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Der größte Teil dieses poetischen Diskurses ist gegen eine sehr gemeine, aber das gesellschaftliche Leben nicht wenig verbitternde Untugend gerichtet, nämlich gegen die Geneigtheit, die man an den meisten wahrnimmt, die Eigenschaften und Handlungen der Personen, mit welchen sie leben, wenn sie nur einigermaßen zweideutig scheinen oder einer nachteiligen Auslegung fähig sind, lieber in einem ungünstigen als milden Lichte zu betrachten, ihre wirklichen Fehler aber zu vergrößern, und besonders wenn sie selbst dadurch, so wenig es auch sein mag, beleidigt werden, eine Empfindlichkeit zu äußern, welche mit dem Vergehen des Freundes in keiner Proportion steht, und, indem sie den andern reizt uns mit gleicher Strenge zu behandeln, die notwendige Folge hat, den echten Geist der Geselligkeit, und mit ihm alles Vergnügen, das Menschen an einander haben könnten, aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen.
Es ist nicht zu zweifeln, daß unser Dichter irgend eine unmittelbare Veranlassung gehabt habe, gerade diese Materie zum Gegenstande eines eigenen Diskurses zu machen. Indessen ist in dem Gedichte selbst nichts davon zu entdecken; man müßte denn nur, aus den wenigen an Mäcenas gerichteten Versen, (v. 63–66) schließen wollen, daß eigene Erfahrungen von der Tadelsucht seiner Nebenbuhler oder Mißgünstigen ihm Gelegenheit gegeben, den Stachel seines Witzes gegen diese, vermutlich damals sehr gemeine, Unart seiner Mitbürger zu richten.
Sollte sich aber nicht in den besondern Umständen und Sitten seiner Zeit diese nähere Veranlassung am besten finden lassen? Wie wenn das Laster, welches er hier bestreitet, so nahe an eine politische Tugend der ehmals freien Römer grenzte, daß es in dem unabhängigen Rom weder so häßlich schien, noch so schädlich war; aber nun, da der Staat sich unvermerkt in eine Monarchie verwandelte, unter so sehr veränderten Umständen, so zu sagen bösartig zu werden anfing, und also die Aufmerksamkeit eines Schriftstellers verdiente, der die Absicht hatte, etwas zur Verbesserung und Verschönerung der Sitten seiner Mitbürger beizutragen?
Das gesellschaftliche Leben in dem freien und in dem unterjochten Rom war, vermöge der Natur der Sache, sehr wesentlich verschieden. Die freien Römer, besonders in den letzten Zeiten der Republik, kannten wenig von den Annehmlichkeiten des häuslichen und des geselligen Lebens. Eine rastlose Ambition machte ihre Augenblicke zu kostbar, um ihnen Muße und Ruhe genug zum Genuß des letztern zu lassen. Ihre Freundschaften waren politische Verbindungen, die sich immer auf die Republik, und auf das, was jeder beim Betrieb seiner eigenen politischen Absichten von dem andern zu hoffen oder zu fürchten hatte, bezogen. Solche Freundschaften konnten, zumal in einer so ungeheuer großen Republik, mit allen Fehlern der Ungeschliffenheit, und mit aller der Malignität, womit in Freistaaten einer den andern zu belauren pflegt, sehr wohl bestehen. Die besten Freunde sagten einander im Senat oder vor Gerichte die empfindlichsten Dinge in den derbesten Ausdrücken; und die gröbsten Beleidigungen, wie die größten Verbindlichkeiten, wurden in einem Augenblicke vergessen, sobald politisches Interesse aus Feinden Freunde, oder aus Freunden Feinde machte. Man verzieh einander alles – oder nichts, je nachdem es augenblickliche Verhältnisse und Absichten, oder das Interesse der Faktion, von der man war, erforderte. Besonders unterhielt die gerichtliche Beredsamkeit, und die fast unbeschränkte Freiheit, die man sich herausnehmen durfte, Leidenschaften und Persönlichkeiten dabei ins Spiel zu ziehen, die republikanische Gewohnheit, einander aufs schärfste zu beobachten. Denn, weil man auf allen Fall nicht Waffen genug gegen seinen Feind oder Gegner in Bereitschaft haben konnte, und jeder, selbst der beste Freund, morgen der Ankläger unsers Klienten, oder zu unsrer Gegenpartei übergegangen, und also nun unser Gegner geworden sein konnte: so war nichts notwendiger, als immer mit allem, wodurch man einander in Verlegenheit setzen, verunglimpfen, und verhaßt oder verächtlich machen konnte, aufs reichlichste versehen zu sein. Wer sieht nicht, daß eine solche Verfassung das Laster, welches Horaz in dieser Satire angreift, ganz besonders aufmuntern mußte, und, daß es in dem freien Rom wo nicht die Natur eines Lasters ganz ausgezogen hatte, doch gewiß unter einer ganz andern Gestalt erschien, und die Folgen nicht hatte, die es in eben dieser Stadt haben mußte, nachdem bei weitem der größte Teil der Römer, selbst derjenige, der jetzt den Adel ausmachte, in unbedeutende Privatpersonen verwandelt war, deren Politik nun bloß in der Kunst, den Großen die Aufwartung zu machen, einträgliche Stellen durch ihre Gunst zu erhaschen, und überhaupt durch alle mögliche Mittel sich zu bereichern, bestand. Natürlicher Weise mußte sich mit einer so großen Staatsrevolution auch die Sittenverfassung wesentlich ändern, und das gesellschaftliche Leben eine ganz andere Gestalt gewinnen. Eine Menge sehr begüterter und müßiger Leute, die bloß des Lebens zu genießen wünschten, auf der einen Seite; eine ungleich größere Menge von solchen, die ihr Glück erst zu machen hatten, oder sich auf Unkosten der Reichen zu füttern suchten, auf der andern; eine unendliche Menge Menschen also, welche Reichtum und Dürftigkeit, Hunger und Sättigung, Langeweile und Durst nach Vergnügen, Talente jene zu vertreiben und diesen zu stillen, kurz die manchfaltigsten und verschiedensten Bedürfnisse in eine große Gesellschaft zusammendrängten und von einander abhängig machten, – mußten nun ganz andern Maximen folgen und ganz andere Sitten annehmen, um angenehm mit einander zu leben, und einander das zu sein, was jeder in dem andern zu finden wünschte. Die Urbanität, die ehmals nur für eine Zierde eines edeln Mannes galt, die Sanftheit und Gefälligkeit der Sitten, die von den strengesten Republikanern beinahe zum Laster gemacht wurde, war nun die Tugend des neuen Roms. Politur wurde das Unterscheidungszeichen edler Menschen von schlechten, und wer die gefälligsten Sitten hatte, hatte die besten.
Aber die Sitten eines Volkes lassen sieh nicht so schnell umbilden, als sich seine Staatsverfassung umkehren läßt; und es währte lange, bis die Römer in Absicht auf Geselligkeit und Politesse das wurden, was sie zu den Zeiten des jüngern Plinius, unter dem Trajan und seinen nächsten Nachfolgern gewesen zu sein scheinen.
Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich in den meisten Werken unsers Dichters die Absicht, zu dieser Umbildung der römischen Sitten mitzuwirken, wahrnehme. Und so, denke ich, wäre auch ein ganz einleuchtender Grund gefunden, warum Horaz, dessen Sache wohl nicht war, sich bloß für die Langeweile auf Gemeinplätzen herumzutummeln, auf den Gedanken kam, die Unart, »sich selbst alles zu verzeihen, andere hingegen ohne alle Schonung mit der unbilligsten Strenge zu behandeln«, in einer eigenen Satire von ihrer ungereimten und lächerlichen Seite darzustellenNitsch in seinen bereits angezogenen Vorlesungen sagt: die Absicht, die ich Horazen bei diesem Diskurs zuschreibe, dünke ihn vor der Hand auf alle Weise zu früh zu sein. Er meint, »der Dichter sei im Jahr der Stadt Rom 715 oder 16 noch zu jung und noch ein zu feuriger Patriot gewesen, habe die alte Verfassung noch zu sehr geliebt und noch zu stark auf ihre Wiederherstellung gehofft, um die Absicht, die ich ihm andichte, gehabt zu haben.« Ich gestehe, daß ich von allem diesem nichts weiß, und im Gegenteil überzeugt bin, daß Horaz auch damals schon viel zu verständig war, und den sittlichen Zustand der Stadt Rom (welche schon mit Marius und Sulla wirklich frei zu sein aufgehört hatte) viel zu gut kannte, um nach dem Tode der letzten Römer Brutus und Cassius die Wiederherstellung der alten Verfassung für möglich zu halten. Die große Staats- und Sittenrevolution, die dies unmöglich machte, war schon lange zuvor unter dem ersten Triumvirat vorgegangen, und Horaz, nachdem ihn das unglückliche Treffen bei Philippi decisis humilem pennis entlassen, d. i. nachdem der kurze republikanische Rausch verdunstet war, hätte sehr blind sein müssen, wenn er sich im J. 715, zumal als Klient Mäcens und Cäsars, noch von Wiederherstellung der alten Verfassung hätte träumen lassen.. Diese Unart, die in den vorigen Zeiten ein natürlicher Fehler der Freiheit und der Verfassung, und daher unendlich weniger anstößig, ja beinahe notwendig scheinen konnte, war nunmehr ein Laster, welches die Ruhe und das Vergnügen des gesellschaftlichen Umgangs und die Dauer freundschaftlicher Verbindungen zerstörte, und also nicht unter die Fehler gehörte, welche Schonung verdienen. Sogar die Stoische Philosophie – die zu Athen nur in Hörsälen und Gymnasien um müßige Ohren schallte, zu Rom hingegen von den eifrigsten Verfechtern der alten Verfassung in das Forum und in die Ratsversammlungen eingeführt worden war, sogar die Stoische Philosophie, weil sie Grundsätze und praktische Maximen hatte, die mit dem was im geselligen Leben der gute Ton war, allzu stark kontrastierten, konnte in dieser Rücksicht nicht geschonet werden, Ihre Spitzfindigkeit in der Theorie, ihre Strenge in der Ausübung, ihre übertriebnen Lieblingssätze, welche sie selbst Paradoxen nannte, und auf welche einige aus ihrer Sekte lächerliche Ansprüche zu gründen schienen, ihre nahe Verwandtschaft mit dem in die tiefste Verachtung gesunkenen Cynismus, alles dies paßte nicht mehr zu dem Geiste der Zeit, und war mehr als es brauchte, um den Witz und die Laune eines Aristippischen Dichters zu reizen, der die Weisheit als die Kunst zu leben, und die Tugend als das Mittel zwischen zweien Extremitäten betrachtete.
Daher kommt es, daß Horaz, nachdem er vom 21sten bis zum 95sten Verse das Haupt-Thema in seiner gewöhnlichen Manier ausgeführt, von der übertriebnen Strenge gegen geringe Fehler oder Vergehungen Anlaß nimmt, die Stoiker wegen ihres paradoxen Satzes: omnia peccata esse aequalia (alle Abweichungen von der Regel des Rechts seien gleich groß und strafwürdig) anzugreifen, und sich in eine förmliche Art von Untersuchung gegen sie einzulassen: die eine Abschweifung von seinem Wege zu sein scheint, aber im Grunde seine vorgehenden Betrachtungen und praktischen Maximen unterstützt und ihm Gelegenheit gibt, den Stoiker, seinen Gegner, vermittelst eines andern Paradoxons seiner Sekte lächerlich zu machen, und den ganzen Diskurs in dem scherzhaften und leichten Torte zu enden, worin er angefangen war. In der Tat ließ der Anfang nichts weniger erwarten als das, warum es dem Dichter eigentlich zu tun war; und die Schilderung des unbeständigen und inkonsequenten Charakters des Sängers Tigellius hat keine nähere Beziehung auf das Folgende. Sie steht für sich, und scheint bloß darum da zu sein, um dem Dichter durch die Frage, die er sich machen läßt, »und du, der über andere spottet, hast denn du keine Fehler?« zum Übergang zu seinem Vorhaben Gelegenheit zu geben. Der ganze Diskurs scheint daher eine planlose Gedankenfolge, und wie ein zufälliges Gespräch zwischen dem Autor und einem Ungenannten zu sein, den er zum Contradictor aufstellt, um dem Stücke mehr Lebhaftigkeit zu geben und das Langweilige und Abschreckende einer mit lehrmeisterlicher Anmaßlichkeit monologisch vorgetragenen Sittenpredigt zu vermeiden.