Arno Holz
Sonnenfinsternis
Arno Holz

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Beatrice: (von neuem; anderer Tonfall) Der letzte Tag. Die ganze Nacht hatte ich wach gelegen. Bis in den dämmernden Morgen mit jeder Fiber gehorcht, wie es noch immer, aus seinem Werkraum unten, klang und hämmerte. Ohne Modell schürfte er an seinen Gestalten nie das geringste Korn ab! Es war nur die eine Möglichkeit: er arbeitet an dem dunklen Klump, der sich mir zu Füßen wand! Der mich, in seiner seltsamen Formlosigkeit, schon so lange . . . beunruhigt hatte! Ich zählte jeden Uhrenschlag. Welche letzte Demütigung stand mir noch bevor? Endlich war es still geworden. Erschöpft streckte ich mich in die Kissen. Ich schrak auf! Flutender, sengender, schon stechend brutwarmer Sonnenschein, Spatzenlärm! Ich flog durch den Garten. Vor den großen Glasflügeln, die Hand auf der Klinke, hielt ich wie gelähmt. Aus dem Halbdunkel, unter der Leuchtenden, mir voll zugedreht, geisterhaft flimmernd, ein sich krümmendes, teuflisches, rächend anklagendes Ungeheuer, das deutlich . . . seine Züge trug! Meiner kaum noch mächtig, riß ich die Tür auf! Er wars! Wie in jenem Moment, als er mich damals, zornzitternd, hatte . . . schlagen wollen! Jener schrecklichen Sekunde, die über mein ganzes . . . Schicksal entschied! Der Schleier vor meinen Augen riß. Das war ein Peitschenhieb! Eine offne Beichte, die ein beschimpfendes Geständnis war! Ohne es zu wissen . . . hatte ich alles gewußt. Ich hätte das Ganze . . . zertrümmern mögen! Gab es noch irgendeine Tortur für ihn? Eine Quittung? . .. »Schon?« Pfeifend, ohne sich um mich zu bekümmern, war er an seinen Werktisch getreten. Er steckte sich eine Zigarette an. Alle Fenster zugezogen, strömendes Oberlicht! »Bist du so weit?« Ich stand, wie ich immer gestanden hatte. Ein langer, prüfender Blick erst auf sein Werk, ein flüchtiger auf mich, dann kühl: »Du kannst dich wieder anziehn. Wir sind fertig.« Er drehte mir den Rücken. »Ganz?« »Für jetzt und für immer. Ja!« Ein Unerklärliches gewann Macht über mich. Meine eigne Stimme klang mir fremd. »Hilf mir.«

Url: (aus fast tonlosem Grausen) . . . Wie?!

Beatrice: (den Stimmfall des Entsetzten damals haarscharf reproduzierend) »Ich . . . ich soll dir . . .?!«

Url: (beinah vor ihr zurückgeprallt) Sie . . .

Beatrice: (fast diabolisch-triumphierend weiter) »Du sollst mir helfen!«

Url: (noch entsetzter in seinem Satz weiter) Haben . . .?!

Beatrice: (noch gesteigert-dramatischer) »Sibylle!« »Du . . . fürchtest dich wohl?« »Hehe!« Er lachte! Verächtlich! Grimmig! »Das dort vom Diwan! . . . Auch das! . . . Bitte! . . . Stell dich nicht so ungeschickt! . . . Noch heute verlaß ich dein Haus! . . . Du kannst nicht mal ne Schleife binden! Deine Hand zittert! (mit der Linken schnell nach ihrem eigenen Arm packend) Du drückst mich! Das tut weh! . . . Verfährst du mit allen deinen . . . Damen so zart? . . . Du!!!« (Url, durch ihren jähen Aufschrei aus seiner halben Betäubung zu sich gekommen, geht leise zu Musmann, über den er sich beugt: Beatrice, wie aus etwas erwacht, Url auf einmal verstehend) Er schläft. Fest sogar! . . .

Url: (der sich davon überzeugt zu haben glaubt; trotzdem nicht ganz sicher; stockend) Der Himmel . . . gebe . . .

Beatrice: (plötzlich anderer Tonfall; hart) Ich hatte die Schuld! . . . Ich allein hatte die Schuld! . . . Und es war das Schwerste, was mich treffen konnte, daß ich sie damals n (in tiefster, seelischster Selbstzerknirschung) sofort habe büßen dürfen!

Url: (in letzter Zerschmetterung; sich in den Vordergrund bis etwas von ihr rechts schleppend; mit nach auswärts gefalteten Händen, die Arme vor sich herab) Sie sollten sich nicht so . . . in sich selbst . . . (Stimme fast verlöschend) verwühlen.

Beatrice: (fiebrisch) Es ist vielleicht . . . Wahnsinn, was aus mir spricht! Krankhafte, törichte, phantastisch-hypersensitive Einbildung und . . . (abbrechend) Ich . . . glaubs ja auch nicht! Ich kanns nicht glauben! Aber . . . (anderer Tonfall; zuerst fast geschäftsmäßig, dann lebhaft inquirierend) Meine Verwaltung hatte Ihnen auf meine Anordnung damals sofort alle Schlüssel ausgehändigt. Hat er Aufzeichnungen hinterlassen? Irgendwelche . . . Notizen oder Papiere?

Url: (bestimmt) Nichts.

Beatrice: (sich trotzdem noch vergewissernd) Auch vorher ist keine Zeile von ihm in meines Mannes Hand gelangt?

Url: (wie vorhin) Nicht eine einzige.

Beatrice: (ratlos; sich abwendend; etwas nach links) Dann . . . stehe ich vor einer Mauer. (nach einer kleinen Pause; abermals andrer Tonfall; nach ihm zurückgedreht; fast klagend-kindlich) Er hatte mit so bestimmt sein Wort gegeben! Ich hatte so . . . darauf vertraut! Er hätte doch wissen müssen, wie mich sein Tod . . . (plötzlich auf eine kleine, verräterische Bewegung Urls, der wieder unwillkürlich beunruhigt nach Musmann blickt; ebenfalls nach diesem hin; dann wieder zu Url, der ihrem Blick kaum standhält) Sie sollen mir nichts sagen. Sie sollen mir nur antworten! (nach Musmann hin) Wars der? Hatte er wieder gehorcht?! . . .

Url: (nach der Tür links) Dort. Nebenan. Durch die eigne, leichtfertige Unvorsichtigkeit Ihres Mannes!

Beatrice: (schnell; hastig; auf ihn zu) Weiß das mein Mann?

Url: Es stand . . . in jenem Brief.

Beatrice: (die Augen groß auf Url, unwillkürlich etwas zurückweichend) Also . . . das war es! Das hat in mir so . . . Selbstanklage?! . . . Selbstvorwürfe?! . : .

Url: (zögernd; Geste: die Achseln hoch, die Handflächen offen) Wenn das der Grund war . . .

Beatrice: (jetzt wie fast nur noch zu sich; Linke vor der Stirn) Gewissensbisse?!

Url: (schmerzlich, ihr das »zufügen« zu müssen) Übertriebne!

Beatrice: (die in ihrer aufsteigenden Hoffnungsseligkeit seine bezweifelnde Einschränkung kaum beachtet hat; ihn fast wie fremd anstarrend; sein letztes Wort halb wiederholend) »Über . . .«? (Geste und damit nach ihrer Art rektifizierend) Kindische! Unnötige! Selbstquälerische! Überflüssige!

Url: (ruhig nachgebend-zugebend) Gewiß.

Beatrice: (den Blick jetzt wie grüblerisch-nachsinnend zu Boden) Jedenfalls . . : Dann . . . dann wäre es ja . . . (nachdem sie aufs tiefste aufgeatmet) Dann . . . dann könnte ja . . . noch alles wieder . . .

Url: (von Mitleid mit ihr fast überwältigt; sie ermutigend-bestärkende Geste) Ich . . . zweifle nicht . . .

Beatrice: Dann . . . (erregt einige Schritte in den Hintergrund nach links) hätte ich ja fast . . . noch etwas, wie eine ferne . . . beseligende . . . beglückende Hoffnung vor mir! Dann . . . (ihren Satz nicht zu Ende sprechend; nach ihm zurückgedreht) Vergessen Sie . . . was ich Ihnen gesagt habe! Begraben Sie in sich . . . was ich Ihnen in meinem halben . . . delirierenden, halluzinatorischen Irrsinn . . . (abbrechend).

Url: (ihr nachblickend; bestätigend-bekräftigende Geste) Ich . . . habe es . . . nur so . . .

Beatrice: (nach dem Regal zu; immer erregter; sich schnell steigernd) Es . . . kann vielleicht auch . . . alles anders gewesen sein! Ja! Ja! Ja!! Es . . . ist anders gewesen! Es . . . muß anders gewesen sein! Es . . . ist ja einfach gar nicht denkbar, daß ich . . .

Url: (noch entschiedner als vorhin; immer nur mit der einzigen Absicht, ihren Mut und ihre Hoffnung, soweit es ihm möglich, zu kräftigen und zu stärken) Ich habe keinen Augen blick . . .

Beatrice: (ganz vorn links ihm wieder zugewandt; in jetzt letzter Überzeugtheit; ihn voll anblickend) Ich habe eine . . . Schuld auf mich genommen, die ich sicher . . . niemals . . .

Url: (mit äußerster Suggestivkraft) Die Sie sicher niemals . . . gehabt haben!

Beatrice: (ihn groß anstarrend; fast wie sich beklagend-schmerzlichst; sein letztes Mitleid herausfordernd) Heut! . . . Nach zehn Jahren! . . . Wie soll ich das noch . . . wissen?

Url: (ihre Blick erwidernd; dabei zuletzt leis nach der Tür rechts; mit überzeugtester Bestimmtheit) Und ich . .. bin mir gewiß, daß auch . . . er . . .

Beatrice: (grade dadurch umschlagend; immer aufgeregter; sich wieder zurückdrehend und die Seitenwand links entlang nach dem Hintergrund) Nein! Nein! Nein!! Ich bin ihn nicht wert! Ich . . . ich richte ihn zugrunde!! . . . Ich . . . ich richte ihn auch noch zugrunde!! . . .

Url: (leise; aus tiefstem Gefühl) Er . . . liebt Sie!

Beatrice: (auf ihrem Weg wieder zurückgedreht; ausbrechend) Er . . . hat mich geliebt! Er . . . hat mich geliebt! Er . . . (aus tiefstem Jammer) Wie kann ein Mensch mich noch lieben?! (bereits wieder ganz vorn vorm Regal; die Hände schmerzhaft vor den Augen) Ich bin ja ein so gekennzeichnetes Geschöpf!

Url: (vor ihrem Schmerz fast vergehend; einige Schritte auf sie zu bis in den mittleren Vordergrund) Ein . . . Wort . . . wird alles wieder gutmachen.

Beatrice: (auf ihrem Platz ihm zugedreht; wie schon mit allem fertig; immer verzweifelter) Das ich nie . . . sprechen werde! Das nie über seine Lippen kommen wird! Mir . . . bleibt nur noch . . . (sich im Raum wie irr umblickend)

Url: (man hört draußen Tritte; beschwörend) Ich . . . bitte Sie . . . um alles . . . (abbrechend; ruckt sich zusammen. Unwillkürlich ein paar Schritte in den Hintergrund bis etwas rechts vor die Staffelei und von dort fest die Tür ins Auge fassend. Es klopft energisch; von Musmann sofort einmaliger, sehr intensiver Schnarchlaut).

Hollrieder: (der nicht erst auf ein »Herein!« gewartet; dunkler Reisemantel, schwarzer, weicher Hut, dunkelblauer Jakettanzug; in der Hand eine kleine, elegante Reisetasche; mit einem Blick die »Situation« überfliegend; kalt-finster, mit markiertem Gleichmut) Nabnd! . . .

Url: (einen kleinen Schritt auf ihn zu mit einem zugleich halb vorbeugend besorgten Blick nach Musmann) Ich . . .

Hollrieder: (der seinem Blick gefolgt ist; starr festgewurzelt, mit einem seltsamen Unterton in der Stimme) Da . . . isser ja!

Url: (zwei weitere Schritte auf ihn zu) Ich kann dir versichern . . .

Hollrieder: (der nochmal «die ganze Gesellschaft« mit einem »Blick« überflogen; Urls »Versichrung« ignorierend; jetzt nach Musmann) Nach dem . . . angenehmen Fuselduft zu urteilen . . .

Url: (übertreibend-achselzuckend) Er ist jetzt fast jeden Abend . . .

Hollrieder: (wieder nach Musmann; wie sich selber innerlichst etwas bestätigend) Sieh, sieh!

Url: (in seiner »Politik« weiter; nachdem er mit Beatrice einen, wie er glaubt, von Hollrieder nicht bemerkten Blick gewechselt hat) Er kommt überhaupt . . . aus diesem Zustand . . .

Hollrieder: (die »Sache« abbrechend) Hmhm! Soso! (zu Beatrice rüber, die regungslos vor dem Regal lehnt, die Hände hinter sich leicht gegen die Tastatur; während er die kleine Tasche neben der Tür vor dem Gasofen absetzt und Hut und Mantel an ihren alten Platz hängt; kühl, gelassen) Wenns dir recht ist, logieren wir nicht irgendwo in einem Hotel. Ich kampiere hier auf dem Sofa, und du . . . (mit einer leichten Kopfbewegung nach der Tür links; dann plötzlich abbrechend und zu Url) Du schläfst doch noch immer in deiner Kammer?

Url: (der vergeblich in seinen Gesichtszügen zu lesen versucht hat) Es ist alles noch . . . wie du es verlassen hast.

Hollrieder: (wieder zu Beatrice; diesmal jedoch nur noch halb) Also dann stünde ja nichts im Wege.

Beatrice: (in mühsam wiedergewonnener Fassung) Wie du willst.

Hollrieder: (jetzt näher getreten; nachdem er Url stumm die Hand gereicht; sich flüchtig im Raum umsehend) Daß es hier grade besonders gemütlich wäre . . . (auf den Tisch zu) Noch immer deine . . . Projekte?

Url: (dem sein Wesen noch immer beängstigend-unerklärlich ist; nach einem besorgten Blick zu Beatrice rüber; wieder etwas nach vorn getreten) Es wäre jetzt so weit . . . daß ich dich nun endlich bitten könnte . . .

Hollrieder: (in eine der Rollen blickend; man fühlt, wie schwer es ihm fällt, sich scheinbar für diese ihm im Moment vollkommen ferne Angelegenheit zu »interessieren«) Jaja, du . . . schriebst mir ja.

Url: (den sein merkwürdig verhaltener Zustand noch immer ganz seltsam berührt) Ich brauche nur noch . . . zuzugreifen.

Hollrieder: (die Rolle plötzlich auf den Tisch werfend; kurz, knapp, hart) Also das Ding . . . das Bild, das Biest ist futsch! . . . Zwar nicht radikal, total und ganz . . . aber immerhin! . . . Genügt! . . . (vor den »Kameraden«; zu Url) Wenn ich dir diesen Beweis meiner ehemaligen Blödheit sondergleichen (Url: erschreckter Blick nach Beatrice zurück, den diese stumm auffängt) noch offerieren darf . . . ich überlaß ihn dir! . . . (mit einem leicht ironischen Blick auf die kahlen Wände; nervös in den Vordergrund rechts) Als nachträglichen Prozentsatz für deine Bemühungen! (mit seltsamem »Scherz« halb nach ihm zurückgedreht) Hätt ich dir nie zugetraut! . . . (trotz seines Ingrimms mit auffälliger Selbstbeherrschung weiter; rechts vorn stehngeblieben) Zuerst . . . hatte ich ja allerdings noch immer etwas wie gezweifelt! . . . Aber nachdem ich mich nun überzeugt habe . . . (Blick nach Musmann, der jetzt den unruhigen Schläfer spielt) klar! . . . (einen Augenblick zu Beatrice rüber) Der Stich ist mitten durch dein Porträt gegangen! (Url und Beatrice, beide zusammengezuckt) Man siehts: erst ein Messer (halb nach Musmann zurück) . . . wahrscheinlich das selbe, das ich dem Lumpenhund . . . und dann . . . (Drehen mit der Faust) noch so hübsch gründlich nachgebohrt!

Url: (der erst jetzt wieder zu sich kommt; mit einem Blick nach Musmann) Du nimmst doch nicht an . . .?

Hollrieder: (fast lachend) Mann! . . . Mensch!! . . . Für wie naiv hältst du mich noch! . . . (umschlagend; bis zur Mitte des Vordergrunds) Wirst du nie gescheit? . . . Jetzt, wo du son eminenter Praktiker geworden bist? (anderer Tonfall; wie absolut uninteressiert; stehngeblieben) Übrigens . . . (nach dem Tisch rüber) ist mir gleichgültig. Interessiert mich nicht mehr! (nach einer kurzen Pause, während welcher Url und Beatrice sich verwundert angeblickt haben; zu Beatrice) Wenn du vielleicht so gut sein willst und mal . . . (mit einer legeren Kopfbewegung nach der Tür links) nachsehn? . . . (ihr vom Tisch die Streichhölzer reichend; mit einer halben Wendung nach Musmann) Unterdessen spedieren wir den.

Beatrice: (links ab, nachdem sie in der Tür noch einen letzten Blick mit Url gewechselt; die Tür bleibt einen Augenblick leicht angelehnt, dann hört man, wie eine Gasflamme aufblufft, deren Schein durch den Türspalt fällt, und die Tür wird geschlossen).

Hollrieder: (der, etwas vom Tisch vor der Seitenwand links, so lange nervös gewartet hat; den Vorhand, den Beatrice etwas zur Seite geschoben hatte, wieder ganz zuziehend; zu Url rüber; Stimme unwillkürlich etwas gedämpft) Ich habe eben jenes . . . (schon wieder bis vor den Tisch getreten; dieses Wort, als ob es ihm schwerfiele) Original gesehn! Du weißt! . . . Es war nobel von ihr, daß sie die Einwilligung erteilt hat!

Url: (nachdem er seinen ersten Schreck zurückgedämmt) Anfangs . . . ich muß gestehn . . . hatte ich ja abgeraten! Als ich dann aber . . . einsah . . .

Hollrieder: (sich nach dem Vordergrund rechts in Bewegung setzend) Unsinn! Es ist das einzige, was er gemacht hat! Von einem Feuer und einer Gewalt . . . (vor ihm) Was hätte aus dem armen Kerl alles werden können! . . . (schon an ihm vorbei) Schmach! . . . Jammer!! . . . (im Vordergrund rechts nach ihm zurückgedreht) Und was mich am meisten gepackt hat: (als ob er es vor sich sähe) Das . . . Untier! . . . Die Maske! . . . Das war nicht bloß Selbstgericht, das war zugleich blutigste, furchtbarste, bezichtigendst wuchtigst unbarmherzigst verräterischste Anklage! . . . (Url voll anblickend) Anklage gegen wen? (da Url, unter seiner Wucht fast wie gebrochen, schweigt) Das weißt du heute, wie ich! Der Mann . . . ging nicht an sich allein zugrunde! . . . Damals . . . als mich dein Telegramm traf . . . daß er ihn sein . . . (unwillkürlich fast auf den selben Platz deutend, an dem er jetzt selber steht) freiwillig, fest und feierlich gegebnes Versprechen . . .

Url: (acheslzuckende, Lipsius entschuldigende, nach Musmann hin diesen anklagende Geste) Erst nach dem . . .

Hollrieder: (der seine Geste verstanden und begriffen; noch unterstrichen-nachdrücklicher; kurzer, entsprechender Blick nach Musmann rüber) Mag der komplette Schuft . . .

Url: (Musmann jetzt Hollrieder gegenüber fast entschuldigend) Er . . . ist jetzt fast ganz . . .

Hollrieder: (über seine Verteidigung hinweg; noch empört-enragierter) Trotz seiner Verrücktheit! Trotzdem! Mag dieser geborne Charakterschurke, mag dieser jetzt in schönster Besoffenheit daliegende Seeräuber den »armen Gehetzten und Verfolgten«, wie du mir damals schriebst, mit seinen infamen, gemein nichtswürdigen, niederträchtigen »Enthüllungs«-Androhungen und Erpressungsversuchen in seinem ohnehin schon so . . . erbärmlich verletzten Stolz . . .

Url: (mit einer halb hilflosen Handbewegung nach der Tür links) Du . . . warst es schließlich selbst, der . . .

Hollrieder: (in ohnmächtiger Wut nach Musmann hin, der jetzt einen erneut ostentativen Schnarchlaut entläßt) Der dieses perfide Erzvieh, der dieses schleichende Erzschwein, der diesen hinterhältigen Erzhalunken, diesen . . . (als ob er mit seinen Beschimpfungen des schweratmend vor ihm Liegenden sich gar nicht genug tun könnte; abbrechend; etwas veränderte Stellung; entsprechende, fast grotesk-burleske, allerzornigste Geste und Gebärde) mit diesen, seinen eigenen, des Abhauens und Abhackens wert und würdigen Sauklauen . . . (auf eine zerquält-nervöse, fast wie ratlose Geste Urls; wie festgewurzelt an seiner Stelle, mit entstellt-verzerrten Zügen nach dem Hintergrund links hin) ihm, ihr und uns damals . . . direkt hinter die Tür postiert hatte! . . .

Url: (mit dem beinahe mitleidigen Versuch, ihn vor sich selbst zu entschuldigen) Du . . . warst . . .

Hollrieder: (der ihn sehr wohl verstanden hat; über seinen »Versuch« hinweg) Mag . . . Mag dem so schandbar schimpflich Gedemütigten, Gemarterten und Erniedrigten mein unverantwortlich bodenloser, lächerlicher, verruchter Leichtsinn . . . meine unerhört taprige, alberne, hirnblinde Überstürztheit, Fahrlässigkeit und Dummheit . . . auch geradezu wie eine Art »Freipaß«, wie eine Art Dispensation von so manchem, wie eine Art unfreiwillig ihm schon im vorweg erteilter Entlassungsdecharge erschienen und vorgekommen sein . . .

Url: (der jetzt einen kurz scheuen Blick nach der Tür links geworfen) Wenn du doch wenigstens . . .

Hollrieder: (mit nur mühsam gedämpfter Stimme) Mag ihm selbst der endgültig für immer und ewig unabänderlich besiegelte Verlust der ihm nach so langen Jahren an jenem lieblich verhängnisvollen, sonnenblendend schwarzen, für uns alle so entscheidend gewordenen Schicksalstage plötzlich für kaum wenige, flüchtige, entsetzendurchzitterte Zufallsmomente Wiedergeschenkten den dann gänzlich Vereinsamten auch noch so grausam schmerzlich getroffen und belastet haben . . . nie würde ein Mann wie Lipsius, der trotz aller seiner vielen, großen, ganz fraglos schwersten Fehler, trotz seiner unfaßbar, unausdrückbar gegen alle Gesetze nicht bloß unsrer sogenannt menschlichen Gesellschaft, sondern sogar auch schon jeder höher entwickelten Natur elementarst sich vergehenden, durch nichts zu entschuldigenden Freveltat, trotz seiner brüchigen, morschen, innerlichen Längstzerfressenheit doch im Grunde, alles in allem, der anständigste, prächtigste, denkbar nobelst großherzigst ritterlichste Gent war, dem noch tausend Möglichkeiten offenstanden und der die tragischen Folgen seines traurigen Verzweiflungsschritts, wenn er ihn wirklich tat, im voraus voll hatte überblicken müssen . . . nie würde eine derart bis dahin durch nichts gebeugte Kraftnatur wie seine sich zu diesem letzten, dunklen, grauenhaften Weg entschlossen und verstanden haben, er würde vielmehr im Gegenteil nichts unterlassen und alles darangewandt haben (wieder mit einem, der Situation angemessenen »liebevollen«, verächtlich-erledigenden Wut-, Abscheu- und Ekelblick nach »Ehren-Musmännchen« rüber, der sich gedrangsalt fühlt, diesen ihn so feiernden Moment für alle Fälle mit einem den Umständen angemessenen, kurz gurgelnden, abermals neuen Schnarchen zu quittieren) diese schnarchende Viper, diese giftgedunsne Otter, diese geschwollen aufgereckt steilhoch nach ihm züngelnde Kobra, durch eine (schnell mit der Rechten die Gebärde des Geldaufzählens) populär bekannte, simple, entsprechend ihn befriedigende Manipulation, durch nötigenfalls (Kopfwendung nach Url, sich telegraphisch mit diesem in Verbindung setzender Blick und damit korrespondierende Geste) einen gewissen, ihm schließlich ja doch nicht ganz unerreichbar gewesnen andern Dritten, oder (jähe, heftige, wie etwa ihm Unangenehmstes energischst wegfeuernde Arm- und Handbewegung) was weiß ich (fast ausbrechend) maulstill, maulstumm und maultot zu kriegen . . . wenn er nicht haarscharf . . . das sicherste . . . aber auch das allersicherste Bewußtsein gehabt hätte . . . nicht er . . . nicht er allein war der Schuldige . . .

Url: (mit dem ohnmächtigen Versuch, ihn in seiner furchtbaren Überzeugung zu erschüttern) Wie . . . kannst du . . .

Hollrieder: (mit eherner Bestimmtheit) Sondern . . .

Url: (noch ringender mit ihm als vorhin) Wie . . . darfst du . . .

Hollrieder: (etwas links der Mitte stehngeblieben; große, wie alles vor sich wegfächernde Geste mit der flachen Linken nach Url hin) Sag, was du willst! Predige dir vor, was du Lust hast! Such mir einzureden, was dir in den Kram paßt! (auf einen von neuem einsetzenden Versuch Urls, zu Wort zu kommen; ruhige, fast feierliche, ihm Schweigen gebietende Gebärde mit der beinah senkrecht gegen ihn ausgestreckten Rechten; mehr und mehr gänzlich sich verändernder Tonfall) Jedenfalls . . . als mich . . . in der heiterst rosigsten . . . herrlichsten . . . trotz alles dunkelst schwerst Voraufgegangenen . . . strahlendst, freudigst, glücksgesättigst aller- allerhöchsten . . . Stimmung . . . meines Lebens . . . beim Eintritt in ihr wundervoll auf einem grünen, kleinen, lachenden Hügel, inmitten einer üppig friedlich reichen, von tausend schmucken, blitzsaubren, zierlichen Siedlungen belebten, unter einem zartblauen, weich lichtem Glanzhimmel sich breitenden Paradieslandschaft, fast unmittelbar dicht an der sich hier in unzähligen, sanften, immer wieder aufblitzenden Silberschlänglungen von Paris her windenden Seine gelegnes, in graziöst feinsterlesenstem Kunstgeschmack erbautes, zu unserm Empfang, zu unserm Willkomm, zu unsrer Begrüßung über und über märchenschön mit duftendst prachtvollst bunten Blumen geschmücktes Haus . . . wie ein . . . Blattschuß ins Herz . . . dein . . . Telegramm traf . . . so wahr ich hier stehe . . . plötzlich, mit einem Ruck . . ich war auf einmal wie hellsehend geworden! . . . Ich wußte alles!! . . . (da Url, sich jetzt ermannend, eingreifen will; nach Musmann) Meine Schuld . . . für die ich jetzt büße . . . büße . . . (nach der Tür links) und . . . ihre! . . . (nach rechts) Und daß wir beide in unser Verderben . . . (nach links) wie blind gerannt waren . . . (seine Stimme, wie überhaupt seit Beatrice nebenan ist, mit Gewalt wieder dämpfend; trotzdem sich fieberhaft steigernd) Arbeiten! Vergessen!! Auf Stunden! Auf Minuten! Auf Sekunden!! Etwas haben, woran man . . . (Geste, als ob er an etwas formte).

Url: (der während des vorigen verschiedentlichst angstvoll nach der Tür links geblickt und in seiner Erregung nach Hollrieders Worten »wie blind gerannt waren« wie verstört nach dem Vordergrund rechts gegangen war; fast atemlos nach ihm hin) Du wolltest wirklich wieder . . . ? . . .

Hollrieder. Ich bin jetzt so weit! . . . (vorm Regal nach ihm zurückgedreht) Durch diesen Eindruck! . . .

Url: (fast strahlend ihm gegenüber) Du . . . weißt nicht . . . wie ich mich freue! . . .


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