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XXIV.

Das Leben rauscht über Gräber.

Was wissen wir vom Schlaf der Toten, vom Schlafe der Lebenden.

Wir kennen die Lebenden nicht. Ob sie träumen oder wachen, wir schreiten an ihnen vorbei, an ihnen und uns.

Und von den Dämmerzuständen der Seele ahnen wir nichts, vor ihren Dunkelheiten stehen wir hilflos und ohne Begreifen. – – –

Über Agnes Salomon war ein tiefes Schweigen gekommen.

Die jungen Leute im Geschäft mieden ihre Nähe, machten einen großen Bogen um sie und hatten Furcht vor ihr.

Sie sprach kein überflüssiges Wort, erteilte ihre Befehle, kam zuerst, ging zuletzt. Sie war die unumschränkte Herrscherin, denn niemals ließ sich Salomon blicken, er hatte sich in seiner Wohnung vergraben und mied die Menschen.

Er war einsam und menschenscheu geworden.

»Wer hätte es sich vor einem Jahr träumen lassen,« flüsterte Fräulein Traube in einem unbewachten Augenblick Herrn Trübsand zu, »daß diese Goite alles an sich reißen würde? Sie pfeift, und wir tanzen, sind Puppen, die keinen Willen haben. Ist es nicht zum Lachen?«

»Zum Weinen, Fräulein Traube,« entgegnete Trübsand melancholisch.

Agnes Salomon hatte gewartet und gewartet, aber Salomon kam nicht.

Sie hatte bei ihm angerufen, aber niemand hatte sich gemeldet.

Darüber waren Wochen, Monate verstrichen.

An diesem Abend hatte sie sich entschlossen, zu ihm zu gehen.

Ein unbeugsamer Wille lag auf ihren Zügen.

Salomons alte Köchin fuhr bei ihrem Anblick entsetzt zurück, als sei sie von den Toten auferstanden, und gleich darauf wehrte sie heftig mit den Händen ab, und ihre Miene wurde hart und feindselig.

Die junge Frau schob sie wortlos beiseite.

Das Eßzimmer war erleuchtet, auf dem großen Speisetisch lag ein einsames Gedeck.

Auch in dem anstoßenden Raum brannten die Lampen.

Durch die gläserne Tür sah sie Salomon rastlos wie ein gefangenes Tier auf und nieder gehen, hörte ihn in einem traurigen, halb singenden Ton unverständliche Worte murmeln.

War es ein sich ewig wiederholendes Stöhnen, oder war es ein Gebet, das niemals enden wollte?

Agnes Salomon überlief es.

Er spricht mit seinen Toten, und mich begräbt er bei lebendigem Leibe, dachte sie, und eine grenzenlose Bitterkeit stieg in ihr auf.

In einem plötzlichen Entschluß schob sie die Flügeltüren auseinander.

Salomon starrte sie wie eine Erscheinung an.

Sie warf den Kopf in den Nacken.

»Ich bin es,« sagte sie, bevor er noch seine Fassung wiedergewonnen hatte.

Und als statt aller Antwort ein einziger schmerzhafter Laut sich ihm entrang, ein Laut, wie ihn zuweilen ein Tier von sich geben mag, zerbrach alle ihre Selbstbeherrschung.

Sie trat dicht auf ihn zu und packte ihn an den Schultern.

»Salomon ... Salomon ...« schrie sie, »kennst Du mich nicht? Willst Du mich zu den Toten werfen? Was habe ich Dir getan, daß Du mich wie eine Aussätzige behandelst, deren Anblick und Nähe man meidet!«

Er hatte sich mit sanfter Gewalt von ihr losgemacht und durchmaß wieder mit seinen großen, schweren Schritten den Raum.

Dann blieb er plötzlich vor dem großen Ölgemälde Renettens stehen und sah mit kummervollen, furchtsamen Augen in das strenge, harte Gesicht der Frau, die wie eine Richterin ohne Erbarmen in ihrem goldenen Rahmen thronte.

»Nichts hast Du mir getan,« sagte er nach einer langen langen Weile, »ich allein bin schuldig, ich trage die Verantwortung, ich bin schuldig an ihr, an ihm, an Dir!«

»Ja,« stieß sie mühsam hervor, und ihr Blick war voll Gram und Zorn auf ihn gerichtet, »Du bist schuldig, Salomon, aber nicht an jenen. An Dir bist Du zum Verbrecher geworden. Gegessen hast Du und getrunken. Geschlafen hast Du und verdaut. In die Ehe bist Du gegangen ohne Sinn und Verstand, ja, ohne Sinn und Verstand! Und hast Dir groß was eingebildet, daß Du ein Kind in die Welt gesetzt und Gelder aufgehäuft hast. Und das nennst Du atmen, leben. Es ist zum Heulen, Salomon. Und jetzt willst Du mich in die Erde scharren, und an mir schuldig werden und an Dir! Salomon!« schrie sie, »ich gehöre zu Dir, wach' auf, versinke mir nicht!«

»Ich kann nicht!« entgegnete er, und seine Züge waren mit solcher Scham, solchem Kummer bedeckt, daß alles Hoffen in ihr mit einem Schlage verlosch.

»Ich liebe Dich,« sagte sie plötzlich, »ich liebe Dich mit meinem Leib und meiner Seele!«

»Und ich liebe Dich«, entgegnete er schmerzhaft, »und habe nie den Mut gehabt, es mir einzugestehen. Nun schreien es mir meine Toten entgegen und sprechen mich schuldig. Die Toten trennen uns. Laß uns in Frieden scheiden.«

Er streckte ihr müde die Hände entgegen und zog sie hastig zurück, da sie unentwegt leise den Kopf schüttelte. Dabei maß sie ihn mit langen, rätselhaften Blicken, als wollte sie ihn durchdringen, sich die letzte Gewißheit holen, daß Säfte und Kräfte in ihm abgestorben waren, daß er weder den Mut noch die Willensmöglichkeit hatte, ihr zu folgen, und daß es keinen Weg mehr zu ihm gab.

Salomon schien zu ahnen, was in ihr vorging.

»Ganz recht hast Du,« sagte er und lächelte demütig. Sie biß die Zähne zusammen und schlich lautlos aus dem Zimmer.

Zu Hause angelangt, schickte sie die Mädchen schlafen. Sie hätte das Nachtmahl bereits hinter sich.

Dann kroch sie, ohne das Licht anzudrehen, in ihr Bett und lag mit wachen Augen da, bis der Morgen graute.

In der ersten Frühe verließ sie das Haus und fuhr nach dem Anhalter Bahnhof.

Als der Zug sich in Bewegung setzte, wußte sie weder Richtung noch Ziel.

Sie wußte nur, daß alles in ihr zerbrochen war.

Und ganz deutlich hörte sie das Klirren der Scherben.

Die Augen fielen ihr zu.

Rattata ... Rattata! ...


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