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Am nächsten Tage um die Mittagstunde wurde Artur in die Gruft gesenkt.
Agnes Salomon war mutterseelenallein in ihrer Wohnung. Auch die beiden Mädchen hatte sie auf den Jüdischen Friedhof geschickt, damit sie »dem Herrn« die letzte Ehre erwiesen.
Noch einmal überdachte sie ihre ganze Ehe, die Tage und Nächte ihres Zusammenlebens mit Artur.
Jedes gute Wort, das er gesprochen, tauchte in der Erinnerung wieder auf. Sie sah seine demütig bittenden Augen auf sich gerichtet, sah, wie sein Gesicht noch um einen Ton blasser wurde, wenn sie unter seiner Berührung zusammenzuckte, wie seine Augen sich vor Entsetzen weiteten und seinen Zügen einen so lächerlichen Ausdruck gaben, daß sie Mühe hatte, an sich zu halten.
Es wurde ihr plötzlich klar, daß diese bedingungslose Liebe zu ihr alle seine Energien, alle seine Lebenskräfte, all sein Hoffen, Wünschen, Träumen ausgelöst hatte. In sie hatte er sich versenkt, um seinem Dasein Wurzel und Sinn zu geben, an sie sich geklammert, um seine Existenz vor sich selbst zu rechtfertigen.
Er hatte gefühlt, daß er ein kahlgeschorener, armer Teufel war und blieb, selbst wenn er alle Coupons der Welt hätte abschneiden dürfen.
Wo war mehr Traurigkeit und Zweifel an sich selbst gewesen als bei diesem Menschen?!
Dann hatte sie seinen Weg gekreuzt, und in seinem leeren, dürftigen Innern hatte es zu blühen begonnen. Und als gar die Hoffnung auf Segen sich zu erfüllen schien, war er aus den Fugen geraten.
Sie hatte das alles stumm, teilnahmlos, verhärtet mit angesehen, hatte gefroren, wenn er bei ihr gelegen, ihn gehaßt, wenn er sie umarmt hatte.
Dies Dasein war eine Schändung von Leib und Seele gewesen. Und hundertmal wäre sie aus dem Hause und dem Geschäft gelaufen, wenn Salomons Auge sie nicht gebannt und gebunden hätte.
Keine rührsame Empfindung brachte sie bei ihrer einsamen Andacht auf. Und wäre der Tote wieder lebendig geworden und vor sie hingetreten, mit dem Wunsche, noch einmal dieses Leben zu beginnen, sie hätte, ohne sich auch nur eine Sekunde zu besinnen, unerbittlich den Kopf geschüttelt, und ihre Stirn wäre zu einer einzigen drohenden Falte geworden. Und Auge in Auge hätte sie zu ihm gesprochen: »Es gibt Geschenke, Artur, die ein besserer Mensch nicht annimmt. Ich weiß, das schwerere Teil der Schuld gehört auf meinen Buckel. Hast mich wie käufliche Ware genommen, und ich habe mich nehmen lassen! Das trennt uns im Leben und im Sterben! Laß gut sein, Artur, ich will Deine Totenruhe nicht stören, aber auch Du bleibe fern meinem Wachen und Träumen.«
Mit einem festen Entschluß erhob sie sich. Ihre Züge waren straff gespannt; ihre Augen fingen von ungefähr zu leuchten an.
Sie horchte. Horchte von neuem.
Ein zages Läuten drang zu ihr.
Nein, sie konnte jetzt niemanden sehen, niemanden hören. Diese Stunde gehörte ihrer Einsamkeit.
Das Läuten wurde stärker.
Salomon, fuhr es ihr durch den Kopf.
Aber Salomon konnte unmöglich schon zurück sein. Von neuem wurde an der Klingel gedrückt, einmal, zweimal, dreimal, als sollte das Haus alarmiert werden.
Langsam schleppte sie sich zur Tür.
Draußen stand Pulvermacher mit verzerrtem Gesicht, in dem es unaufhörlich zuckte.
»Pulvermacher, was ist mit Salomon?«
In Todesangst schrie sie es heraus.
»Salomon ... Salomon,« stammelte er und blickte sie einen Moment mit einem verlorenen, irren Ausdruck an, ehe er mit bleierner Junge hinzufügte: »Salomon schickt mich zu Ihnen ... Renette ...«
Er konnte nicht weiter reden. Es schüttelte ihn. Seine Backen waren wie weggeblasen. Ganz spitz, und mager erschien er ihr.
Endlich raffte er sich auf, und wider seinen Willen plötzlich lächelnd, sagte er kaum hörbar: »Diese Renette, am offenen Grabe zusammengebrochen, und im selben Moment, exitus, tot auf der Stelle!«
»Wa–as? ... wa–as? ...« wiederholte sie, und zugleich begann es vor ihren Augen zu flimmern, zu flirren, zu funkeln, zu hüpfen, zu tanzen, zu springen, und ein Gefühl der Schwäche umfing sie.
Dabei spürte sie, wie ihre Brust sich langsam dehnte und weitete, und wie die Luft um sie dünner und dünner wurde, so daß sie kaum noch zu atmen vermochte.
Mit dem letzten Willensrest griff sie nach seiner Hand.
»Pulvermacher, lassen Sie mich allein. Es will nicht in meinen Schädel.«
Und Pulvermacher machte sich davon, ohne auch nur ein Wort zu erwidern.
Eine geraume Zeit starrte sie bewegungslos vor sich hin. Dann erst ging sie in das Zimmer zurück.
Den Kopf in die Hände gestützt, wartete sie auf Salomon.
Aber Salomon kam nicht.