßt und unten und oben mit einer Angel versehen war, sich auf der Angel wie ein Weghaspel halb umgedreht hatte, und so auf beiden Seiten, rechts und links eine sehr enge Oeffnung darbot, die jedoch immerhin ein einzelner Mann noch als Durchgang benutzen konnte. Hinter dieser ungeahnten Thür erblickte man die obersten Stufen einer Wendeltreppe und über der höchsten Stufe ein dem Marquis wohlbekanntes Gesicht.
– Du bist's, Halmalo?
– Ja ich, gnädiger Herr. Da sehen Sie nun, daß es das wirklich giebt, Steine, die sich drehen lassen, und daß man heraus kann von hier. Ich komme gerade recht, aber machen Sie schnell. In zehn Minuten sind wir mitten im Wald.
– Ehre sei Gott in den Höhen, sagte der Priester.
– Retten Sie sich, gnädiger Herr, rief es aus Aller Mund.
– Ihr Alle zuerst, gebot der Marquis.
– Vor Allen Sie, gnädiger Herr, bat der Abbé Turmeau.
– Nein, ich zuletzt. Und mit strenger Miene fuhr der Marquis fort: Nur jetzt keinen edlen Wettstreit. Zur Großmuth fehlt uns die Zeit. Ihr seid verwundet, und ich befehle Euch, zu leben und zu fliehen. Rasch den Ausweg benutzt! Ich danke Dir, Halmalo.
– Herr Marquis, fragte der Abbé Turmeau, sollen wir uns denn trennen?
– Unten, freilich. Entkommen muß man immer nur einzeln.
– Wollen der gnädige Herr einen Sammelplatz bestimmen?
– Ja, eine Lichtung im Walde, Pierre-Gauvaine. Kennt Ihr den Ort?
– Alle, ja.
– Morgen um Mittag bin ich dort, und wer noch gehen kann, finde sich ein.
– Es soll geschehen.
– Und dann fangen wir den Krieg von Neuem an, sagte der Marquis.
Unterdessen hatte Halmalo bei einem Druck gegen den Stein bemerkt, daß derselbe festsaß und daß die Lücke nicht mehr geschlossen werden konnte. – Gnädiger Herr, mahnte er, lassen Sie uns eilen; der Stein giebt nicht mehr nach. Ich habe den Durchgang öffnen können, vermag aber nicht, ihn wieder zuzumachen.
Der seit vielen Jahren unbenutzt gebliebene Stein war wirklich wie verwachsen mit seinem Scharnier und widerstand fortan jeder Anstrengung.
– Gnädiger Herr, hob Halmalo nochmals an, ich hoffte, den Weg versperren zu können, und hoffte, daß dann die Blauen beim Eintreten garnichts vorfinden und nicht verstehen würden, wie Alles in Rauch und Nebel zerstoben sei. Aber nun will der Stein nicht mehr. Der Feind wird die Lücke wahrnehmen und kann uns verfolgen. Darum lassen Sie uns wenigstens keine Minute verlieren. Schnell die Treppe hinunter, Jedermann,
Der Imânus legte Halmalo die Hand auf die Schulter: Wie viel Zeit braucht man Kamerad, um durch diesen Gang zu einer Stelle des Waldes zu gelangen, wo man ganz sicher ist?
– Keiner ist doch schwer verwundet? fragte Halmalo.
– Keiner, wurde ihm geantwortet.
– Unter diesen Umständen reicht eine Viertelstunde hin.
– Kommt also, fuhr der Imânus fort, der Feind erst in einer Viertelstunde herein . . .?
– So kann er uns verfolgen, einholen aber nicht.
– Aber, sagte der Marquis, schon in fünf Minuten werden sie hier sein; länger kann ihnen diese alte Truhe nicht widerstehen. Noch ein paar Kolbenschläge, und sie ist gesprengt. Eine Viertelstunde? Ja, wer vermag denn den Feind eine volle Viertelstunde hindurch aufzuhalten?
– Ich, versetzte der Imânus.
– Du, Gouge-le-Bruant?
– Ja, ich, gnädiger Herr. Hören Sie nur: Von Euch sechsen sind fünf verwundet. Mir hingegen ist nicht einmal die Haut aufgeritzt worden.
– Auch mir nicht, sagte der Marquis.
– Sie, gnädiger Herr, sind der Anführer; ich bin blos ein Soldat; der Anführer und ein Soldat sind zweierlei.
– Nun ja. Jeder von uns hat seine besondere Pflicht.
– Nicht doch, gnädiger Herr. Wir haben, Sie und ich, eine und dieselbe Pflicht, nämlich die, Ihr Leben zu retten. Kameraden, sprach der Imânus, zu den Uebrigen gewendet, es gilt, den Feind hinzuhalten und die Verfolgung möglichst lang zu hintertreiben. Hört also: Ich besitze noch meine ungeschmälerte Kraft und habe keinen Tropfen Blut verloren; da ich unverletzt bin, habe ich mehr Ausdauer als jeder Andere. Darum geht, aber laßt mir Eure Waffen zurück; ich werde einen guten Gebrauch davon machen und getraue mir, dem Feind eine starke halbe Stunde hindurch zu schaffen zu geben. Wie viel Pistolen sind noch geladen?
– Viere.
– Legt sie auf den Boden hin.
Man that ihm den Willen.
– Gut denn, ich bleibe. Ich will schon noch ein Wörtchen zu ihnen reden. Jetzt geht, und schnell!
Auf dem Gipfelpunkt einer Situation fallen die äußerlichen Formen des Dankes weg, und kaum gönnte man sich die Zeit, mit dem Imânus einen Händedruck zu wechseln.
– Auf baldiges Wiedersehen, sagte der Marquis.
– Nein, gnädiger Herr, darauf hoffe ich nicht; wir sehen uns so bald nicht wieder, denn ich werde sterben.
Alle betraten jetzt, Einer nach dem Andern, die enge Treppe, voran die Verwundeten. Während sie hinabstiegen, zog der Marquis einen Bleistift aus seiner Brieftasche und schrieb auf den Stein, der nicht mehr gedreht werden konnte und den Durchgang offen ließ, ein paar Worte.
– Kommen Sie, gnädiger Herr, mahnte Halmalo; die Anderen sind schon unterwegs.
– Und er verschwand im Treppenraum; der Marquis folgte nach, und der Imânus allein blieb zurück.
Von den vier Pistolen, die auf den Steinplatten lagen, denn gedielt war der Saal nicht, nahm der Imânus in jede Hand eine und ging schräg auf die Treppenthür zu, welche vermittelst der Truhe versperrt und geschlossen war. Offenbar besorgten die Angreifer irgend eine Ueberraschung, einen jener Verzweiflungsausbrüche, die den Sieger wie den Besiegten in eine gemeinsame Schlußkatastrophe verwickeln. In demselben Maß wie die erste Attacke ungestüm gewesen, war die letzte langsam und vorsichtig. Die Truhe konnten oder wollten vielleicht die Belagerer nicht einschlagen, und so hatten sie denn blos den Boden derselben mit Kolbenstößen gesprengt und durch den Deckel mit dem Bajonett Löcher durchgebrochen, durch die sie in den Saal zu schauen versuchten, bevor sie sich hineinwagten. Durch diese Lücken drang der Schein der Laternen, womit die Treppe beleuchtet war, und hinter einer der Oeffnungen gewahrte der Imânus eines jener hereinspähenden Augen. So fuhr er mit dem Lauf eines seiner Pistolen hinein und drückte los: der Schuß fiel und zu seiner großen Zufriedenheit vernahm der Imânus einen entsetzlichen Schrei; die Kugel hatte Auge und Hirn durchbohrt, und der lauernde Soldat war rücklings die Treppe hinuntergestürzt. Den unteren Theil des Deckels hatten die Angreifer an zwei Stellen erheblich beschädigt und zwei schießschartenartige breite Ritzen hineingeschnitten, wovon der Imânus nun die eine benutzte, um den Arm durchzustecken und sein zweites Pistol in die Masse der Belagerer aufs Gerathewohl abzufeuern; wahrscheinlich sprang dieser Schuß an der Mauer ab, denn man hörte vielfach aufschreien, als wären drei oder vier Menschen getödtet oder verwundet worden, und auf der Treppe entstand ein wirres Getöse, wie wenn Leute eine Stellung aufgeben und sich zurückziehen. Der Imânus schleuderte die beiden entladenen Pistolen bei Seite, packte die zwei letzten und blickte, die Waffen fest in den Fäusten haltend, durch die Scharten der Truhe. Seine Vermuthung bestätigte sich. Die Soldaten waren weiter hinabgestiegen und auf den drei oder vier sichtbaren Stufen der Treppenkrümmung wanden sich ein paar Sterbende. Nun wartete der Imânus ab. – Immerhin soviel Zeit gewonnen, dachte er. Da gewahrte er einen Mann, der auf dem Bauch heraufkroch, und zugleich erschien weiter unten, hinter dem Mittelpfeiler, an den sich die Stufen anlehnten, der Kopf eines Feindes. Auf diesen Kopf legte der Imanus wieder an und schoß. Mit einem Schrei sank auch dieser Soldat zurück. Und nun packte der Imânus das letzte geladene Pistol, das er in seiner linken Hand hielt mit der rechten, aber plötzlich durchzuckte ihn ein gräßlicher Schmerz, und an ihm kam jetzt die Reihe, in ein Gebrüll auszubrechen. Ihm wühlte ein Säbel in den Eingeweiden. Eine Faust, die des herangekrochenen Mannes,, hatte zu einer der unteren Lücken der Truhe hereingelangt und dem Imânus eine Klinge in den Leib gebohrt. Die Wunde war entsetzlich, der Bauch von oben nach unten aufgeschlitzt. Dennoch fiel der Imânus nicht zu Boden; er knirschte nur mit den Zähnen und murmelte: Auch gut.
Dann schleppte er sich taumelnd bis zur Fackel zurück, die neben der eisernen Thür brannte, legte sein Pistol weg, nahm die Fackel herunter und senkte sie, mit seiner linken Hand die hervorquellenden Eingeweide zurückhaltend, mit der Rechten nach der geschwefelten Lunte, die Feuer fing und aufflackerte; hierauf ließ er die Fackel wieder fallen und auf den Steinplatten weiterbrennen, griff abermals nach seinem Pistol und raffte sich, bereits am Boden liegend, noch auf, um mit seinem sterbenden Hauch die feurige Lunte anzufachen. Rasch glomm diese weiter, unter der Thür weg, dem Brückenschlößchen zu. Und nun, da ihm das Abscheulichste gelungen, stolzer auf sein Verbrechen als auf seinen Opfermuth, fand dieser Mann, der eben noch ein Held gewesen und jetzt nur mehr ein Mörder war, dieser Mann, dem schon der Tod im Herzen saß, ein Lächeln. – Sie werden an mich denken, murmelte er: An ihren Kindern räche ich das unsrige, den kleinen König in seinem Gefängniß.
In diesem Augenblick entstand ein gewaltiger Lärm; über die wuchtig zurückgeworfene Truhe stürzte sich ein Mann mit blankem Säbel in den Saal. – Ich bin's Radoub; wer will Hiebe? Zum Teufel mit dem ledernen Abwarten! ich will's darauf ankommen lassen. Einem habe ich übrigens schon heimgeleuchtet. Jetzt packe ich Euch Alle an. Ob mit oder ohne Reisegesellschaft, hier bin ich. Wie viel seid Ihr?
Radoub war in der That ohne alle Reisegesellschaft. Nach der Verheerung, die der Imânus auf der Treppe angerichtet, hatte Gauvain, der das Springen einer maskirten Flattermine befürchtete, seine Leute zurückkommandirt und berieth sich wieder mit Cimourdain.
Radoub, säbelschwingend am Eingang dieses dunklen Gemachs, in dem nur noch der fahle Schimmer der erlöschenden Fackel zitterte, wiederholte seine Frage: Ich bin allein; wie viel seid denn Ihr? Und als Niemand antwortete, that er ein paar Schritte vorwärts. Da sprühte aus der Fackel einer jener Lichtstrahlen, die zuweilen einem verglimmenden Feuer entsteigen und die man ein Gluthenschluchzen nennen möchte: Der ganze Saal wurde dadurch erhellt. Radoub sah die kleinen Wandspiegel schillern, trat vor einen hin, betrachtete sein blutiges Gesicht und sein herabhängendes Ohr und murrte: Scheußliche Beeinträchtigung eines gewinnenden Aeußern!
Dann wendete er sich um, ganz verblüfft, das Gemach leer zu treffen: Niemand da, rief er; Präsenzstärke gleich Null.
Jetzt erst fiel sein Blick auf den gedrehten Stein, die Lücke und die Wendeltreppe. – Ah so! Nun verstehe ich. Ausgeflogen! So kommt doch, Kameraden! Alle herauf! Sie sind auf und davon, abgeschoben, ausgekniffen, durchgebrannt, verduftet. Dieser lumpige alte Thurm hat Sprünge und macht Sprünge. Durch das Loch hier haben sie sich gedrückt, die Kanaillen! Und da soll Einer mit Pitt und dem Koburger fertig werden, wenn dergleichen Dummheiten erlaubt sind! Der liebe Herrgott des Gottseibeiuns hat ihnen seine Protektion angedeihen lassen! Es ist keine Katze mehr da!
Da knallte ein Pistolenschuß; die Kugel fuhr Radoub am Ellenbogen vorbei und schlug sich an der Wand platt.
– Aber nein, es ist doch Jemand da. Wer hat die Gewogenheit gehabt, so gefällig zu sein?
– Ich, antwortete eine Stimme.
Radoub streckte den Kopf vor und entdeckte im Halbdunkel die Gestalt des Imânus. – Ah, rief er, Einen wenigstens habe ich. Die Anderen sind abgefahren, aber Dich halten wir fest.
– Meinst Du? entgegnete der Imânus.
Radoub that einen Schritt und blieb dann stehen. – Hollah, Du dort am Boden, wer bist Du?
– Ich bin Einer, der am Boden Denen, die aufrecht stehen, ins Gesicht lacht.
– Was hältst Du da in der rechten Hand?
– Ein Pistol.
– Und in der Linken?
– Meine Gedärme.
– Ich nehme Dich gefangen.
– Fehlgeschossen.
Und der Imânus lehnte sich über die glimmende Lunte, hauchte noch seinen letzten Athemzug darüber aus und starb.
Kurz darauf standen Gauvain, Cimourdain und die Anderen im Gemach. Alle starrten nach der Lücke in der Mauer. Man forschte jeden Winkel aus und durchstöberte die Treppe; sie mündete in die Schlucht. Die Flucht war Thatsache. Den Imânus wollte man aufrütteln, aber er war todt. Gauvain untersuchte, beim Schein einer Laterne, die Oeffnung, durch welche die Belagerten entwichen waren; auch er hatte früher von diesem Drehstein erzählen hören, aber auch er hatte das Gerücht für eine Fabel gehalten. Bei näherer Betrachtung des Steins bemerkte er, daß etwas mit Bleistift darauf geschrieben stand; er leuchtete hin und las die Worte: »Auf Wiedersehen, Herr Vikomte. Lantenac.«
Mittlerweile war Guéchamp heraufgekommen. Der Gedanke an eine Verfolgung mußte von vornherein aufgegeben werden. Die Flucht war einmal gelungen und es ließ sich an der Sache nichts ändern, denn die Flüchtigen hatten die ganze Gegend mit Busch, Dickicht, Schluchten und Bewohnern für sich, mochten wohl auch schon weit fort sein, und wo hätte man sie überhaupt suchen sollen? Der ganze Wald von Fougères war ein einziges ungeheures Versteck. Was nun? Alles mußte wieder von vorn angefangen werden. Gauvain und Guéchamp tauschten ihren Verdruß und ihre Vermuthungen aus. Cimourdain hörte tiefernst zu, ohne selber ein Wort zu sprechen.
– Da fällt mir eben unsere Leiter wieder ein, nun, Guéchamp? fragte Gauvain.
– Die ist nicht eingetroffen, Kommandant.
– Wir haben den Karren unter Gendarmenbedeckung doch herfahren lassen.
– Auf dem war aber keine Leiter, erwiderte Guéchamp.
– Was denn sonst?
– Die Guillotine, sagte Cimourdain.
Der Marquis von Lantenac war so weit noch nicht, als man oben meinte, war aber nichtsdestoweniger vor jeder Gefahr, eingeholt zu werden, vollständig sicher. Er war Halmalo gefolgt. Die Treppe, auf der sie Beide hinter den übrigen Flüchtlingen hinabstiegen, lief hart bei der Schlucht und den Brückenpfeilern in einen engen gewölbten Durchgang aus, und dieser Durchgang mündete wieder in eine tiefe natürliche Erdspalte, die sich nach der einen Seite zur Schlucht, nach der andern in den Wald hinzog. Diese jedem Blick entrückte Zerklüftung des Bodens krümmte sich unter undurchdringlichem Gestrüpp durch. Hier Jemand einzufangen, war ein Ding der Unmöglichkeit; wer sich einmal in diese Erdspalte gerettet hatte, brauchte sich blos wie eine Schlange zu verkriechen, um gänzlich ungreifbar zu werden. Die Mündung des geheimen Durchgangs unten an der Treppe war mit Dornhecken so dicht verwachsen, daß es den Erbauern der unterirdischen Galerie zwecklos erschienen war, sie anderweitig zu schließen. Der Marquis hatte sich jetzt nur mehr zu entfernen. Auch für eine Verkleidung brauchte er nicht zu sorgen, denn nach seiner Ankunft in der Bretagne hatte er sein Bauernkostüm nicht wieder abgelegt; er hielt das für vornehmer. Blos schnallte er sein Degengehänge los und warf es von sich.
Als Halmalo aus dem Durchgang in die Erdspalte getreten war, waren die fünf Andern, Guinoiseau, Hoisnard Branche-d'Or, Brin-d'Amour, Chatenay und Abbé Turmeau bereits auf und davon.
– Die haben sich nicht lange besonnen, sagte Halmalo.
– Mache es auch so, versetzte der Marquis.
– Der gnädige Herr befiehlt, daß ich ihn verlassen soll?
– Gewiß. Du weißt es ja schon: Auf der Flucht muß man stets allein sein; oft kommt, wo Zwei nicht durchkommen, Einer durch. Beisammen würden wir die Aufmerksamkeit auf uns lenken, und Du könntest mich, ich Dich in eine üble Lage bringen.
– Der gnädige Herr kennt also die Gegend?
– Ja.
– Und beim Sammelplatz von La Pierre-Gauvaine bleibt's, gnädiger Herr?
– Morgen Mittag.
– Ich werde dort sein, wir Alle. Ach! gnädiger Herr, unterbrach sich Halmalo selber, wenn ich bedenke, daß wir auf hoher See fuhren, wir Beiden allein, daß ich Sie tödten wollte, daß Sie mein gnädiger Herr waren, daß Sie es nur zu sagen brauchten und es doch nicht gesagt haben! Sind Sie ein Mann!
– England, sagte der Marquis, es giebt kein anderes Mittel mehr. In vierzehn Tagen müssen die Engländer landen.
– Ich habe dem gnädigen Herrn noch über alles Mögliche Rechenschaft abzulegen. Die Aufträge sind besorgt.
– Das soll morgen an die Reihe kommen.
– Also auf Wiedersehen morgen, gnädiger Herr.
– Noch eins; bist Du hungrig?
– Wohl möglich, gnädiger Herr; ich hatte es so eilig, daß ich nicht mehr weiß, ob ich heute gegessen habe.
Der Marquis zog eine kleine Chokoladentafel aus der Tasche, brach sie mitten durch und theilte mit Halmalo.
– Gnädiger Herr, bemerkte dieser noch, zu Ihrer Rechten haben Sie die Schlucht, zu Ihrer Linken den Wald.
– Schön. Verlaß mich jetzt, und gehe Deiner Wege.
Halmalo gehorchte. Er tauchte in die Dunkelheit unter; noch ein Rascheln im Gesträuch, dann nichts mehr. Wenige Sekunden darauf wäre es unmöglich gewesen, ihm auf die Spur zu kommen. Diese buschige unentwirrbare Bocage-Gegend war der Bundesgenosse jedes Entrinnens; man verschwand nicht, man zerstob darin, und diese Leichtigkeit, mit der Alles sich nach den vier Winden zerstreuen konnte, war der Grund, weshalb die republikanischen Armeen sich vor dieser immer zurückweichenden Vendée und ihren so bedrohlich flüchtigen Kriegern scheute.
Der Marquis stand unbeweglich. Er gehörte zu jenen Charakteren, die durchaus nichts empfinden wollen; aber diesmal konnte er sich des wohlthuenden Gefühls nicht erwehren, nach all dem Blut und den Greueln wieder die frische Luft einzuathmen. Sich gänzlich gerettet wissen, nachdem man gänzlich verloren gewesen, in vollster Geborgenheit ausruhen, nachdem man schon in sein Grab geschaut, aus dem Tod ins Leben zurückkehren, das mußte sogar einen Lantenac bewegen, und obwohl ihm die Situation nicht neu war, konnte er von seiner unerschütterlichen Seele eine momentane Erschütterung nicht fernhalten; er mußte zugeben, daß er zufrieden war; doch bald drängte er diese Erregung, die fast einem Aufjubeln ähnlich sah, zurück. Er zog seine Repetiruhr und ließ sie schlagen. Wie viel Uhr? Zu seiner größten Verwunderung erst zehn. Wenn man einen jener entscheidenden Momente des Daseins, wo Alles in Frage steht, eben durchlebt hat, muß man immer staunen, daß so inhaltsschwere Minuten nicht länger gewesen sind als die gleichgiltigen. Der Kanonenschuß, der den Sturm ankündigte, war etwas vor Sonnenuntergang gelöst und La Tourgue eine halbe Stunde darauf, bei sinkender Nacht, zwischen sieben und acht, von der Kolonne angegriffen worden. Also war der kolossale Kampf, der gegen acht begonnen hatte, um zehn schon aus gewesen, und dieses ganze Heldengedicht hatte nicht über hundertundzwanzig Minuten gedauert. Katastrophen brechen zuweilen mit Blitzesschnelle herein; es sind dies die malerischen Verkürzungen der Ereignisse. Bei reiferer Ueberlegung hätte man es übrigens wunderbar finden müssen, wenn nicht dem also gewesen wäre, denn daß ein verschwindend kleines Häuflein einer so erdrückenden Uebermacht volle zwei Stunden widerstanden hatte, war merkwürdig genug, und sicherlich war sie weder kurz noch überstürzt zu nennen, jene Schlacht zwischen neunzehn und viertausendfünfhundert Gegnern.
Nun war es aber Zeit, von hinnen zu gehen. Halmalo mußte schon weit fort sein, und der Marquis hielt es nicht für rathsam, länger zu verweilen. Er steckte seine Uhr wieder zu sich, aber nicht in die Tasche, aus der er sie hervorgezogen, weil er bemerkt hatte, daß sie dort mit dem ihm vom Imânus eingehändigten Schlüssel der eisernen Thür in Berührung kam, und deshalb fürchtete, dieser Schlüssel möchte das Glas zerschlagen. Als er schon im Begriff war, seinerseits links einzubiegen, um sich nach dem Wald aufzumachen, glaubte er einen matten Glanz wahrzunehmen, der zu ihm herableuchtete. Er wendete sich um, und zwischen den scharfen Umrissen des Astwerks, die sich von einem gerötheten Himmel plötzlich bis in ihre kleinsten Einzelheiten deutlich abhoben, sah er die Schlucht durch einen weitgedehnten Schimmer beleuchtet. Von dieser war er aber nur wenige Schritte entfernt und ging schon darauf zu, als er sich eines Bessern besann und den Entschluß faßte, sich der Helle lieber nicht auszusetzen; woher sie auch kommen mochte, seine Sache war es jedenfalls nicht, sich darum zu kümmern. Schon hatte er die ihm von Halmalo bezeichnete Richtung eingeschlagen und näherte sich dem Wald; da, auf ein Mal, tönte in sein tiefes Versteck, durch das undurchdringliche Gestrüpp zu ihm herab ein fürchterlicher Schrei, der vom Rand des über der Schlucht ragenden Plateaus niederzugellen schien. Der Marquis schaute wieder hinauf und blieb stehen.