Arno Holz
Sonnenfinsternis
Arno Holz

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Beatrice: (nach einer wieder ganz kurzen Pause; absichtlich andrer Tonfall; ihn dabei nicht anblickend) Die erste Zeit, die wir in London verlebten, war für mich . . . ich muß heute leider . .. überzeugt sein, nur für mich . . . eine seltsam glückliche! . . . Trotz des . . . entsetzlichen Hintergrundes . . . ich hätte es nie zu hoffen gewagt . . . sie war für mich . . . fast schattenlos! . . . Schließlich . . . freiwillig . . . gab ich mein Jawort! . . . (in plötzlicher Erinnerung zusammenschaudernd) Ich hätte es nie . . . tun dürfen! (nach kurzer Pause wie vorhin) Als wir dann . . . nach einer sonnigen Überfahrt . . . unser Haus in Bougival betraten . . . ich weiß es noch: es war an einem Freitag Spätnachmittag . . . traf ihn als erstes . . . Ihr Telegramm! . . . Nie hab ich an einem Menschen, einen blitzschnellen Moment lang, eine so schreckhafte Veränderung gesehn! Ich erriet sofort. Willst du mir . . . das Blatt . . . nicht geben?« . . . »L. tot. Brief unterwegs!« (mit geschlossenen Lidern; zurückgelehnt) Ich fühle noch heute . . . seine Augen auf mir! . . . (nach einer kleinen Pause) Jenen Brief, der am nächsten Morgen eintraf, habe ich nie (Url dabei groß anblickend) gelesen! . . .

Url: (nach einem kurzen Kampf; leise, aber bestimmt) Sie . . . durften ihn nicht lesen! . . .

Beatrice: (mit alles Kraft sich zusammenraffend; Url wieder nicht anblickend) Unser . . . Hochzeitstag . . . war sein Todestag gewesen! . . . Seit jener Sekunde . .. war alles zwischen uns aus! . . . Wir lebten, als ob unsichtbare . . . (zerquältes ohnmächtiges Hin und Her der Hände vor sich in der Luft) Glaswände trennten! . . . (die Hände wieder lasch über die Lehnen) Kein Wort mehr! Kein Blick! . . . Nur die kühlste . . . schonendste Rücksichtnahme und Gelassenheit! . . . »Rücksichtnahme«! . . .

Url: (der den Sessel verlassen und einige Schritte nach dem Vordergrund zu getan hat; nach einer kurzen Pause; nachdem er auch diese Eröffnung verwunden; nach ihr zurückgedreht) Hat er . . . gearbeitet?

Beatrice: (schmerzlichst von ihm abgewandt) Weiß ichs?

Url: Da er doch . . . die ganze Zeit in Ihrem Hause . . .

Beatrice: In »meinem Hause«! . . . Ja! . .. In »meinem Hause«! . . . Er betrachtete es wie ein gemietetes Hotel! . . . Nicht einmal . . . die üblichen, laufenden Ausgaben . . . ließ er mich mehr bestreiten! Das war » seine Sache«! An irgendeinem Zehncentimestück hätte ja . . . (Geste; sich selbst unterbrechend; von neuem) Er hat gearbeitet! . . . Unablässig! . . . Oder vielmehr: es hat in ihm gearbeitet! . . . Ohne Rast! . . . Ohne Aufhören! . . . Innerlich!! . . . Er ist ja so durchsichtig! . . . So verschlossen er sich auf stellt! . . . Aber was? . . . Das kann ich Ihnen nicht sagen! . . .

Url: (von neuem in den Vordergrund links) Nur Arbeit . . . nur neue . . . wirkliche Arbeit . . . kann ihn retten! . . . Ihnen . . . und . . .

Beatrice: (aufstehend) Mir . . . »rettet« ihn nichts mehr! . . . (nach einer neuen kurzen Pause; jetzt im Mittelpunkt der Bühne und sich nach Url zurückdrehend) Als dann . . . kurz darauf . . . Ihr Brief an mich kam . . . der mir die ganze . . . für unsre deutschen Verhältnisse ja . . . fast unglaubliche Summe der Hinterlassenschaft meldete . . . da war mein erster Impuls gewesen: nichts annehmen! . . . Nichts! . . . Nichts!! . . . Alle Brücken hinter sich abbrechen! . . . Kein Hauch mehr, der an etwas . . . erinnerte! (auf einen unwillkürlichen stummen Einwand Urls; wieder etwas nach rechts) Aber ja, ja! Sie haben ja recht! Und ich sagte es mir ja auch! (wieder nach links) Das wäre für die Meute nur der Beweis gewesen! . . . (stehngeblieben; zu Url rüber) Der Beweis! . . . Wie man sich auch (von neuem nach rechts) drehte . . . wohin man sich auch wendete . . . (in der Mitte der Bühne wieder nach Url hin) Der Beweis! . . . (wieder nach links) Ich brachte es damals . . . oft tagelang nicht fertig . . . (wieder nach rechts) ihm auch nur unter die Augen zu treten! . . . (wieder nach Url zurückgedreht in der Mitte der Bühne) Und er weiß es . . . noch heute nicht . . . daß ich die Erbschaft antrat! . . . Seinetwegen!! . . . (vor sich in der Mitte des Raums »wie in die Zukunft« blickend; leidenschaftlichst-wuchtigst, beide Hände in unwillkürlich unterstreichender Geste) Er soll . . . wenn ich einmal . : . nicht mehr bin . . . (abbrechend; sich noch steigernd) Er soll . . . frei werden! Ganz frei! . . . (fest; trotz ihres Schmerzes) Frei von . . . allem!

Url: (nach einem tiefen Schreck) Sie . . . ent . . . setzen mich! Sie . . . lassen mich da . . . in einen . . . Seelenzustand sehn . . . (anders; eindringlich weiter; unwillkürlich etwas auf sie zu) Geben Sie sich nicht . . . solchen . . . Stimmungen hin! . . . Wenn ich mich auch . . . damals . . .

Beatrice: (die erst jetzt und auf dieses Wort ihre Augen ihm wieder zukehrt; schwermütigst schmerzlichst; vieldeutig) Damals!

Url: (noch beschwörend-eindringlicher) Nicht zurückreißen ließ . . . ich . . . weiß am besten . . .

Beatrice: (mit großen, wie visionär-starr erweiterten Augensternen, den Kopf halb nach oben, die Rechte leis hebend, den alten Claudiusschen Text langsam, die fast »transzendent« veränderte Stimme metallisch-dunkel schwebend, vergeistert statuarisch, aus letzten Tiefen, wie die Muse der Tragödie, zu rezitieren beginnend) »Gib . . . deine . . . Hand . . .«

Url: (der ihr aus verstehendstem Entsetzen zugehört; leicht vorgebeugt; die wie beschwörendst erhobne Rechte etwas höher als die Linke) Um . . . alles . . .

Beatrice: (die Stimme etwas höher; die Rechte noch erhobner; schon wie fast außer Raum und Zeit) »Bin . . . Freund . . . und . . .«

Url: (in fast noch der selben Stellung; beide Hände leicht flehend gewölbt-einwärts in jetzt gleicher Höhe; suggerierendst-eindringlichst) Sie . . . müssen mit . . . letzter Kraft (abbrechend und beide Arme mit leisem Achselzucken, wie machtlos, schwer wieder an sich zurückklappen lassend; etwas veränderte Stimme) Es . . . gab auch . . . für mich . . . (die Hände an den herabhängenden Armen mit offnen Flächen, wie bekräftigend, sein Geständnis unterstreichend) noch einen . . . (mit der wieder erhobnen Rechten, deren Hand er wie leise warnend schüttelt, nach dem Schränkchen über der Chaiselongue; die erst und die letzte Silbe schmerzlichst betont) Augenblick . . .

Beatrice: (die nach aufhorchendstem Begreifen einen kurzen, verstehenden Moment erschauernd nach ihm rübergeblickt; wie magnetisch, trotz innersten Grauens, mit jetzt gleich halb erhobnen Armen, die Augen groß auf, einen halben Schritt, die rechte Fußspitze noch auf dem Teppich, nach dem Schränkchen; die Stimme noch höher, fast schon wie singend) »Und . . . komme . . . nicht . . .«

Url: (ihr nachblickend; ähnliche Geste wie bereits einmal eben vorhin; in seiner Stimme etwas verschleiert-bittres) Und . . . vielleicht . . . nur . . . (halb wie wehmütig sich beklagend-anklagende Geste mit der wieder etwas erhobnen, leicht vibrierenden Rechten nach jener Stelle vor der Tür) weil ein paar . . . armselige . . . einer ent setzt über rascht sprachlos . . . bis ins Herz Getroffnen . . . entglittene bunte . . . Rosen . . .

Beatrice: (nach einem abermals kurzen Blick nach ihm; mit der halb erhobnen Rechten, die offne Handfläche parallel ihrer Körperseite, die beiden ersten Silben, verstärkt hinweisend, noch verdeutlichend-schärfer akzentuierend) Die . . . dort . . . (ganz zu ihm hingedreht; mit einem wie leeren Blick durch den Raum um sich; Ton tiefinnerster Anteilnahme) Als . . . Sie hier . . . ganz . . . allein . . .

Url: (wieder die halb hilflos sich wie entschuldigende, halb wie resignierte Geste, wie bereits zweimal vorhin; trotzdem jetzt feste, zuletzt sich ehrlich-offen selbst bezichtigend, in seinem Satz weiter) Und . . . ich . . . zum zweitenmal . . . töricht glaubte . . .

Beatrice: (die ihn jetzt voll angeblickt; wie fast in der Hoffnung, ihn damit »auf ihre Seite« zu ziehn) Und . . . haben Sie s nicht . . . (dabei nach seinen Rollen mit den Plänen blickend; unwillkürliche Geste) trotzdem . . . bereut?

Url: (nach kurzem Kampf; stehngeblieben) Nein! . . . Denn ich habe nun Höhen und Tiefen des Lebens durchfühlt . . .

Beatrice: (bitter; ihn unterbrechend; langsam nach vorn rechts) An . . . andern!

Url: (schmerzlich) Eine Durchschnittskreatur wie ich . . . soll froh sein . . . (abbrechend; warm; nach ihr hin) Und wenn ich nichts dafür . . . errungen und eingetauscht hätte . . . als meine Freundschaft! . . . Bereits damals . . . die für ihn . . . und jetzt . . . (leiser) auch die für Sie!

Beatrice: (vorn rechts nach ihm zurückgedreht; vor sich hinstarrend; dann ausbrechend) Wen ich dafür . . . die Erklärung wüßte . . . was ihn mir . . . so genommen hat!

Url: (vor ihrem Ausbruch machtlos; entsprechende Geste; dann wieder ganz nach links vorn) Das . . . weiß ich nicht. (sich wieder nach ihr zurückdrehend).

Beatrice: (in schnell sich steigernder Hysterie; immer näher auf ihn zu) Sie wissen es! Sie sagen s nur nicht! Sie glauben mich damit . . . »schonen« zu müssen . . . daß Sie s mir nicht . . . verraten! . . . Nur um es zu erfahren . . . um es endlich rauszubekommen . . . habe ich mich ja . . . zu dieser Rückkehr ihm aufgedrängt! . . . Warum schweigen Sie? . . . Warum sind Sie so herzlos? . . . Wie können Sie nur zusehn . . . daß sich ein Mensch vor Ihnen . . . (plötzlich; vor ihm hoch aufgerichtet) Ich will es wissen! Ich muß es wissen! Noch . . . lasse ich ihn nicht! . . .

Url: (erschüttert; nach einer kurzen Pause; halb leise) Ich gebe Ihnen . . . mein Ehrenwort: Ich weiß es nicht! . . .

Beatrice: (nach einer Pause; sich abwendend; bis zur vorderen Mitte der Bühne; dann nach ihm zurückgedreht; von neuem; anderer Tonfall) Sie waren an jenem schrecklichen Tage . . . dabei! In diesem Raum hier! . . . (einen Moment halb nach der Tür zurückgedreht, durch die Lipsius damals gegangen war) Sie haben sein letztes Wort gehört: . . . »Um . . . deinetwillen«! . . . Und trotzdem! . . . Dieser . . . furchtbare Ausgang! . . .

Url: Es war für ihn . . . vielleicht das beste so.

Beatrice: (einige Schritte nach rechts) Für ihn!

Url: Für . . . alle.

Beatrice: (wieder zurück; verzweifelt) Nein! . . . Nein!! . . . Für mich nicht! . . . Für mich . . . nicht!! . . . (in der vorderen Mitte der Bühne von neuem stehngeblieben).

Url: (stutzt; nach einem Augenblick fast vollständiger Verständnislosigkeit) Warum . . . quälen Sie sich so?

Beatrice: (nachdem sie sich bis zu einem gewissen Grade wieder gefaßt hat; halb ihm zugedreht, aber ohne ihn anzusehn) Nie hatte ich die ganzen Jahre auch nur den leisesten Entlastungsgrund für ihn gehabt! In der grenzenlosen Erbittrung, die mich gegen ihn erfüllte, war ich mir meines absoluten Verdammnisurteils so sicher gewesen. Und nun? (wie sich ganz von allem absondernd, die Augen schließend) Weiß ich nichts mehr! . . .

Url: (erschüttert) So . . . kann ein Tod . . .? . . .

Beatrice: (wie entrückt; vor sich in den Raum) Alles in uns wandeln. Ja!

Url: (langsam; unterstrichen) Es gibt . . . eine Schuld . . . die auch der Tod nicht löscht.

Beatrice: (tiefst, schwerst, dunkelst; aus letztem Untergrund; ihm zugewandt) Woran sind wir schuld . . . und woran sind wir nicht schuld? (wieder wie vorhin; nur womöglich noch gesteigert) Jetzt . . . wo alles um mich wankt und sinkt . . . fühle ich es wieder . . . in mir aufgewacht! . . . (letztes, rückhaltlosestes Bekenntnis) Ich habe ihn geliebt, wieder man einen Menschen nur lieben kann! Und . . . ahnungslos . . . habe ich alles getan . . .

Url: (den ihre ersten Worte wie gebannt gehalten; instinktiv-argwöhnisch zu Musmann rüberblickend, der schon längst den Schlafenden nur noch markiert) Mir . . . war . . .

Beatrice: (die das gar nicht beachtet; ihren Satz zu Ende bringend) Um ihn . . . zu Fall zu bringen!

Url: (dem fast der Atem stockt) Nicht einmal . . . denken dürfen Sie so etwas!

Beatrice: (der Urls Worte kaum ans Ohr, geschweige denn bis ins Bewußtsein gedrungen sind; wie in eine ferne Erinnerung versunken, die sich ihr qualvoll, fast wider ihren Willen, in Worte umsetzt) Ich stand vor ihm . . . als spähende Psyche. (die betreffende Positur unwillkürlich, wie traumhaft, andeutend) Die Leuchte . . . über dem Schlummernden! . . . (Url, wie hilflos-ohnmächtig, sich auf den Hocker setzend) Schon . . . begann ich aus dem Stein zu leben! . . .

Url: (in Gegenwart Musmanns schon jetzt eine »letzte Offenbarung« von ihr fürchtend; angstvoll nach diesem hin) Um . . . Himmels . . .

Beatrice: (wie visionär) Plötzlich . . .

Url: (seinen unterdrückt-besorgten Ausruf, in den sie unbeirrt mitten hinein weitergesprochen, beendend) Willen!

Beatrice: (die ihn überhaupt nicht gehört) Sein Arm sank . . . zum erstenmal . . . spürte ich . . . seinen Blick! (Url: beschwörende Geste, daß sie aufhören solle) »Bist du schon . . . müde, Vater?«

Url: (aufgestanden, fast tonlos) Ich bitte Sie . . .

Beatrice: (visionär weiter) »Zieh dich an!«

Url: (seine angstvoll-ohnmächtige Aufforderung an sie beendend) Inständigst!

Beatrice: (wie vorhin) Mir war zumut, als hätten seine Worte mich geschlagen! . . . (Url in seiner Ohnmacht, den Blick dabei auf sie gerichtet, sich wieder setzend) Ich durfte die gesamten Werkstätten nicht mehr betreten. Kaum . . . sah ich ihn noch.

Url: (gequält) Warum . . .? . . .

Beatrice: (in vollkommener Selbsthypnose) Heimlich, durch versteckte Zärtlichkeiten, bettelte ich um seine alte Liebe. Er wurde nur abweisender. Das Ende vom Liede? . . . Die hundert Meilen weite Pension!

Url: (in lebhafter, innerster Anteilnahme; für den Toten eintretend) Es . . . war von ihm . . .

Beatrice: (an die kein Laut mehr von ihm dringt) Ich . . . kam mir vor . .. wie verstoßen.

Url: (wie vorhin) Diese . . . Trennung . . .

Beatrice: Erbittert . . . verbiß ich s! . . . Wochenlang! . . . Monate! . . . Auch von seiner Seite . . . kein Wort, kein Zeichen! . . . (Url wieder beunruhigt nach Musmann rüber) Dann begann es. » Wer hat dich mir gestohlen? Wem habe ich weichen müssen?« Glühende, leidenschaftlichste, tränengetränkte Briefe! »Du hast meine Mutter geliebt? Du hast mir dein Wort gegeben, wenn ich mal ganz erwachsen sein werde, wirst du mir alles von dir sagen? Alles? Es sollte gar kein Geheimnis mehr zwischen uns geben? Deinetwegen habe ich mir heilig gelobt . . . (Url gespannt zu ihr vorgebeugt) nie heiraten zu wollen?« . . .

Url: (der kaum recht gehört zu haben glaubt; fast entsetzt) »Nie . . .?!«

Beatrice: (wie vorhin) »Wirf das . . . Frauenzimmer . . . raus!« . . . (Url, da sie ihre Stimme unwillkürlich erhoben, besorgt nach Musmann) Das Ende . . . abermals vom Liede? . . .

Url: (beschwörend) Lassen Sie . . . Vergangenes . . .

Beatrice: (ganz entrückt; als erlebte sie jene Zeit nochmals) Ich . . . war wieder . . . in seinem Haus! . . .

Url: (noch flehender) Vergangen sein!

Beatrice: (wie vorhin) Nichts! . . . Ich hatte mich getäuscht . . . Niemand! . . . Ich begriff nicht. Die Zimmer meiner Mutter, in denen seit ihrem Tode nichts verändert worden war, waren früher stets verschlossen gewesen. Jetzt . . . hielt er sich fast nur noch in ihnen auf. Seine Kunst existierte für ihn nicht mehr. Mit Schmerz erfuhr ich: . . . er hatte die ganze Zwischenzeit . . . kaum in sein Atelier gesehn! . . . Die unvollendete Arbeit stand bedeckt . . . wie ich sie verlassen hatte. Was war ihm? Er, der sonst so Lebensfreudige, hatte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, jetzt einen Ausdruck, vor dem es mich jedesmal . . . überlief. Er ging zugrunde, wenn er nicht wieder arbeitete! . . . Umsonst drang ich in ihn. Er hörte nicht mal. Ich wollte ihm wieder Modell stehn. Er wies mich ab. Kurz, schroff, heftig! . . . War ich schuld? . . . Sein Schweigen sagte es mir. Wildeste, ohnmächtigste Kämpfe und Verzweiflungsszenen! Er blieb fest. Ich wand mich vor ihm! Vergeblich. Einmal drohte ich ihm, ich würde auf immer das Haus verlassen! »Tu s!«. »Du lebst nur noch . . . für eine Tote! Die Lebende . . . gilt dir nichts mehr!« Ich beschimpfte die Mutter! . . .

Url: (der sie bis dahin, wie entgeistert, angestarrt) Sie . . . ? . . .

Beatrice: Wir . . . kannten uns nicht mehr! Endlose, eintönige, traurige Tage! Beide mieden wir ihre Zimmer! . . . Am Abend vor ihrer Todesnacht. Morgen werde ich sechzehn. Der letzte Raum der langen Reihe. Zitternd hatte ich mich eingeschlichen. Alter Rosenduft. Die weißen Seidenwände schimmerten. Aus mattem Goldglanz, im Brautkleid, ihre strahlende Jugend über ihrem Sterbebett!

Url: (unwillkürlich aufgestanden; stumme, wie flehende Gebärde, aufzuhören, nach abermals instinktiv beunruhigtem Blick nach Musmann rüber) Sie . . . sollten . . .

Beatrice: (einen Moment ausbrechend) Ich muß es mir . . . von der Seele sprechen! Alles! . . . (Url: noch beschwörendere Geste) Alles!!

Url: (wieder in der Doppelangst um sie und Musmann, abwehrend) Es hat . ..

Beatrice: (in ihren Ton von vorhin zurückfallend) Im runden Glasspind stand dort noch das selbe Kleid! Mit verhaltnem Atem . . . suchte ich nach dem kleinen Silberschlüssel. Es war offen. Schnell! . . . Es paßte . . . wie für mich gemacht! . . . Erwartungsvoll mit klopfendem Herzen, (immer entsprechende, verdeutlichende Gesten) verglich ich mich mit ihr im Spiegel! . . . Nein! . . . Das war nicht mehr ich . . . ich . . . das . . . war sie! . . . Sie! . . . Da . . . hinter mir . . . aus dem leichtgetrübt blinden . . . bunt-venezianisch gefaßten Glas . . . im offnen Türrahmen . . . aschfahl . . . sein Gesicht! Wir starrten uns an. Sekunden? Minuten? Dann . . . schwand es. Als ich mich wieder umzudrehen wagte, bewegte sich nur noch leise der lichte, leichte, mit kleinen, blauen Blüten überstreute Vorhang. Was war das für ein . . . namenloses Grauen gewesen? Was hatte ihn so . . . entsetzt sein lassen? War es schon so weit mit ihm? Hatte er hier . . . bei ihr . . . von allem . . . Abschied nehmen wollen? Wieder Wochen! Ich fand keine Ruhe. Oft, von tödlicher Angst gepackt, lauschte ich an seiner Tür. Und ich merkte: auch er . . . belauerte mich! Keiner traute dem andern mehr, jeder wußte . . .

Url: (aus seiner ängstlich abwartenden Stellung von neuem nach Musmann) Wenn nur nicht . . . das Unheil . . .

Beatrice: (um ihn unbekümmert weiter) Wie er bewacht wurde! . . .

Url: (nochmals nach Musmann) Das Unheil . . . es will . . .

Beatrice: (jetzt halb zu Url; etwas anderer Tonfall) Allmählich . . . langsam . . . ohne daß ich es eigentlich selbst recht hatte sagen können, wie es gekommen war, war er wieder anders zu mir geworden. Weich, nachgiebig, oft fast rührend wie zu einem Kind. Und doch so seltsam. Ich mußte mit ihm in Gesellschaften und auf Bälle. Er machte auf einmal . . . ich hatte es als Kind nie erlebt . . . wieder ein großes Haus. Alles wurde auf den Kopf gestellt. Theater, Konzerte, Feste! Allerhand junge Leute tauchten um mich auf. Die Bevorzugtesten wurden mir wie auf Präsentiertellern gereicht. Endlich merkte ich es. Ich lachte ihn aus! Und was mich dann ganz und gar nicht mehr aus ihm klug werden ließ, er versuchte nicht einmal, mich umzustimmen! Mit einem inneren Triumph nahm ich sogar wahr: er war mir dafür gradezu dankbar! (nach Url nicht mehr hin) Hatte er damals gesehn, wie ich ihr gleich? Ihr . . . die er so geliebt hatte? (Url wieder lebhaft unruhig nach Musmann rüber) War ihm das nachträglich zu Bewußtsein gekommen? . . . (Url ihr wieder bittend-beschwörend zugewandt) Ich entschloß mich . . . zu einem . . .

Url: (der jetzt die Entschleierung ihres letzten Geheimnisses fürchtet) »Zu . . .«? . . .

Beatrice: (ihren Satz mit erhobner Stimme schließend) Gewaltstreich!

Url: (wieder mit einem besorgt-angstvollen Blick nach Musmann rüber; allereindringlichst) Ich . . . flehe Sie an! . . . Sie . . . sollen mir nicht . . .

Beatrice: (die ihn wieder gar nicht beachtet, von ihrer Erinnerung immer gepackter) Frühling!

Url: (halb nach ihr, halb nach Musmann) So . . .

Beatrice: (weich; fast verzückt) Morgen.

Url: (in seiner Beschwörungsformel weiter; noch angstvoller) Hören Sie doch!

Beatrice: (mit entsprechender Geste) Die Ateliers . . . leer.

Url: (noch dringender; aber auch selbst hier noch in seiner Seelenangst um sie mit behutsamster Diskretheit) Hören Sie doch!

Beatrice: (durch nichts von ihm mehr ablenkbar) Er hatte mir . . . versprechen müssen: »Punkt sieben Uhr . . . holst du dir aus deiner Werkstatt . . .«

Url: (der sich kaum noch zu »raten« weiß) Mein . . . Gott . . .

Beatrice: (ihre eigenen alten Worte, wie sie sie damals gesprochen, noch weiter wiederholend) »Ich . . . sags dir nicht! . . . Du versprichst es mir?«

Url: (halb zu sich selbst, halb nach Musmann) Daß mich . . . das Verhängnis ihn . . .

Beatrice: (die Szene von damals zu Ende rekapitulierend) »Bei deiner Liebe . . . für meine Mutter?« . . . »Ja!« . . .

Url: (wie vorhin) Grade heute und . . . in diesen . . . (sich verzweifelt im Atelier umblickend).

Beatrice: (immer dramatisch-belebter) Ganz still hatte ich den hohen Raum voll Blumen gestellt. Ganz still die Fliesen mit Rosen bestreut. Ganz still sein Arbeitszeug zurechtgerückt. Ich deckte den Marmor ab. Ich schwur mir: Das soll sein größtes Werk werden! Ein letztes Zögern . . . (Geste, als ob sie schnell etwas von sich abgewofen hätte).

Url: (den Blick, wie gebannt, auf Musmann richtend) Hat er sich nicht . . . deutlich eben . . .? . . .

Beatrice: (die Arme, noch gestrafft, halb hinter sich; Url voll anblickend) Ich stand . . . an der selben Stelle . . . in der selben Haltung, in der ich damals gestanden hatte. Seine schnellen Tritte . . . jetzt! . . . (sein Entsetzen markierend; Url angstzerquält sich abwendend, Hand vor der Stirn, Augen zu) »Sibylle!!« . . . Einen Augenblick noch, dicht vor mir, seine verzerrten, zornigen Züge, seine erhobene Hand . . . (die Augen geschlossen, ihrer Erinnerung fast erliegend) dann . . .

Url: (auf Spitzzehen leis zu Musmann gegangen, vor den er sich, beobachtend, stellt, worauf dieser einen leichten Schnarchlaut markiert; halblaut; unwillkürlich, fast nur wie zu sich) Nein . . .

Beatrice: (ihren Satz schließend) Sah ich nichts mehr! . . .

Url: (wie vorhin) Er . . . scheint wirklich . . .

Beatrice: (die währenddem, wie in sich versunken, dagestanden; nach einer kleinen, erschöpften Pause; schwach, langsam, wie eine Genesende) Durchs offne Fenster . . . dunkles Grün. Lindenduft! Wo war ich? . . . »Du?« . . . Er saß vor meinem Bett und streichelte meine Hand. Ein leises . . . Grauen. »Kind!« . . . Zitternd wandte ich mich ab. Wie lange . . . hatte ich so krank gelegen . . . (kaum hörbar) »Reich mir . . . den Spiegel.« (als ob sie sich in einem solchen besähe) Gott sei Dank! So . . . so . . . hatte sie . . . nie ausgesehn! . . . Kraftlos fiel ich zurück. Seine Lippen auf meinen. Schmerz durchzuckte mich. Als ich die Augen wieder öffnete, rollten von meinen Wimpern seine Tränen. Ich spürte nur das eine: Nie wieder . . . wird er dir . . . etwas abschlagen können! Nie . . . dir die Erinnerung daran . . . verwischen! . . . Wie behutsam er jetzt auch verfuhr, sobald er den Blick von mir ließ, verfolgte ich ihn mißtrauisch, und sah er mich an, so verbarg ich mich ihm wieder. Nicht einen Augenblick aber . . . verlor ich die Gewißheit: Nun hast du Gewalt über ihn! Für immer! . .. Bis ich . . . wieder aufstehn durfte! . . . Fast nach den ersten, schwachen Schritten schon, so schaudernd ich fühlte, wie grausam das war: planmäßig, gegen alle Vernunft in mir, taub gegen eine deutliche, innere Stimme, die mich warnte, tu s nicht, quäl ihn nicht, habe Mitleid mit ihm, machte ich von meiner Macht Gebrauch. Erbarmungslos! »Was hatte dich so furchtbar gegen mich aufgebracht? Was habe ich dir getan? Was hattest du die ganze, schreckliche Zeit gegen mich?« Er bat mich und flehte: »Laß das Vergangene! Was gewesen, ist nicht mehr!« »Das ist nicht wahr! Das glaub ich dir nicht! Das glaubst du selbst nicht!« Er schwieg und duldete. Ich spannte ihn auf die äußerste Folter. »Warum durfte ich dir nicht Modell stehn? Wenn du s mir sagst, quäle ich dich nicht länger! Siehst du? Du liebst mich nicht mehr! Wenn du mich noch liebst, warum willst du mein Abbild jetzt . . . nicht vollenden?« . . . Am nächsten Morgen . . . begannen wir. Seine Qual war mir Lust. Seine Marter Triumph. Seine Pein Wonne. War das noch Liebe? . . . Liebe? . . . Das war schon damals . . . Haß in mir!

Url: (der, etwas rechts hinter ihr, stehngeblieben war; betroffen zwei Schritt zurücktretend; wie vollkommen verständnislos) »Haß«?! . . .

Beatrice: (in letzter, innerster Qual und Verzweiflung über sich und alles; langsam) Was . . . weiß der Mann . . . vom Weib . . . und was . . . wissen beide . . . von sich selbst? . . . Er arbeitete verzweifelt! Finster! Wortlos! Der Block unter seinen Händen wandelte sich, schon am dritten Tage war es nicht die ursprüngliche Idee mehr. Was ging in ihm schöpferisch vor? Warum verhehlte er es mir? Das Werk wuchs. Rapid. Aus dem jungen, in Angst und Erwartung bebenden Griechenmädchen, immer erkennbarer, wurde jetzt eine hochmütig strafende, christliche Madonna! Ich hatte eine Apotheose erwartet! Das war eine Abwehr! Seine Kunst, die mir bis dahin die einzige Freundin gewesen, für die ich meinen ganzen zähen, jahrelangen, leidvoll schmerzensreichen Kampf gekämpft, stand jetzt plötzlich vor mir aufgereckt. Drohend! Als meine erbittertste Feindin! Sie, die bisher . . . von mir so Vergötterte . . . der ich als Magd . . . gedient . . . und die mich . . . wie eine . . . Himmlische . . . verherrlicht hatte . . . hielt . . . über mich . . . Gericht! Hatte er mich durchschaut? Ahnte er, was in mir wühlte? Eins wußte ich: ich war für ihn eine gänzlich andere geworden! Mit seinem letzten Meißelschlag würde ich für ihn . . . erledigt sein. Endgültig! Wie man etwas in die Ecke wirft, oder mit dem Fuß . . . von sich stößt. Stumme, häßliche, ohnmächtige Wut! Mein Ebenbild, je lebender es sich gestaltete, in unzähligen, kleinen, kaum Merklichkeiten, spiegelte mir, wie sehr ich mich in einem fort verriet! Wie fein und treu seine Künstlerseele alles von mir registrierte! Noch nie hatte ich ihn seines Könnens so sicher gesehn! Mehr und mehr entglitt er mir.

Url: (erregt-atemlos; halb nach ihr, halb nach Musmann zurück; fast tonlos) Und . . . dann . . .? (da Beatrice, wie eine Statue, stumm bleibt; sich unwillkürlich etwas steigernd) Dann . . . dann? . . .


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