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Es gab eine ungeheure Aufregung, als Agnes Jung das Salomonsche Geschäft betrat. Das ganze Personal wußte in diesem Augenblick, daß nunmehr der große Wendepunkt eingetreten sei und Artur auf der ganzen Linie gesiegt habe.
Die Verkäuferinnen blickten ihr scheelsüchtig nach und ließen giftige Bemerkungen fallen. Man begriff es einfach nicht. Aber die Herren waren anderer Meinung. Ihr Sachverständigenblick, der in einer Sekunde Agnes Jungs schlanke Gestalt prüfend überflogen hatte, fand sich vollauf befriedigt. Der junge Salomon hatte richtig gewählt. Das war eine, die jene Geheimkräfte in sich barg, mit denen man die Männer an sich zieht, um sie nicht mehr locker zu lassen.
Und während sie ihre Meinungen austauschten und dabei jene erotischen Witze sich zuflüsterten, die bei solcher Gelegenheit an der Tagesordnung sind, schritt Agnes Jung hocherhobenen Hauptes zum Kontor.
Salomon saß vor seinem Schreibtisch, in dichte Rauchwolken gehüllt.
Ohne jede Befangenheit leistete sie seiner Aufforderung, Platz zu nehmen, Folge.
Klar und unbeteiligt erschien sie ihm, ihre Augen waren kalt und sachlich auf ihn gerichtet.
»Artur hat mir mitgeteilt,« begann sie, »daß Sie mich zu sprechen wünschen. Hier bin ich.«
Salomon betrachtete sie aufmerksam. Er fühlte, daß diese Augen leuchten und brennen konnten.
»Fräulein Jung, wir wollen aufrichtig miteinander reden. Es ist uns nicht leicht geworden, Ja zu sagen. Sie werden es vielleicht begreifen, daß wir mit unserem Jungen andere Pläne hatten.«
Sie nickte zustimmend.
»Nun gut. Ich habe mich damit abgefunden. Meiner Frau ist es sauer geworden, und Sie dürfen daher nicht erstaunt sein, wenn sie Ihnen nicht sofort mit offenen Armen entgegenkommt.«
Wieder nickte Fräulein Jung.
»Nun gilt es, über gewisse Dinge Klarheit zu schaffen! Selbstverständlich müssen Sie Ihre Stellung bei Wertheim sofort aufgeben. Ich weiß, es ist mitten im Monat, aber das mache ich für Sie ab.«
Auf ihren Einwurf, daß sie ohne Arbeit nicht existieren könne, erwiderte er: »Sie werden mit der Aussteuer und der Wohnungseinrichtung reichlich zu tun haben, denn, wie ich höre, liegt ja die Absicht vor, sehr bald zu heiraten.«
Sie wollte entgegnen, daß sie es keineswegs so eilig habe, aber ein Gefühl des Taktes ließ sie rechtzeitig diese Bemerkung unterdrücken.
Salomon holte tief Atem.
»Es gibt noch manches zu besprechen,« Hub er zögernd von neuem an. »Haben Sie schon darüber nachgedacht, was für den Fall, daß Artur und Sie Kinder bekommen, geschehen soll?«
Nein, darüber habe sie sich, offen gestanden, niemals Gedanken gemacht. Es sei dies doch eine Frage, über die man zu gegebener Zeit sich unterhalten könne.
Salomon schüttelte den Kopf.
»Darüber muß unbedingt Klarheit geschaffen werden.«
»Gut,« antwortete sie, und ein boshaftes Lächeln huschte um ihren Mund. »Geraten sie schwarz, werden sie Juden, geraten sie blond, Christen.«
»Ob schwarz oder blond, gilt gleich,« erwiderte Salomon stirnrunzelnd. »Und nach dem Ponim darf die Frage nicht entschieden werden.«
Agnes Jung wurde ernst.
»Ich meine, die Hauptsache ist, daß es anständige Menschen werden.«
»Stimmt,« gab Salomon zurück. »Aber mir und meiner Frau wäre es doch eine große Beruhigung gewesen, wenn über den Punkt zwischen uns eine Einigung erzielt worden wäre.«
Er machte eine lange Pause, senkte den Kopf ein wenig auf die Schulter und dachte offenbar darüber nach, was noch zwischen ihnen zu erledigen wäre.
Agnes Jung kam ihm zuvor. »Vielleicht haben Sie auch in Erwägung gezogen, daß ich ebenfalls zu Ihrem Glauben übertreten soll?«
Salomon nickte.
»Lieb wäre es uns schon. Indessen möchte weder ich noch meine Frau in der Hinsicht einen Zwang auf Sie ausüben.«
»Schön! Dann brauchen wir über den Punkt uns nicht weiter zu unterhalten, Herr Salomon. Denn zu einem Glaubenswechsel würde ich mich nicht entschließen können. Ich bin gewiß nicht das, was man einen religiösen Menschen nennt. Aber ich bin nun einmal als Christin geboren und sehe den Grund nicht ein, weshalb ich als Jüdin sterben soll!«
Salomon machte: »Hm, hm,« und war von dieser Erklärung nichts weniger als erbaut.
»Ich könnte mir schon vorstellen,« meinte er und aus dem Ton seiner Stimme klang eine leichte Gekränktheit, »daß eine Frau um ihres Mannes willen einen solchen Schritt täte, um so mehr, wenn sie von Hause aus nicht gerade fromm ist. Aber bei Ihnen,« setzte er dann geärgert hinzu, »trifft ja meine Voraussetzung nicht zu, da Sie Artur nicht lieben.«
Agnes Jung schwieg.
Und Salomon wurde durch diese Zurückhaltung immer erbitterter. Aus Anstand hätte sie mir doch widersprechen können, dachte er, man kann doch auch aus Höflichkeit des Herzens lügen. Warum muß sie mir die Sache so sauer machen?
Sie mochte fühlen, was in ihm vorging. Und Salomon, der so breit und behäbig vor ihr saß, auf dessen Gesicht so deutlich väterliche Liebe und Sorge geschrieben stand, gefiel ihr immer besser. Sie wußte es auch zu würdigen, daß er alle zukünftigen Eventualitäten wie ein kühler Geschäftsmann behandelte, der auf Ordnung in seinen Büchern hält, damit hinterher die Bilanz stimme.
Sie war überzeugt davon, daß sie sich eines Tages verstehen würden. Trotzdem widerstrebte es ihr, auch nur das mindeste von ihrem Bekenntnis zurückzunehmen.
»Herr Salomon, hat es einen Sinn, Ihnen ein X für ein U vorzumachen? Artur und ich haben uns geeinigt, und ich habe den ehrlichen Willen, ihm eine gute Frau zu werden. Das muß Ihnen für den Augenblick genügen. Was bei diesen Vorsätzen herauskommt, kann niemand ahnen. Da heißt es eben abwarten und sich ein bißchen auf Gott und sein Glück verlassen.«
»Schön,« sagte Salomon, »mit der Antwort gebe ich mich zufrieden. Wie alle jüdischen Väter glaube ich an mein Kind, er ist nämlich noch ein Kind, und Sie werden es leicht mit ihm haben. Sie sind die Stärkere, Fräulein Jung. Mißbrauchen Sie niemals Ihre Kraft. Das ist alles, worum ich Sie bitte. Abgemacht!«
Sie legten ihre Hände ineinander. Und Salomon spürte, wie bei dem Druck ihrer schmalen, kühlen, festen Hand ein Strom durch seinen Körper ging. Und in seinem Inneren dachte er: Es ist doch etwas Wunderbares um so ein junges, blühendes Geschöpf. Auch der Blick ihres Auges erschien ihm strahlender und wärmer als zuvor.
In einer spontanen Aufwallung küßte er sie auf ihre klare, weiße Stirn. Eine leichte Röte färbte ihr eingefallenes Gesicht, und Salomon empfand, daß ein ganz eigener Liebreiz von ihr ausging. Und weil er, ohne ein Trinker zu sein, immer für einen guten Tropfen etwas übrig hatte und in seinem Kreise als ein besonderer Kenner edler Weine galt, hätte er um ein Haar gesagt: »Fräulein Jung, wollen Sie wissen, wie mir just zumute ist? Als ob aus wunderschönem Kristall der Duft von altem, edlem Burgunder mir in die Nase stiege.«
Indessen unterdrückte er noch rechtzeitig diese Bemerkung, was ihm um so leichter fiel, als Agnes Jung ihm etwas plötzlich ihre Hand entzog und ihrerseits, indem sie eine geschäftliche Miene aufsetzte, die Verhandlung wieder aufnahm: »Herr Salomon, jetzt möchte ich meine Bedingungen stellen; denn was dem einen recht ist, ist dem anderen billig.«
Salomon spitzte die Ohren.
Agnes Jung aber fuhr fort: »Ich habe bereits betont, daß ich ohne Tätigkeit nicht existieren kann. Ich möchte nicht Frau Artur Salomon werden und mich damit begnügen, die Wirtschaft zu führen. Artur hat mir erzählt, daß Sie ihn zu Ihrem Teilhaber machen würden. Ich rechne nun bestimmt damit, ebenfalls im Geschäft angestellt zu werden. Wobei ich es für selbstverständlich halte, daß mir eine größere Stellung als bei Wertheim eingeräumt und dementsprechend auch ein Gehalt zugebilligt wird. Denn jeder Mensch,« fügte sie resolut hinzu, »hat doch den Wunsch, hochzukommen und sich zu verbessern. Außerdem möchte ich nicht ganz von meinem Mann abhängig sein, sondern in der Reserve immer einen Notgroschen haben, über den ich frei verfügen kann. Es ist Ihnen gewiß nicht unbekannt, daß ich gewisse Verpflichtungen habe, die ich unter allen Umständen einhalten muß.«
Salomon hatte mit wachsender Unruhe zugehört. Widerstreitende Empfindungen kämpften in ihm. Wenn er ihren Standpunkt auch begriff so sah er doch andererseits die widrigsten Konflikte voraus. Er wußte, daß Renette außer sich geraten würde, er hörte im stillen bereits ihre Worte: »Erst hat sie mir den Jungen gestohlen, und jetzt drängt sie sich noch in das Geschäft!« Ganz gewiß würde sie es als den schwersten Eingriff in ihre Rechte betrachten und niemals eine Rivalin neben sich dulden.
Salomon versuchte nun mit aller Diplomatie, deren er fähig war, Agnes Jung bezüglich ihres Vorhabens umzustimmen. Sie müßte als Frau Salomon repräsentieren, neue Pflichten würden an sie herantreten, und mit ihrer ganzen Position würde es unvereinbar sein, wenn sie als Angestellte tätig wäre. Und darüber sei doch kein Wort zu verlieren, daß es Arturs Angelegenheit sei, für alle ihre Verpflichtungen einzustehen.
Fräulein Jung hatte ihm ruhig zugehört, dann aber entgegnete sie sehr kühl und ohne mit der Wimper zu zucken, daß sie nicht gewillt sei, in diesem Punkte nachzugeben. Sie habe sich das reiflich überlegt, und niemals würde sie den einmal gefaßten Entschluß aufgeben. Gerade das wollte sie ja vermeiden, daß ihre Mutter von ihrem Manne abhängig werde und gewissermaßen das Gnadenbrot von ihm empfange. Gott sei Dank, sie habe starke Arme und sei kerngesund, so daß sie für sich einstehen könne. Im übrigen wolle sie nicht drängen, zumal es ja noch den anderen Ausweg gebe, daß sie auch als Frau Salomon ihre Stellung bei Wertheim beibehielte. Um das Gerede der Leute habe sie sich nie gekümmert und denke es auch in Zukunft nicht zu tun.
Salomon war starr. Vor dieser Entschlossenheit und nüchternen Auffassung der Dinge bangte ihm. Zugleich erkannte er, daß hier ein unbeugsamer Wille war, gegen den anzukämpfen die reinste Kraftvergeudung gewesen wäre.
»Und wie hoch haben Sie sich denn das Gehalt gedacht?« begann er vorsichtig nach einer langen Weile.
Agnes Jung lachte aus vollem Halse.
»Nein, wie komisch das alles ist,« sagte sie. »Es sieht ja fast so aus, als ob wir beide miteinander kämpfen.«
Sie nahm Salomons Hand.
»Ich möchte mit Ihnen gut Freund sein. Ich habe von der ersten Sekunde an gewußt, daß wir uns verstehen würden.«
Es schien Salomon, als ob ihre Augen sich bei diesen Worten ein wenig geweitet und einen sonderbaren Ausdruck angenommen hätten. Alles Kühle war von ihr abgestreift, und eine sinnliche Wärme strömte zu ihm hinüber. Ihr Atem traf ihn, und der Duft ihres jungen, straffen Körpers stieg ihm in die Nase.
»Das ist alles gut und schön,« erwiderte er langsam und nach dem rechten Worte tastend, »nur weiß ich nicht, was bei Ihnen stärker ist: Herz oder Kopf. So viel habe ich jedenfalls heraus, auf das Geschäftliche verstehen Sie sich.«
Dabei lächelte er ein wenig spöttisch. Er hatte seine alte Ruhe wiedergefunden.
»Ich habe es mit der Zeit gelernt,« antwortete sie. »Gott sei Dank, ich habe es gelernt. Und eines Tages werden Sie mir Dank wissen. Und trotzdem bin ich kein Zahlenmensch. Nein, lächeln Sie nicht, Herr Salomon,« brach sie rasch und unvermittelt ab, »reden wir nicht von Gefühlen; das ist wohl das Dümmste, was man tun kann. Wir sind ja ohnehin noch nicht handelseinig geworden.«
»Stimmt, Fräulein Jung,« erwiderte Salomon und war von neuem verdutzt. In diesem Menschen war praktisches Überlegen und naives Zugreifen auf eine so seltsame Art gemischt, daß er nicht recht klug daraus zu werden vermochte.
»Und nun wollen wir zum Schluß kommen. Über die Höhe Ihrer Gehaltsforderung sind Sie sich gewiß doch längst im klaren, also bitte, wie steht's damit?«
»Sie ziehen einem die Würmer aus der Nase, Herr Salomon, und lieber wäre es mir gewesen, Sie hätten mir ein Angebot gemacht, ein recht anständiges natürlich, auf das ich sofort hätte eingehen können.«
Salomon wehrte ab.
»Das wäre gegen alle Usance. Also heraus mit der Sprache, ich bin auf alles gefaßt.«
Siebenhundertfünfzig Mark verlangte Agnes als monatliche Anfangsgage. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
»So ... so ... so ...,« murmelte er und nickte unaufhörlich mit dem Kopfe.
Er rechnete im stillen aus, daß das neuntausend Mark im Jahre machte. Renette würde in die Lüfte gehen, wenn sie es hörte. Dann zerbrach er sich den Schädel, auf welches Konto man diese horrende Summe buchen könnte, damit seine Frau nichts davon erfuhr.
Endlich sagte er: »Wissen Sie, was Fräulein Traube, die zwanzig Jahre im Hause ist und Postprokura hat, bei uns bezieht?«
Nein, Fräulein Jung wußte es nicht.
»Fünfhundert Mark,« stieß Salomon hervor.
»Das ist aber eine Schande, das ist eine wirkliche Schande!«
Ihre Miene spiegelte helle Entrüstung wieder.
»Und die Gehälter in den Warenhäusern?« fragte Salomon.
Solche Art zu argumentieren lehnte Fräulein Jung schroff ab. Wo gut verdient werde, solle man auch gut bezahlen. Man dürfe nicht vergessen, fügte sie hinzu, und nun fühlte sie sich als eine, die aus der Tiefe gekommen war, wie schwer es sei, in abhängiger Stellung zu arbeiten, beständig einen krummen Rücken zu machen und obendrein alle vier Wochen gewärtig zu sein, auf die Straße gesetzt zu werden.
»Sie sind ja die reinste Sozialdemokratin.«
Ja, sie sei Sozialdemokratin, daraus mache sie nicht den geringsten Hehl.
»Ach,« sagte Salomon, »ich habe um des Geldes willen nie gearbeitet und hätte für mein Teil nichts gegen einen gerechten Ausgleich einzuwenden.«
Agnes Jung warf den Kopf zurück.
»Das sagen alle,« entgegnete sie, »und im Grunde sind sie froh, daß sie das Geld haben und die anderen drücken können. Es ist immer die alte Geschichte.«
Salomon unterbrach sie.
»Nichts für ungut, Fräulein Jung, aber verlassen wir dies Gebiet. Die soziale Frage werden wir beide nicht lösen. Ich akzeptiere mit vierteljähriger Kündigung; denn als vorsichtiger Kaufmann muß ich mich sichern und überzeugen, ob Ihre Leistungen wirklich eine so hohe Gage rechtfertigen. Einverstanden?«
Sie stimmte zu.
»Und noch eines, Fräulein Jung: Eintritt in das Geschäft zwei Monate nach der Hochzeit. Wann soll Hochzeit sein?«
»Das hängt lediglich von Ihnen und Artur ab.«
Salomon erhob sich plötzlich. Mit einem Ruck schüttelte er alles Geschäftliche von sich. Sein Gesicht bekam etwas Leuchtendes. Mit tiefem Wohlbehagen, fast mit Zärtlichkeit sah er sie an.
»Machen Sie meinen Jungen glücklich,« sagte er, »und ich will den Tag segnen, an dem er Ihnen begegnet ist.«
Er drückte sie fest und väterlich an sich und küßte sie wieder auf ihre kühle, weiße Stirn.
Agnes Jung schlang die Arme um ihn und drückte ihre Lippen auf seinen Mund.
Als sie wieder das Kontor verließ, strahlten ihre Züge vor Selbstbewußtsein und Genugtuung. Gehobenen Hauptes schritt sie an den jungen Leuten vorbei, und ihr Blick schien auszudrücken: Kinder, bald bin ich mitten unter euch und kommandiere. Seht zu, daß wir miteinander auskommen. Mit mir läßt sich leben. Ich kenne eure Leiden und Sorgen, bin aus dem Dunkel und der Tiefe emporgestiegen und denke nicht daran, meine Herkunft zu verleugnen. Ich helfe, wie und wo ich kann. Aber Respekt fordere ich, ich bin die Herrin, und daran lasse ich nicht rühren.
Fräulein Traube war die erste, die demütig grüßte und alle jungen Herren folgten prompt ihrem Beispiel.
Agnes Jung nickte jedermann freundlich zu und machte auf. das gesamte Personal einen vorzüglichen Eindruck.
»Ich glaube, es wird gehen,« meinte Fräulein Traube. »Offen gestanden, ich hatte sie mir schlimmer vorgestellt. Und vielleicht,« fügte sie mit bissiger Schadenfreude hinzu, »wird sie die Alte etwas in Schach halten. Denn man sieht es ihr an, sie hat Haare auf den Zähnen, und wenn man sie reizt, fürchte ich, ist mit ihr nicht gut Kirschen essen. Man kann sich ja täuschen, aber in der Regel hat es mit dem ersten Eindruck seine Richtigkeit.«
Inzwischen war Agnes Jung in der Steidelschen Konditorei angelangt, wo Artur sie mit Sehnsucht und Ungeduld seit einer Stunde erwartete.
»Du hast aber lange gebraucht,« sagte er und blickte sie dabei zärtlich an.
Er hatte bereits die dritte Portion Erdbeeren mit Schlagsahne hinter sich, und während dies Gericht sonst seinem Gaumen ein Fest bereitete, war er heute nicht einmal zum Bewußtsein des Genusses gelangt.
»Also, was hast Du durchgesetzt? Erzähle! Ich kann es vor Neugier nicht mehr aushalten.«
»Gib einmal rasch Deine Backe, es sieht gerade niemand her,« sagte Agnes Jung und gab ihm einen Kuß.
Artur war selig.
»Und nun höre,« fuhr sie heiter fort, »wie gut alles abgelaufen ist. Der Papa und ich sind die besten Freunde geworden, und Du dankst es ihm,« schloß sie übermütig, »wenn Du im Kurs mächtig gestiegen bist.«
Artur hatte aufmerksam zugehört.
»Ich begreife es so gut, daß Du Papa gefallen hast. Ich habe nie daran gezweifelt, daß wir in puncto Frau den gleichen Geschmack haben.«
Sie sah ihn forschend an, ehe sie nachdenklich entgegnete: »Und doch seid ihr so verschieden voneinander wie ein Apfel und eine Birne.«
»Wie meinst Du das?«
»Es läßt sich nicht erklären. Ihr seid eben so ganz anders. Aber laß das, er gefällt mir ausgezeichnet, und ich bin quietschvergnügt, daß er dein Vater ist.«
»Was imponiert Dir so an ihm?«
»Ach, weißt Du, ich fürchte, Du wirst es nicht verstehen. Er sitzt so breit und behäbig da, er sitzt mit dem Hintern eben richtig auf seinem Stuhl ...«
»Und ich?« unterbrach sie Artur lachend.
»Ach, Artur, sitzen und sitzen ist ein großer Unterschied. Wenn Du Erdbeeren schleckst, sind der Stuhl und Du zweierlei. Aber wenn Dein Vater mit seiner ganzen Last schwer in seinen Schreibstuhl sinkt, dann ist das eben ein Ganzes.«
»Merkwürdig, wie Du mit neuen, frischen Augen ihn anschaust. Mir ist auf einmal, als ob ich immer an ihm vorbeigesehen hätte. Neugierig bin ich, was Du zu meiner Mutter sagen wirst. Sei mit ihr nett, Agnesel! Auch wenn es Dir nicht leicht fällt. Denn ganz gewiß wird sie Dir manche harte Nuß zu knacken geben. Ich habe nämlich ein bißchen Angst vor heute abend. Du brauchst nur ...«
Sie ließ ihn nicht zu Ende reden.
»Ich bitte Dich, studiere mir keine Rolle ein. Das liegt mir absolut nicht!«
»So meinte ich es ja nicht,« lenkte Artur ein. »Agnesel, sei doch nicht immer gleich so schroff. Bei jedem Wort, das ich rede, habe ich Angst, eine Dusche von Dir zu bekommen.«
Sie nahm seine Hand.
»Du mußt Dich an meine Art gewöhnen, ich haue leicht über die Stränge, es ist aber nie so böse gemeint.«
»Ich weiß es, und Du sollst sehen,« fügte er weich hinzu, »daß Du es nie bereuen wirst.«
Sie nickte, und Salomons Worte fielen ihr ein: »Sie sind die Stärkere.« Auch darin hatte er recht. Es würde ihr ein leichtes sein, Artur zu lenken.
Sie seufzte in sich hinein. Ihr Wunsch war es gewesen, einen Mann zu heiraten, zu dem sie hätte emporblicken können, und sie hätte sich mit Freuden von seiner starken Hand führen und ihren aufbegehrenden Willen beugen lassen. Bobsins Härte hatte sie angezogen. Aber auch einem Manne von der Art des alten Salomon, klar, ruhig und fest, dabei gütig und von überlegenem Humor, hätte sie sich widerstandslos unterworfen.
Das Schicksal hatte es anders gewollt, und mit Artur würde sich leben lassen. Nein, sie wollte ihn nicht quälen, ihre Überlegenheit ihn niemals spüren lassen. Ein guter Kamerad wollte sie ihm sein. Das war ihr redlicher Vorsatz.
Sie machte eine kurze Bewegung, als müßte sie mit all diesen Dingen ein für alle Male fertig werden.
»Komm,« sagte sie, »es ist die höchste Zeit. Meine Mutter muß Dich doch auch noch kennen lernen, bevor wir heute abend offiziell Verlobung feiern.«
Man nahm einen Wagen und fuhr in die Seydelstraße.
In einer Hinterwohnung des vierten Stockwerkes, in die nie ein wärmender Sonnenstrahl zu dringen schien, hauste Agnes Jung mit ihrer Mutter. Man hatte ein Zimmer, eine Kammer und die Küche.
Frau Jung saß am Küchentisch und trank gerade ihren Kaffee. Sie hatte sich eine blaue Schürze vorgebunden und schien von Arturs Besuch völlig überrascht. Sie war eine kleine, dürftige, verkümmerte Frau mit lebhaften Augen und früh ergrauten Haaren.
Ohne von der Verlegenheit der Mutter Notiz zu nehmen, stellte Agnes Jung vor: »Das ist mein Bräutigam Artur Salomon.«
Artur streckte ihr mit leutseliger Herzlichkeit seine Rechte entgegen, in die Frau Jung zögernd einschlug, nachdem sie vorher ihre Hände an der blauen Schürze abgewischt hatte.
»So, Kinder, ich lass' Euch jetzt allein und zieh' mich um; und nachher, Mutter, mußt Du Dich auch fein machen, denn heut abend sind wir zu Salomons geladen.«
Damit verschwand Agnes in ihre Kammer, und Frau Jung führte Artur in das gute Zimmer, das zugleich Wohn- und Schlafgemach für Mutter und Tochter war.
»Ein bißchen eng ist es bei uns, aber dafür hübsch gemütlich! Und nun, bitte, nehmen Sie Platz und lassen Sie sich anschauen.«
Artur folgte ihrer Aufforderung, und Frau Jung, die sich ihm gegenüber gesetzt und die Hände in den Schoß gelegt hatte, betrachtete ihn aufmerksam.
»So also sehen Sie aus! Sein Sie nur auf der Hut, daß das Mädel Sie nicht unterkriegt, leicht werden Sie es nicht mit ihr haben, denn sie ist ein Dickschädel und hat ihren eigenen Willen.«
»Liebe Frau Jung,« entgegnete er übermütig, »wenn Sie es mit ihr so lange ausgehalten haben, wird es mit mir, denke ich, auch eine Weile gehen.«
»Wollen's abwarten,« erwiderte sie sachlich. »Schwierig ist meine Agnes, darüber wollen wir uns nicht täuschen.«
Sie rückte ihren Stuhl etwas näher, warf einen flüchtigen Blick auf die Tür, hinter der Agnes verschwunden war, und fuhr leise fort: »Wissen Sie, Herr Salomon, die hat mir von Kindesbeinen an mit ihrem Eigensinn das Leben sauer gemacht, ich habe immer klein beigegeben und zuletzt getan, was sie wollte. Mein Gott, ich bin alt und will meine Ruhe haben, und so sind wir leidlich miteinander ausgekommen. Böse ist sie gerade nicht, ne, ne, das kann ich nicht sagen, aber verheiratet möchte ich nicht mit ihr sein!«
Artur lachte aus vollem Halse. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Machte vor dem Bräutigam die eigene Tochter schlecht. Nein, berechnend waren die Jungs nicht. Das war das letzte, was man von ihnen behaupten konnte.
»Sie sind ja bis über die Ohren verliebt, Sie sehen und hören nichts. Aber glauben Sie mir, die braucht eine strenge Hand. Kennen Sie eigentlich den Bobsin?« unterbrach sie sich plötzlich.
Artur nickte.
Er war auf das peinlichste berührt.
»Was meinen Sie, hat sie sich nach dem die Hacken abgelaufen und je miserabler er sie behandelt hat, um so wilder wurde sie. Sie sind viel zu fein für sie. Auf den ersten Blick habe ich das gesehen.«
»Man kann es auch mit der Güte machen,« entgegnete er. »Und wissen Sie, Frau Jung, Eltern glauben immer ihre Kinder zu kennen und haben keine Ahnung von ihnen, ebenso wenig wie die Kinder von den Eltern. Es liegt eben eine Generation zwischen ihnen. Junge Leute verstehen sich ganz anders. Und das ist gut so, sonst gäbe es ja keine Entwicklung und kein Vorwärts.«
»Ach, lehren Sie mich Agnes kennen! Die geht mit dem Kopf durch die Wand, wenn es sein muß, und kümmert sich nicht um Gott und den Teufel.«
In diesem Augenblick trat Fräulein Jung ein. Sie trug einen glatten Rock aus englischem Tuch, dazu eine helle, seidene Bluse.
»Wie apart Du aussiehst,« sagte Artur bewundernd.
Und Agnes Jung: »Wenn ich mir einen Topf aufsetzte, ich glaube, Du fändest mich auch bildschön.«
»Ganz gewiß,« entgegnete Artur, »auch das müßte Dir reizend zu Gesicht stehen!«
»Laß gut sein!« Und ablenkend: »Nun, hat Mutter gehörig auf mich geschimpft?«
»Ich habe die Zeit nach Kräften ausgenutzt,« schnappte Frau Jung ein. »Da ist nichts zu machen, der ist vernarrt in Dich.«
Artur war perplex, aber Agnes ließ ihm keine Zeit, sich zu äußern.
»Das war meine Absicht. Mutter sollte Dir ein paar Kübel über den heißen Kopf gießen, damit Du nüchtern wirst. Ich merke, sie hat es besorgt. Du kannst ihr auf's Wort glauben, denn wer sollte mich so gut kennen wie sie!«
Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Jetzt ist es halb sieben. Um acht sollen wir bei Deinen Eltern sein. Überlege es Dir gründlich, Du hast noch anderthalb Stunden Zeit!«
Er küßte sie statt aller Antwort.
»Ich habe Dich von Tag zu Tag lieber. So wie Du bist, sollst Du bleiben: ein aufrechter, gerader Mensch.«
»Weißt Du denn, wie ich innerlich aussehe? Vielleicht bin ich ganz, ganz anders, als Du es Dir vorstellst. Und eines Tages fällt es Dir wie Schuppen von den Augen. Und dann hast Du mich auf dem Halse. Eines indessen verspreche ich Dir in Gegenwart von Mutter und das mag Dir eine kleine Beruhigung sein, sobald Du mich über hast und mich los werden willst, brauchst Du es nur zu sagen und ich packe, meine sieben Sachen. Und Du, Mutter, ziehst Dich jetzt schleunigst an, damit wir nicht auf Dich zu warten brauchen.«
»Ach, weißt Du,« erwiderte Frau Jung, »laßt mich man lieber zu Hause. Was soll ich unter all den feinen Leuten?«
»Erstens sind wir gar nicht so fein, wie Sie etwa annehmen, Frau Jung, und dann, was würden meine Eltern für Gesichter machen, wenn Sie bei unserer Verlobung fehlten? Es sind nur ein paar Leute da und es wird, denke ich, gar nicht steif und feierlich zugehen.«
»Selbstverständlich geht sie mit,« sagte Agnes. »So eine Gelegenheit, über andere Leute herzufallen, läßt sie sich nicht entgehen, sie hat nämlich das böseste Mundwerk von der Welt.«
Artur fand dies alles charmant und eigenartig. Das waren Gott sei Dank endlich einmal Menschen, die so redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, und einem keine alberne Komödie vorspielten.
»Warum,« fragte Agnes, als Frau Jung verschwunden war, »bestand ich darauf, Mutter mitzunehmen und Dich vor der offiziellen Verlobung mit ihr bekannt zu machen?« Und ohne seine Antwort abzuwarten: »Glaube nicht, daß mich sentimentale Gründe dabei geleitet haben. O nein! Ich wollte Euch die ganze Bescherung vor Augen führen, damit Ihr hinterher mir nicht vorwerfen könnt, ich hätte Euch über den Löffel barbiert.«
»Aber, Agnes!«
»Geht das Geschäft gut,« fuhr sie unbeirrt fort, »vertragen sich die Kompagnons. Wenn aber die Pleite vor der Tür steht, hat die Freundschaft ein Ende. Jetzt bist Du verliebt in mich und findest alles an mir wunderschön. Eines Tages jedoch könntest Du erwachen und Dir sagen: welch ein Esel bin ich gewesen! Und für den Fall will ich gewappnet sein. Kannst es mir glauben, Mutter ist ein harter Bissen, sie haßt alle Menschen, denen es besser geht als ihr. Und ich bin ihr ein Dorn im Auge, weil ich höher hinaus wollte und ihrer Meinung nach im Leben es leichter hatte als sie. So, nun bist Du zum letzten Male gewarnt. Nun lauf' in Dein Unglück!«
»Hast Du jemals so zu Bobsin gesprochen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Der Fall liegt doch total anders. Du weißt es ja. Aber davon ganz abgesehen: Bobsin kommt aus der Tiefe wie ich, der kennt unsereinen wie seinesgleichen und brauchte keine Warnung. Und Bobsin ist hart wie Holz, klar und nüchtern. Du aber bist weich und biegsam und tust Dir obendrein noch eine Binde vor die Augen, damit Du nur ja die Dinge nicht siehst, wie sie in Wirklichkeit sind. Vielleicht hat mich das bisher an Dir verdrossen. Nun dämmert es mir langsam: am Ende ist gerade das Deine Stärke, das Beste und Wertvolle an Dir. Ich weiß es nicht. Ich bin eben ganz anders als Du.«
»Darum liebe ich Dich ja. Es wäre entsetzlich, wenn sich immer gleich zu gleich gesellen wollte. Immer werde ich Dich sehen wie heute. Und wenn ich, wie Du meinst, geblendet bin und meine fünf Sinne nicht beieinander habe – denn darauf läuft es ja im Grunde hinaus –, so will ich Gott von Herzen bitten: mach' mich nur nicht sehend und laß es bei meiner Torheit bewenden. Denn was nützen mir Auge und Verstand, wenn sie mich elend machen!«
Agnes Jung hatte ihm aufmerksam zugehört.
»Dir ist nicht zu raten und zu helfen,« sagte sie und seufzte leise, »also rate und hilf Dir selber. – Im übrigen, wo steckt Mutter? Es ist die höchste Eisenbahn, wenn wir nicht zu spät kommen wollen!«
Wie auf ein Stichwort trat Frau Jung in die Tür. Agnes lachte laut auf. Eine boshafte Bemerkung lag ihr auf der Zunge. Aber ein bittender Blick Arturs machte sie verstummen.