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Als Agnes Salomon nach geraumer Zeit an der Tür des Kontors klopfte, wartete sie vergebens auf eine Antwort. Sie drückte die Klinke herunter, die Tür war verschlossen.
Die Angst stieg ihr zum Herzen. Gleich beim Eintritt Tante Bertas hatte sie ein unbehagliches Gefühl gehabt, hatte sie nichts Gutes geahnt.
Und jetzt war Salomon verschwunden, hatte das Geschäft verlassen, ohne sich, wie es in seiner Gewohnheit lag, von ihr verabschiedet zu haben!
Was war geschehen?
Sie zweifelte keinen Augenblick, daß es mit der Schwiegermutter zusammenhing.
Sie suchte ihren Mann auf.
»Hast Du Papa gesehen?« fragte sie ihn. Und erklärend fügte sie hinzu: »Das Büro ist nämlich verschlossen.«
Artur schüttelte verwundert den Kopf.
»Tante Berta ist bei ihm gewesen, irgend etwas ist passiert. Und natürlich kommt es von Deiner Mutter. Sie gibt ja keine Ruhe.«
Da Artur schwieg, sagte sie in nervösem Ton: »Du redest ja gar nichts!«
»Was soll ich reden? Ändern kann ich ja doch nichts. Ob man will oder nicht, man muß sich damit abfinden.«
»Muß man ...?«
»Ja.«
»Und warum muß man?«
»Weil man machtlos ist, und mit dem Kopf nicht durch die Wand kann.«
Sie fixierte ihn einen Moment.
»Ich glaube, Du bist ein geschworener Feind jedes Kampfes, läßt Dir lieber die Hände abhacken, ehe Du Dich in einen Konflikt einläßt.«
»Die Hände abhacken ist ein bißchen viel gesagt, aber eine kriegerische Natur bin ich gewiß nicht.«
»Sei nicht böse. Ich bin manchmal so schrecklich gereizt, daß ich ungerecht werde. Ich weiß es. Man denkt: endlich wird man seinen Frieden haben, und immer wieder sieht man sich getäuscht. Es ist zum Verzweifeln!«
»Ich leide auch darunter, Agnes, und mehr als Du denkst!«
»Weil Du im Stillen zu ihr hältst? Selbstverständlich wirst Du es ihr gegenüber niemals zugeben, und doch ist es so, kann auch nicht anders sein. Du bist zu sehr Jude, um eine reinliche Scheidung machen zu können, um klar und deutlich ...«
»Weißt Du,« unterbrach er sie gereizt, »zuweilen kannst Du einen so peinigen, daß man bei aller seiner Geduld ...«
»Ach, Artur, mißverstehe mich doch nicht. Natürlich wolltest Du mich um jeden Preis haben, hättest Dich im Notfall auch mit Deiner Mutter überworfen. Ich zweifle nicht daran. Aber hinterher wäre es Dir leid geworden. Ihr könnt eben nicht aus Eurer Haut. Ihr klebt an der Familie. Seid durch tausend Fäden aneinander geknüpft und kommt nicht los.«
»Ja, wie denkst Du Dir denn das? Soll ich die Mutter im Herzen totschlagen? Soll ich vergessen, daß jeder Atemzug von ihr mir gehört hat?«
Agnes Salomon schüttelte den Kopf.
»Nichts sollst Du vergessen. Du kannst es auch nicht. Das ist es gerade, was ich behauptete.«
Artur wurde blaß.
»Meinst Du, ich höre nicht heraus, daß Du mich deswegen für einen Schwächling, um nicht zu sagen, für einen Feigling hältst?«
Sie wehrte heftig ab. »Ich halte Dich in diesem Punkte lediglich für einen Volljuden!«
»Das heißt, für einen Menschen zweiter Klasse.«
»O nein, ich sehe nur scharf die Unterschiede zwischen Euch und uns.«
»Und Du würdest an meiner Stelle anders handeln?«
»O ja!« erwiderte sie, und ihre Augen weiteten sich, »ohne Besinnen würde ich anders handeln, ohne mit der Wimper zu zucken! Es imponiert mir an Deiner Mutter, wie sie Euch festhält. Euch knebelt. Ich würde rasen, wenn ein Mensch mir gegenüber das wagte.«
»Du bist eben aus anderem Holze, bist so stark, Agnesel, daß man sich vor Dir fürchten könnte, wüßte man nicht, daß hinter aller Stärke ein sauberer, guter Mensch steht.«
»Laß das, Artur, ich bin gegen das Abtaxieren, die Taxen stimmen mitunter nicht. Im übrigen habe ich keinen Vorwurf gegen Dich erheben wollen. Wie käme ich dazu? Nur die Tatsache habe ich festgestellt. Ach, ihr seid so furchtbar empfindlich und mißtrauisch. Behaupte ich denn, daß wir Euch gegenüber im Recht sind? Ich sage nur: es ist so. Bei Euch kommen erst die Kinder, dann die Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, dann eine Weile gar nichts, und zuletzt die Frau.«
»Ach, Kind, wenn Du wüßtest, wie falsch und verkehrt das alles ist!«
»Pardon, ich sage nicht, daß ihr Eure Frauen schlecht behandelt, das wäre ja Irrsinn. Im Gegenteil, man kann nicht rücksichtsvoller, gütiger und zarter sein als ihr! Ach, Artur, wir werden uns darüber doch nicht einigen, es ist eine Sache des Bluts.«
»Nein, es ist eine Sache des Vorurteils, und das ist es, was mich dabei so reizt und bis zu einem gewissen Grade erbittert. Nun kennst Du Vater und mich eine gute Weile, und redest solch unsinniges Zeug!«
»Eben, weil ich Euch kenne.«
Sie hätte hinzufügen mögen: »Und weil ich tagtäglich sehe, wie Dein Vater sich quälen und drangsalieren läßt, ohne mit beiden Fäusten dazwischenzuschlagen.«
Statt dessen aber kniff sie die Lippen hart zusammen und schwieg.
Während dieses Gesprächs hatte sich Salomon auf den Heimweg gemacht.
Er spürte einen üblen Geschmack auf der Zunge und haderte mit sich selbst.
Warum hatte er sich so hinreißen lassen? Warum hatte er seine letzten Gedanken ausgesprochen!
Und Salomon erschrak vor sich selbst, weil er bislang nicht gewußt hatte, was für furchtbare Dinge unter der Schwelle seines Bewußtseins wucherten.
Wie in der Finsternis war er dahingeschritten. Er hatte die Augen geschlossen, um nicht sehen zu müssen, und nun waren sie ihm gewaltsam geöffnet worden.
Was er Renette vorgeworfen, hatte er selbst getan: einem Dritten sich offenbart.
Salomon, Salomon, was ist aus dir geworden!
Es war natürlich blanker Unsinn, und er dachte gar nicht daran, sie in ihrem Unglück allein zu lassen.
Aber daß er so etwas überhaupt hatte aussprechen können, bewies doch, wie weit er sich von ihr entfernt hatte.
Er kam sich auf einmal so gütelos vor, und seine Unruhe wuchs.
Renette war die bescheidenste Seele gewesen, hatte nie für sich etwas beansprucht, immer nur er und der Junge.
Und wenn sie jeden Groschen dreimal umdrehte, bevor sie ihn ausgab, wenn ihre Sparsamkeit mit den Jahren fast in krankhaften Geiz ausgeartet war, für die beiden Salomons war ihr nichts zu gut und nichts zu teuer gewesen.
Und er erinnerte sich plötzlich an so viel kleine Züge von ihr, die teils rührend, teils komisch waren.
Schöne Worte machen kann jeder, flüsterte er sich leise zu. Es kommt darauf an, zu handeln, einem Menschen in seiner Not beizustehen. Es ist kein Kunststück, in guten Tagen zusammenzuhalten. Jetzt beweise, Salomon, daß du ein anständiger Kerl bist.
Er seufzte tief auf. Ganz klar, daß etwas bei mir nicht stimmt, dachte er, denn sonst wäre all das unmöglich gewesen.
Man kann nicht aus Vernunft gütig sein. Man ist es, oder man ist es nicht.
»Nehmen Sie sich doch in acht und rennen Sie die Leute nicht um!« rief ihm plötzlich jemand zu.
Salomon lachte laut auf, und der Angerempelte, der sich obendrein noch verhöhnt glaubte, fiel mit einer Flut von Schimpfworten über ihn her.
»Sie irren,« sagte Salomon, »ich denke nicht daran, Sie zu beleidigen, im Gegenteil, Sie haben mir, ohne es zu wissen, die Augen geöffnet. Ich bin Ihnen zu Dank verbunden. Gestatten Sie?«
Und er zog sein Zigarren-Etui hervor und reichte es dem armen Teufel.
»Bitte bedienen Sie sich ordentlich!«
»In Gottes Namen! Aber eine Schraube ist doch bei Ihnen los!«
»Ganz recht, Verehrter, eine Schraube ist bei mir los,« erwiderte Salomon und ging weiter.
Weshalb hatte er gelacht?
»Rennen Sie die Leute nicht um,« hatte der Mensch gesagt, und er selbst war umgerannt worden, stand nicht mehr auf seinen beiden Füßen.
Was sollte geschehen?
Gab es eine Rettung?
War es vielleicht doch möglich, die beiden Frauen zusammenzubringen?
Ausgeschlossen!
Die beiden waren zu ähnlich, oder zu verschieden voneinander, es lief ja auf das nämliche hinaus, um sich zu begreifen.
Also mußt du in den sauren Apfel beißen, mußt du das Opfer bringen, Salomon!
Zieh' mit ihr fort, damit sie von dem Anblick der Schwiegertochter befreit ist, sei ständig um sie, betreue sie, laß sie nicht aus den Augen.
Man ist nicht in die Welt gestellt, seiner Lust und seiner Annehmlichkeit wegen.
Salomon stöhnte. Ich kann nicht, ich halte es nicht aus. Wieviel Jahre hatte er noch?
Wenn er von den Kindern ging und mit ihr in die Einsamkeit flüchtete, so war das Leben zu Ende, so konnte er sich ebensogut einsargen lassen. In dieser Atmosphäre der Verbitterung und Freudlosigkeit vermochte er nicht zu atmen.
Und würde es denn etwas nützen?
Er konnte ihren Haß nicht auslöschen, der wie ein böses Geschwür in ihrem Körper saß, immer weiter um sich fraß, in alle Gewebe eindrang, bis schließlich der ganze Organismus zerstört war. – – –'
Salomon kam um eine gute Stunde früher nach Haus, als es sonst in seiner Gewohnheit lag.
Renette riß die Augen auf, aber keine Frage kam über ihre Lippen.
Sie saß bei Tisch stumm neben ihm und ärgerte sich, daß er das Essen kaum berührte.
Endlich raffte er sich auf und sagte zögernd: »Wie wäre es, wenn wir für ein paar Wochen verreisten? Ich muß eine Weile ausspannen, und auch Dir, sollte ich meinen, täte eine Luftveränderung gut.«
»Was hast Du, Salomon?« fragte sie und sah ihn kummervoll dabei an.
»Was soll ich haben? Müde bin ich und ein wenig überarbeitet.«
»Und wohin willst Du denn fahren?«
»Ist mir einerlei! Nur raus will ich, am liebsten noch heute, wenn es geht!«
»Warum soll es nicht gehen, gepackt ist in einer Stunde!«
»Gut, um fünf Uhr fahren wir nach Dresden, um Acht sind wir da, Zimmer bestelle ich telephonisch.«
Und, ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er in sein Zimmer.
Sie blickte ihm verdutzt nach.
Was war denn in ihn gefahren? Es lag doch sonst nicht in seiner Art, im Handumdrehen Entschlüsse zu fassen. Oder fehlte ihm wirklich etwas?
Sollte sie Pulvermacher anrufen?
Sie ging an die Tür des Herrenzimmers und lauschte. Keinen Ton vernahm sie.
Und plötzlich wußte sie, daß er es ihretwegen tat.
Ihr umdüstertes Gesicht hellte sich einen flüchtigen Moment auf.
Ich weiß ja, daß er herzensgut ist, schluchzte sie vor sich hin. Er möchte mir helfen! Ach, Salomon, vergebliche Liebesmühe!
Sie war bereits im Begriff, die Tür zu öffnen und ihm zuzurufen: Reise allein, Salomon, und erhole Dich gut, es hat keinen Zweck, wenn ich mitfahre, aber eine Stimme hielt sie zurück: Tue es nicht, sonst verlierst du ihn für immer.
Träge schleppte sie sich zur Küche und befahl dem Mädchen, den großen Lederkoffer vom Boden zu holen.
Salomon setzte sich inzwischen an seinen Schreibtisch, nahm umständlich einen Bogen aus der Lade und schrieb:
Liebe Kinder!
Erschreckt nicht, wenn Ihr diese Zeilen erhaltet. Ich muß mit Mutter auf ein paar Wochen fort. Grübelt nicht darüber nach, es ist eine ganz einfache Geschichte. Tante Berta hat es mir nahegelegt, und ich fand, daß sie recht hatte. Das ist alles. Ich bin kein Freund von Abschiednehmen, man wird dabei so traurig, und ich bin ohnehin in keiner rosigen Stimmung. Aber das geht vorüber. Es ist einmal nicht anders, alte Leute haben ihre Mucken. Lebt wohl, meine geliebten Kinder, ich freue mich heute schon auf das Wiedersehen. Schreiben wollen wir uns während der kurzen Zeit nicht, aus mancherlei Gründen möchte ich es so halten. Tausend Grüße
PS. Den Schlüssel zum Kontor lege ich bei. Ich gehe mit dem Gefühl, daß ich im Geschäft entbehrlich bin. – – –
Als Agnes Salomon diesen Brief las, zuckte es über ihr Gesicht.
»Da siehst Du nun, wer recht hat,« sagte sie zu ihrem Mann. »Diese alte Scharteke haben sie ihm auf den Hals gehetzt und ihn so weit gebracht. Gern ist er nicht abgereist, das liest man aus jedem Worte. Man könnte heulen, wie sie ihm zugesetzt haben. Und Tante Berta ist für mich erledigt. Die hatte mir gerade noch gefehlt!«
Sie ließ Artur wie einen begossenen Pudel stehen und fegte durch die Lager. Wer ihr in den Weg lief, konnte sich auf etwas gefaßt machen.
»Was hat sie denn nur heute?« fragte Herr Trübsand Fräulein Traube, »der Teufel ist ja in sie gefahren, sie faucht und schnauzt, daß die Leute Angst bekommen.«
»Was sie hat?«
Fräulein Traube lächelte indiskret.
»Trübsand, Sie sind ein Kind! Merken Sie denn nicht, daß ihr der Alte an allen Ecken und Enden fehlt?«
»Sie sind ein Lästermaul, Fräulein Traube, und nichts ist Ihnen heilig.«
»Im Gegenteil, Herr Trübsand, das Heiligste auf Erden ist mir die Ehe, wer daran rührt, hat bei mir verspielt.«
»Ja, um Gottes willen! Behaupten Sie etwa ...«
»Gar nichts behaupte ich, ich halte nur meine Augen offen. Mich wird es eines Tages nicht überraschen, wenn gewisse Dinge sich ereignen!«
»Was für Dinge denn, Fräulein Traube? Man kennt sich ja nicht mehr aus bei Ihren dunklen Andeutungen.«
»Dann bedaure ich, Herr Trübsand, ich glaubte bereits überdeutlich geworden zu sein. Übrigens machen Sie sich schleunigst davon, ich sehe sie bereits wieder auftauchen.«
Herr Trübsand verkroch sich so rasch er konnte, aber doch nicht rasch genug, denn Agnes Salomon hatte ihn bereits entdeckt und steuerte schnurstracks auf ihn los.
»Wo stecken Sie denn?« sagte sie ärgerlich, »ich suche Sie ja schon seit einer Ewigkeit! Wenn Sie mit Fräulein Traube klatschen wollen, so tun Sie das bitte außerhalb der Geschäftsstunden.«
Trübsand wurde überrot.
»Verzeihung, Frau Salomon, es liegt nicht in meiner Art, zu klatschen,« entgegnete er pikiert.
»Na, dann tun Sie gefälligst nicht mit, wenn Fräulein Traube Sie dazu animiert. Ich liebe das nicht,« brach sie kurz ab. »Und jetzt wollen Sie mir bitte die letzten Fakturen von Wadler & Co. heraussuchen; ich kann sie nirgends finden.«
Trübsand machte sich eiligst davon. Donnerwetter, was hat die für einen Blick, dachte er, mit ihren kleinen Ohren hört sie das Gras wachsen. Fräulein Traube kann sich gratulieren.
Agnes Salomon ging in das Kontor und stützte schwer die Ellbogen auf Salomons Schreibtisch. Dann zog sie seinen Brief aus der Tasche hervor und las ihn noch einmal, Wort für Wort. Das ist Salomon, wie er im Buche steht, wahrhaftig und gütig.
Und dies Schreiben ließ in seiner Lauterkeit eine leichte Rührung in ihr aufkommen.
Er konnte nicht anders. Und sauer genug ist es ihm geworden.
Hinter jedem Worte glaubte sie einen Gruß für sich zu entdecken. Er reist ab und freut sich bereits auf das Wiedersehen, sie fand diese Wendung besonders hübsch.
Auch sie wollte sich auf seine Heimkehr freuen, wie ein König sollte er empfangen werden. Denn Salomon war königlich, er machte seinem großen Ahnherrn Ehre, war weise, gütig und gerecht.
Sie erschrak plötzlich, sie glaubte vor der Tür ein Geräusch vernommen zu haben. Sie öffnete, aber niemand stand draußen.
Was sind das für Torheiten, oder streiken meine Nerven, höre ich Stimmen?!
Sie hielt sich die Hände vor die Augen. Salomon, ich will dich königlich empfangen, das Haus soll von den feinsten Kuchendüften durchzogen sein, der Mohn- und Rührnapf, die Schnecken und die Nußhörnchen, an denen du dich besonders delektierst, sollen dir beim Willkommen vom Tische entgegenprangen! Und meine Arme will ich weit öffnen, ich will mich ganz dir öffnen!
Ihre Züge verdüsterten sich. Wünsche, hoffnungslose Wünsche, gefährlich mit ihnen zu spielen, und weshalb darf ich ihn in meinen Gedanken wenigstens nicht an mich ziehen? Mit aller Kraft seinen Körper an den meinen drücken? Ihn durchdringen, erfüllen, in Rausch versetzen, aus seinem dumpfen Dahinvegetieren wecken, zum Bewußtsein seiner Stärke bringen?
O, sie hatte einen solchen Überschuß an Kräften und Säften und wollte so über alle Maßen verschwenderisch sein, daß ihm Hören und Sehen vor Seligkeit schwinden sollten. Ganz in Gefühl wollte sie ihn auflösen, ihn trunken machen, daß er beim Erwachen einen Begriff vom Dasein hatte und neuen Durst empfand.
Was wußte Salomon von den Quellen des Lebens!
Und jetzt wurde tatsächlich die Tür geöffnet, und Artur trat ein.
Sie sprang ihm entgegen und umhalste ihn leidenschaftlich.
»Agnesel, ich ersticke ...!«
Sie hörte ihn nicht. Sah nicht, wie der arme Mensch unter ihrem mächtigen Trieb zu vergehen drohte, wie er totenblaß sich zusammenraffte um ihr seine Schwäche zu verbergen.
Sie schloß die Augen und küßte ihn unablässig mit aller Feindseligkeit und Inbrunst.
Als sie endlich ihre Arme lockerte und die Lider wieder öffnete, zitterte er buchstäblich und mühte sich, obendrein zu lächeln.
Seine Lippen waren blutleer. Er schnappte nach Luft und hatte dabei das Empfinden, als ob er sich im Kreise drehte.
Ein Entsetzen kam über sie.
Sie brachte ihn trotz seines Sträubens auf Salomons Stuhl und hielt ihm das Glas an den Mund.
»Es ist schon wieder gut,« sagte er in einem Tone, der wie eine Entschuldigung klang, »einen Augenblick schwindelte mir, gib mir Deine Hand, Agnesel. Was war das nur? Eine Sekunde hatte ich eine entsetzliche Leere im Hirn!«
Sie streichelte wortlos seine Stirn, über die der Schweiß perlte, und fuhr durch sein dünnes Haar.
Er tat ihr bitter leid, es war zum Heulen!
Sein Lächeln hatte sich verflüchtigt, war einer großen Traurigkeit gewichen.
»Was hast Du, Artur?«
»Nichts, nichts,« entgegnete er leise, »ich schäme mich vor Dir!«
Da fing sie plötzlich zu weinen an.
»Sag' das nicht, um Gottes willen, sag' das nicht!«
Trotz ihrem Widerspruch erhob er sich und blickte sie tiefernst an.
»Sei gut mit mir, Agnesel, Du wirst mich nicht lange haben,« brachte er endlich stockend hervor.
Ganz behutsam küßte sie ihn.
»Sprich nicht solch dummes Zeug, und jetzt wollen wir nach Hause gehen.«
»Kannst es mir glauben,« beharrte er eigensinnig. »Immer wieder kommt mir der Gedanke, daß ich früh sterben muß.«
»Artur, liebster Artur.«
»Du küßt mich, wie ich mir immer wünschte, von Dir geküßt zu werden, und ich versinke vor Schwäche! Ist das nicht grotesk?«
Er lachte dünn auf und ließ den Kopf auf die Schulter fallen.