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XVI.

Nur mit Mühe und Not konnte Agnes im Verein mit Schwester Gustl Artur davon abhalten, mitten in der Nacht Pulvermacher aus dem Schlaf zu wecken.

Die Schwester mußte hoch und heilig versichern, daß das Kind frühestens am Abend des folgenden Tages da sein würde, und daß es gegen allen Sinn und Verstand wäre, den Arzt so frühzeitig zu zitieren.

Bei jeder Wehe wurde Artur unruhiger, und wenn Agnes, die jeden Schmerzenslaut zu unterdrücken suchte, sich auf die Seite warf, stand er Höllenqualen aus.

Die Schwester mußte ihre ganze Energie aufbieten, um ihn zur Vernunft zu bringen.

Schließlich sagte sie in einem Tone, dessen Entschiedenheit Artur einschüchterte: »Herr Salomon, wenn Sie es so weiter treiben, müssen Sie aus dem Zimmer. Sie schaden ja der Wöchnerin.«

Artur war tief gekränkt, setzte eine beleidigte Miene auf, verhielt sich eine Weile still.

Dann begann er von neuem zu toben.

Er rief Schwester Gustl beiseite, und mit einer Stimme, die vor Erregung bebte, erklärte er: »Sie mögen ja gewiß in diesen Dingen eine größere Erfahrung haben als ich; trotzdem muß ich darauf bestehen, daß zum mindesten die Hebamme sofort gerufen wird.«

»Es hat wirklich keinen Zweck,« antwortete sie. »Aber wenn es Sie beruhigt, rufen Sie in Gottes Namen an.«

Ja, das wollte er unbedingt tun, und Artur ließ sogleich eine Nachtverbindung herstellen und beschwor Frau Werkmeister, sofort zu kommen.

Eine halbe Stunde verstrich, die er mit allen erdenklichen Mitteln totzuschlagen suchte. Erst griff er nach einem Buch und begann krampfhaft zu lesen, bis er merkte, daß er nicht einen Satz in sich aufzunehmen vermochte. Dann fing er leise zu pfeifen an, hielt nach den ersten Tönen erschreckt inne und schlug sich an die Stirn. War er denn blödsinnig geworden, sie lag in Schmerzen, und er pfiff.

Nun zählte er hartnäckig von eins bis tausend. Und als Frau Werkmeister immer noch nicht kam, lief er die Treppe hinunter, in der Absicht, sie zu holen.

Gerade als er die Haustür aufschloß, sah er eine Gestalt mit einer, unförmlich großen Tasche um die Ecke huschen.

Es war die Hebamme.

Er atmete erleichtert auf, obwohl er nicht fassen konnte, daß sie in so gemächlichem Tempo ihres Weges ging. Am liebsten hätte er sie angefahren, aber im rechten Augenblick besann er sich noch. Wie konnte er es sich nur einfallen lassen, eine so wichtige Persönlichkeit in üble Laune zu bringen.

Und katzenfreundlich sagte er: »Gelobt sei Gott, daß Sie da sind! ich sterbe ja vor Angst.«

Frau Werkmeister entgegnete trocken: »Das ist ganz nebensächlich, Herr Salomon, mich interessiert lediglich, wie sich Ihre Frau befindet. Im übrigen stirbt man nicht vor Angst, und wenn das zweite kommt, werden sie schon ruhiger sein.«

Artur wurde blaß. Die Frechheit dieser Person überstieg seiner Ansicht nach alle Grenzen. Und dazu mußte man schweigen, mußte diese Unverschämtheit hinunterschlucken.

Er berichtete kurz, während sie die Treppe hinaufstiegen.

»Das ist doch ganz natürlich«, knurrte Frau Werkmeister, »und kein Grund, einen unnötigerweise um seine Nachtruhe zu bringen.«

Sie trat in das Zimmer der Wöchnerin. Artur drückte sich beiseite.

Nachdem sie Frau Salomon untersucht hatte, warf sie ihm einen vernichtenden Blick zu, in dem all ihre Verachtung sich entlud.

»Heute nachmittag schaue ich wieder nach dem Rechten,« meinte sie und wollte sich entfernen.

Artur beschwor sie, es käme ihm auf einen Fünfzigmarkschein mehr oder weniger nicht an, nur sollte sie so lange bleiben, bis Pulvermacher dagewesen sei, später als halb Neun würde es keinesfalls werden.

Und zur Bekräftigung seiner Worte zog er seine Brieftasche und drückte ihr einen Schein in die Hand.

Die Mädchen schliefen.

Frau Werkmeister ging mit Seelenruhe in die Küche und kochte sich einen starken, frischen Kaffee, und zu Schwester Gustl, die ihr gefolgt war, sagte sie: »So eine Mannsperson ist doch was furchtbar Komisches! Das jammert und spielt sich auf, als ob's selber dran glauben müßte.«

Schwester Gustl versuchte zu begütigen. »Es nimmt ihn schon gehörig mit,« sagte sie leise, aus Angst, Artur könnte ihnen nachgeschlichen sein. »Aber gerechter wäre es schon, wenn Mann und Frau mit dem Kinderkriegen abwechselten.«

Punkt einhalb Neun kam Pulvermacher, stellte ein paar sachliche Fragen und schickte alsdann zu Arturs größtem Ärger Frau Werkmeister wieder nach Hause.

»Machen Sie den Schimmel nicht scheu, lieber Artur. Sie werden sich lange gedulden müssen. Wenn Sie mir folgen, gehen Sie noch auf ein paar Stunden ins Geschäft.«

Dabei steckte er sich eine Zigarre an und machte sich ebenfalls auf den Weg.

Artur dachte nicht daran, diesen Rat zu befolgen. Er klingelte den Papa an und teilte ihm voller Erregung mit, daß es begonnen habe. Pulvermacher und die Hebamme seien allerdings wieder fortgegangen, würden jedoch auf telephonischen Anruf zur Stelle sein, selbstverständlich müsse er zu Hause bleiben.

Salomon antwortete, daß er gegen Mittag auf einen Sprung heraufkommen würde, er bat, ihn auf dem laufenden zu halten und tausend Grüße an Agnes zu bestellen.

Um zwölf Uhr erschien Frau Michalowski, und eine halbe Stunde später trat Tante Berta ein, die höchst unangenehm berührt war, daß die Michalowski ihr den Rang abgelaufen hatte, sie empfand es geradezu als eine Aufdringlichkeit.

Die beiden Frauen wollten durchaus einen Moment Agnes sehen, aber da waren sie bei Schwester Gustl an die falsche Adresse geraten. Trotz ihrem Widerspruch mußten sie sich mit Artur ins Herrenzimmer begeben, damit die Wöchnerin ihre Ruhe hätte.

Nun kramten sie vor ihm ihre Altweiberweisheit aus, kritisierten die Schwester, die gar keinen guten Eindruck mache, wunderten sich über Pulvermacher, daß er die Hebamme wieder weggeschickt habe, erkundigten sich, ob hinreichend für warmes Wasser gesorgt sei, und stellten auch sonst noch tausend einschlägige Fragen, daß Artur himmelangst und bange wurde, es könnte irgend etwas versäumt worden sein.

Die beiden Damen wetteiferten förmlich, ihm durch ihre Sachkenntnis zu imponieren, ohne darauf zu achten, daß der arme Mensch immer blasser wurde.

Und plötzlich kam Schwester Gustl herein und sagte, sie sei jetzt doch dafür, daß Pulvermacher und die Hebamme gerufen würden.

Artur glaubte, das Herz stünde ihm still.

»Ist etwas passiert?« hauchte er.

»Gar nichts ist passiert,« antwortete Schwester Gustl, »nur die Wehen werden häufiger und heftiger, ganz wie es sich gehört, darum ist es Zeit, Anstalten zu treffen.«

Artur stürzte ans Telephon, bat Pulvermacher mit weinender Stimme, sich ein Auto zu nehmen, und Frau Werkmeister versprach er goldene Berge, wenn sie auf der Stelle sich auf die Beine machte.

»Spätestens in einer halben Stunde werden sie da sein,« meldete er den Frauen, als er wieder das Zimmer betrat.

Jede Muskel seines weichen Gesichtes war gespannt.

Trotz seiner Erregung und Erschütterung fühlte er sich in diesem Augenblick als höchst bedeutsame Figur.

Es klingelte, und Salomon erschien.

Er drückte Artur stumm die Hand.

»Du bist ja eiskalt,« sagte er, »und angerufen hast Du auch nicht, wie steht es denn?«

Artur schrumpfte in sich zusammen.

»Weiß man's denn?« erwiderte er jämmerlich, »wenn nur schon Pulvermacher und die Hebamme da wären. Aus der Schwester kriegt man ja kein vernünftiges Wort heraus.«

Die Frauen hatten ebenfalls feierliche Mienen aufgesetzt.

»Es ist eine unausstehliche Person,« bekräftigte Tante Berta.

Mit einem: »Entschuldigt mich eine Sekunde!« eilte Artur wieder hinaus.

An der Tür von Agnes' Schlafzimmer lauschte er mit verhaltenem Atem.

Seine Züge verzerrten sich, es waren qualvolle Laute, die zu ihm drangen.

Er verwünschte Pulvermacher und schalt sich selbst auf das heftigste, daß er nicht seiner ersten Eingebung gefolgt und noch einen jüngeren Gynäkologen hinzugezogen hatte.

Er schreckte auf. Wie aus der Erde gestampft, ohne daß er vorher einen Schritt, ein Geräusch, ein Klingeln vernommen hatte, standen Pulvermacher und die Hebamme vor ihm.

»Da drinnen ist ja eine Kaffeegesellschaft versammelt,« brummte Pulvermacher unwirsch, während er ihn beiseite schob und sich zu Agnes begab.

Frau Werkmeister folgte, und Artur schlich hinter ihnen her.

Die junge Frau quälte sich zum Entsetzen, als ihr Blick Artur traf, hätte er aufheulen mögen.

»Lassen Sie uns jetzt allein,« sagte Pulvermacher.

Artur sah ihn flehentlich an.

»Nur ein Wort: wie steht es?«

»Vorläufig scheint alles normal.« Dabei klopfte er ihm auf die Schulter.

»Ist der Papa da?« fragte Agnes mit mühsamer Stimme, und Artur nickte beim Hinausgehen.

Die Hebamme blickte Pulvermacher unsicher an, und auch der schien aus seinem Gleichgewicht geraten zu sein, und als Agnes sich stöhnend umwandte, flüsterte er ihr etwas ins Ohr.

Wieder verrann eine Stunde.

Die alte Frau Jung hatte sich inzwischen eingefunden, niemand wußte, wer sie verständigt hatte.

»Es ist ja gerade wie bei einer Leichenfeier,« meinte sie geräuschvoll, »und was man jetzt für ein Wesen bei so einer Entbindung macht, das kannte man früher gar nicht; wo hätte ich mir einen Arzt leisten können!«

Artur hielt sich die Ohren zu.

»Um Gottes willen, Frau Jung, hören Sie auf, ich ertrage das nicht!«

Wenn ich sie nur beim Kragen nehmen und hinauswerfen könnte, dachte er im stillen.

Die Tanten suchten zu beschwichtigen.

Unerwartet tauchte Pulvermacher auf.

Es wurde totenstill.

Er winkte den beiden Salomons.

Draußen sagte er ohne Umschweife: »Die Lage des Kindes ist nicht sehr glücklich, der Vorsicht halber möchte ich Geheimrat Bumm hinzuziehen. Einen Grund zur Besorgnis sehe ich im Augenblick nicht, also wenn Sie einverstanden sind ...«

Salomon ließ ihn nicht ausreden, er drängte ihn zum Telephon.

»Darf ich einen Moment zu ihr?«

Pulvermacher bejahte.

Und nun standen Vater und Mann an ihrem Bett. Sie nahm von beiden die Hände, und mit übermenschlicher Anstrengung zwang sie sich ein Lächeln ab, dabei senkte sich ihr Auge in das Salomons, und etwas Unergründliches schien in ihr vorzugehen, eine neue Wehe übermannte sie, sie ließ Arturs Hand fallen und klammerte sich an Salomon.

Schwester Gustl und die Hebamme traten dazwischen und nötigten die Männer, das Zimmer wieder zu verlassen.

Pulvermacher kam ihnen aufatmend entgegen.

»Wir haben Glück, der Geheimrat kann in einer halben Stunde da sein, ich habe ihn gerade im richtigen Moment erwischt.«

Und in der Tat, es waren noch keine zwanzig Minuten verstrichen, als ein Auto vor dem Hause hielt, und gleich darauf trat der Professor über die Schwelle.

Arturs Aufregung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Er durchmaß mit lächerlich kleinen Schritten das Zimmer. Die Frauen flüsterten, Salomon stand am Fenster und hatte das Gesicht an die Scheibe gedrückt.

Die Minuten dehnten sich endlos.

Zuweilen unterbrach Artur seinen Gang und horchte, dann hörte wie mit einem Schlage das Geflüster der Frauen auf, und aller Augen wandten sich unwillkürlich zur Tür.

Und jetzt wurde sie wirklich geöffnet.

Schwester Gustl steckte ihren Kopf hinein.

»Darf ich die Herren einen Moment bitten.«

Draußen stand Pulvermacher mit einem Armsündergesicht da, neben ihm der Geheimrat in Hemdsärmeln.

»Ich muß sie leider darauf vorbereiten,« begann der Geheimrat, »daß wir das Kind opfern müssen, da sonst die Mutter aufs äußerste gefährdet ist.«

Artur war weiß wie ein Linnen geworden, und Salomon spürte, wie er plötzlich in den Knieen schwach wurde.

Wie auf ein verabredetes Zeichen nickten beide Salomons lautlos; kein Wort kam über ihre Lippen.

Salomon führte seinen Sohn in das Eßzimmer, dort brach Artur auf einem Stuhl zusammen, ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken und weinte wie ein Kind.

Auf Salomons Zügen lag ein großer Ernst. Er rührte sich nicht.

Dann sprang Artur in die Höhe und rang die Hände.

Er fing plötzlich zu beten an: »Gott, mein Gott, erhalte sie am Leben, nimm sie nicht von mir ...«

Salomon wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er rief das Mädchen herein und ließ den Frauen bestellen, sie sollten unverzüglich nach Hause gehen.

Er lauschte in starrer Haltung. Erst als er auf dem Korridor Schritte vernahm und bald darauf die Entreetür zuschlagen hörte, setzte er sich.

Die Dunkelheit zog herauf, und die Salomons verschwammen mit der Dämmerung.

Als sie endlich gerufen wurden, war alles vorüber.

Der Geheimrat drückte Artur die Hand:

»Danken Sie Gott, daß Ihre Frau mit dem Leben davongekommen ist.«

Er empfahl sich kurz.

Agnes winkte ihrem Mann, er mußte sich zu ihr beugen, sie küßte ihn auf die Stirn.

Salomon wandte sich ab, er konnte ihren Blick nicht ertragen.

»Papa,« rief sie leise. Ihr Mund hatte sich jammervoll verzogen.

Sie nahm seine breite große Hand und führte sie an ihre Lippen.


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