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XIX.

Als Artur erwachte, war es stockfinster. Mit weitgeöffneten Augen blickte er eine Weile in das Dunkel der Nacht. Er stöhnte leise. Der Kopf tat ihm weh, und als er ihn ein wenig zu heben suchte, fühlte er einen dumpfen Schmerz. Der ist schwer wie eine bleierne Kugel, dachte er, und sein Gesicht verzog sich zu einem trüben Lächeln, aber gleich darauf spürte er ein Ziehen in allen Gliedern und eine Mattigkeit, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Was ist mir? Fiebre ich? Bin ich krank?

Er lauschte in tiefer Angst und vernahm, wie Agnes' Brust sich hob und senkte, und wie sie in regelmäßigen Abständen den Atem von sich gab.

Er richtete sich mühsam auf und drehte die elektrische Nachtlampe an. Der Schein des Lichtes fiel auf ihr Gesicht, das ihm in dieser Stunde kummervoll und vergrämt erschien.

»Daran bin ich schuld, ich allein,« murmelte er und erschrak vor dem Klange seiner Stimme. Er hatte plötzlich den Drang, seine eigenen Züge zu sehen.

Mit äußerster Anstrengung verließ er das Bett und taumelte zu Agnes' Toilettentisch. Auch hier drehte er die Flammen an und betrachtete sich aufmerksam. Das Bild im Spiegel peinigte ihn.

»Wie sehe ich denn aus? Bin ich das wirklich?« flüsterte er und fing unversehens zu weinen an. Und ohne es zu wissen, rief er in jammervollem Tone mehrere Male: »Agnesel ... Agnesel ...«

Die junge Frau Salomon erwachte, und wie sie ihn frierend, nur mit dem Nachthemd bekleidet, dasitzen und unentwegt in den Spiegel starren sah, hatte er etwas so schauerlich Komisches an sich, daß sie wider ihren Willen kaum hörbar nach innen lachte. Das Lachen verging ihr, als sein verstörter Blick sie traf.

»Um Gottes willen, was treibst Du?«

Artur senkte den Kopf. Er vermochte nicht zu antworten.

Sie war im Nu bei ihm, bettete ihn neben sich, und da er im Fieberfroste sich schüttelte, zog sie die Decke über seinen Hals.

Er sah sie demütig an und ließ alles demütig mit sich geschehen. So elend er sich fühlte, kein Wort kam aus seinem Munde, nur ihre Hand hielt er umklammert. Und gerade seine dumpfe Ergebenheit bedrückte und ängstigte sie mehr als alles andere.

Sie lockerte vorsichtig seine Hand.

»Arturdl, bleib' einen Augenblick ruhig,« bat sie, »ich will nur Pulvermacher ...«

Er ließ sie nicht weiter reden.

»Über meine Schwelle kommt der nicht,« unterbrach er sie heftig, »solange ich mich rühren kann, wenigstens nicht,« setzte er hinzu, und seine Stimme war auf einmal feindselig, hart und trocken.

»Niemand wird Dir Pulvermacher aufzwingen,« antwortete sie begütigend, »aber laß mich zu Deiner und zu meiner Beruhigung einen andern Arzt rufen.«

»Nicht jetzt, nicht jetzt,« wehrte er ab und schmiegte sich wie ein hilfsbedürftiges Kind von neuem an sie. Und nach einer kleinen Weile: »Mir wird schon besser, wenn ich Dich nur fühle, nicht die Hand wegziehen, laß mir Deine Hand, wer weiß, wie lange ich die noch – nicht böse werden, Agnesel, ich spreche kein Wort mehr.«

Er verstummte in der Tat und zuckte nur zusammen, sobald sie sich rührte. Ganz allmählich schlief er wieder ein, und ganz behutsam löste sie sich aus seinen Armen, die wie eine Fessel um sie geschlungen waren.

Das Dunkel der Nacht mit seiner Todesstille gähnte ihr entgegen, nur zuweilen unterbrochen durch Arturs stoßweises Atmen und Röcheln.

Tausend wirre Gedanken und Sorgen quälten sie: der Schwiegervater entzog sich ihr, hatte Scheu, ihr zu begegnen. Artur war zusammengebrochen, und die alte Frau Salomon stand auf der Lauer mit ihrem tödlichen Haß, der wie ein böses Geschwür von Tag zu Tag wuchs und anschwoll. Die schwere Last des Geschäfts lag allein auf ihren Schultern, und dabei glaubte sie, überall heimliche Widerstände zu spüren, hinter ihrem Rücken das leise Tuscheln von Trübsand und Fräulein Traube zu vernehmen und sich beständig von hämischen, bösen Blicken verfolgt zu sehen.

Ein entsetzliches Gefühl der Einsamkeit, des Verlassenseins und Losgelöstseins kam über sie. Man hatte sie in die Gemeinschaft der Salomons wohl oder übel aufnehmen müssen, und dennoch stand sie abseits, getrennt von den andern da, irgendwo gab es eine unsichtbare Mauer, eine Scheidewand zwischen ihr und jenen. Gewiß, Mann und Schwiegervater schützten sie, und scheinbar hatte sie über die alte Frau gesiegt; aber letzten Endes hielten die Salomons trotz aller Konflikte wie die Kletten zusammen, bildeten eine Blutseinheit, und sie war der Fremdkörper, der sich in diesen Organismus gedrängt hatte und wie durch einen natürlichen Prozeß nun wieder abgestoßen wurde.

Aussichtsloser Kampf für sie, und das Ende: ein klägliches Verbluten, ein jammervolles Entwurzeltsein.

Da lag Artur krank und elend neben ihr, wie einer, der verrecken wollte, und wenn sie sich die Gewissensfrage stellte, welche Zusammenhänge zwischen ihm und ihr bestanden, so war die Antwort keinen Moment zweifelhaft.

Sie warf einen scheuen Blick auf ihren Mann und fuhr mit der Hand glättend über seine heiße Stirn. So verfallen, so vergrämt sah er aus, wie einer, der am End aller Dinge angelangt ist und nur noch nach Schlaf und Ruhe sich sehnt, nach letztem Schlaf und letzter Ruhe.

Ein tiefes Mitleid durchdrang sie. Für ein armseliges Lächeln, für ein gutes Wort war er von überströmender Dankbarkeit gewesen, ein demütig Bescheidener, der niemals gefordert hatte.

Ach, es war so niederdrückend, so zum Heulen, daß eines dem andern nicht helfen konnte, daß man wie ein Stacheltier sich zusammenzog, um qualvoller Berührung zu entgehen. Warum mußten Leben und Schicksal beständig Wunden schlagen, anstatt die einander ergänzenden Wesen zusammenzutun!? Warum mußte sie an den Sohn gekettet sein, wenn zum Vater Fühlen und Denken, Blut und Hirn mächtig drängten?

Salomon wich ihr aus, mußte ihr ausweichen, weil klares Sehen und Erkennen allein schon genügten, um ihn in die Tiefen zu stürzen. Unheimliches Gesetz, daß niemand herausschreien durfte, wie ihm zumute war. In dieser Welt war Heuchelei, in der alles wahrhaftige und blutvolle Empfinden abgeschnürt wurde, nur damit Form und Herkommen Genüge geschah.

Und gleich der Schwiegermutter empfand sie seltsamerweise in dieser dunklen Nachtstunde, daß für einen aus den Fugen gehobenen Menschen Gesetz ein leerer, aufgezwungener, inhaltloser Begriff war; jedes Wesen trug seine Sittlichkeit in sich, und wer seine innere Stimme nicht hörte, trug sich die Erde ab.

Agnes Salomon schloß die Lippen fest aufeinander. Sie wollte sich nicht zermürben lassen. So kurz war das Dasein, so jäh und rasch konnte die einem gestellte Frist ablaufen, daß, wer seinen Anspruch auf Erfüllung nicht rechtzeitig geltend machte, geprellt und betrogen war.

Aber wollte denn Salomon ihren Anspruch erfüllen? Konnte er es? Wußte er überhaupt, wie es um ihn, wie es um sie stand? Tappte er nicht vielmehr wie einer, der nicht sehen wollte, an Abgründen vorbei? Oder war sie von Wahnvorstellungen beherrscht? Am Ende würde er mit schmetterndem Lachen jeden für einen Narren erklären, der ihn sträflicher Leidenschaft bezichtigte.

Ein grüblerischer Zug trat in ihr Gesicht. Wohl möglich. Und sein tiefes, glucksendes Lachen drang an ihr Ohr. Einerlei! Salomon mochte gutgläubig sein, mochte nicht ahnen, was in seinem Blute vorging, was lag daran, wenn sie untrüglich wußte, daß er sehend würde, sobald sie ihm die Binde von den Augen riß. Die Frage war nur, ob und wann sie es tun sollte?

Ihre Miene umschattete sich.

Vermochte sie sich überhaupt zu rühren? Lag sie nicht an der Kette? Und wo war ihr Wille?

Gegen ihre Wünsche war sie ins Ehebett gestiegen, und gegen ihr Wollen hatte sie das Kind getragen. Gab es denn irgendwelche Freiheit der Bewegung? War man nicht im kleinen und im großen gehemmt und gelähmt?

Der Morgen graute, Artur wälzte sich immer unruhiger auf seinem Lager, und sie durfte nicht einmal auf eigene Verantwortung einen Arzt rufen, mußte warten, bis Salomon erreichbar war, damit die Schwiegermutter nicht hinterher sagen konnte, sie hätte Pulvermacher verdrängt.

Konnte ein Mensch eingeengter und eingeschnürter sein als sie?

Sie durfte durch den Laden fegen, von früh bis spät sich wie ein Kreisel drehen, der von einer unsichtbaren Peitsche in Schwung gehalten wurde, damit das Salomonsche Vermögen unaufhaltsam rollte und wuchs. Aber damit schien auch ihre Aufgabe erledigt. Ob Leib und Seele verkümmerten, ob die junge Agnes Jung im Wechsel der Jahre, kaum daß sie es wahrnahm, zu einer verknöcherten, alten Frau Salomon wurde, an der das lebendige Leben vorbeigerauscht war, ließ Gott geschehen! Gott oder sie! Es lief auf das nämliche heraus!

Warum wehrte sie sich nicht? Warum sprang sie nicht aus dem goldenen Käfig, in den man sie gesperrt hatte? Ihr Herz hing nicht am Besitz. Aus den dunklen Tiefen der Armut war sie gestiegen, ohne daß Wohlleben und Geborgensein ihr jemals eine letzte Erfüllung geworden waren. Zu jeder Stunde hätte sie beides mit einer leichten Handbewegung von sich werfen und wieder von vorn anfangen können, wenn – wenn – wenn –

Wie alle einfachen, von keinem äußeren Wissen belasteten Naturen, hatte sie ihre Erfahrungen am eigenen Fleische gemacht, war sie schließlich bis zu dem Quellwasser der für sie gültigen Einsicht und Erkenntnis, zu ihren inneren Notwendigkeiten und Bedingungen gedrungen. Gefühlsmäßig hatte sie begriffen, daß man bei lebendigem Leib eintrocknen und absterben mußte, wenn man unter die Räder des Betriebs und der Gewohnheit kam, wenn man sich selbst verschlief.

Nein, die Zügel in den Händen behalten, nicht zur Maschine werden, die andere in Bewegung setzten, darauf kam es an. Bis zum letzten Atemzuge mußte man sich sein Lebendiges erhalten, sich gegen Welt und Menschen wehren, die es abzutöten drohten.

War das für sie unmöglich? Oder hatte sie die Kraft in sich, Widerstände zu brechen?!

Salomon, hilf mir! Ich gehe mit Dir bis an das Ende der Welt! Ich werfe, ohne mit der Wimper zu zucken, den ganzen Plunder von mir! Ich brauche das nicht, ich brauche Dich, damit ich atmen, damit ich mich erfüllen kann!

Und jetzt erwachte Artur mit einem lauten Stöhnen und blickte sie mit gläsernen, zum Erschrecken leeren Augen an.

Ihr Mund verzog sich, ihr Gesicht wurde trostlos. Und ohne es zu wissen und zu wollen, streichelte sie seine Hand, von der eine trockne Hitze ausströmte: Sie war mit einem Satz aus dem Bett. Und während sie ihm die Kissen richtete und das Glas an die Lippen führte, sagte sie: »Hab' eine Minute Geduld, ich bin gleich wieder da.«

Sie hatte im Nu einen Überrock um sich geworfen und war an das Telephon geeilt.

Es war halb sieben Uhr, in der Küche hantierte bereits die Köchin, in den Vorderzimmern rumorte das Hausmädchen.

»Hier Agnes Salomon. Ich möchte meinen Schwiegervater sofort sprechen. – Tut nichts, wecken Sie ihn, auf meine Verantwortung, und so rasch wie möglich!«

Unmittelbar darauf war Salomon am Apparat.

»Artur ist nicht auf dem Posten. Er will Pulvermacher nicht. Sorge schnellstens für einen Arzt.«

Salomons Stimme klang angstvoll in das Hörrohr und tat ihr weh.

»Ich weiß nicht, was es ist, vielleicht nur eine schwere Erkältung. Schaff' einen Arzt und komm' selbst, wenn es um Deinen Sohn geht, wird sie es doch wohl erlauben,« schloß sie leise und schmerzhaft.

Als sie wieder an sein Bett trat, lag Artur mit geöffneten Augen, ohne sich zu rühren, teilnahmslos da. Sie setzte sich neben ihn, hielt seine Hand, bis er von neuem in eine Art von Halbschlaf sank. Dann erst erhob sie sich schwerfällig und zog sich müde und übernächtig an.

»Erbärmlich ... erbärmlich ...« murmelte sie kaum hörbar vor sich hin.

Und in dieses eine Wort schloß sich für sie der Inbegriff aller Traurigkeit und Trostlosigkeit.

Salomon erschien auf der Schwelle. Seine Stirn war tief gefurcht und sein Auge kummervoll umschattet. Er nickte ihr stumm zu, während sein Blick sogleich Artur suchte.

Es war ihr, als ob seine Lippen sich bewegten, obwohl er keinen Laut von sich gab. Er beugte sich tief zu Artur herab.

Und nun vernahm sie ein unterdrücktes, sonderbares Stöhnen und vermochte nicht zu unterscheiden, ob es vom Vater oder vom Sohn kam. Sie hätte schreien mögen.

Da wandte sich Salomon zu ihr, ließ seine schweren Hände auf ihre Schultern fallen und sah sie wortlos an. In seinem Blick lag so viel Not, so viel Güte und Begreifen, daß sie vor ihm hätte niederknien mögen.

Sie hielt sich gewaltsam aufrecht. Stark bleiben, ihn nicht noch tiefer beugen und noch mehr belasten.

Gott sei Dank, es läutete. Ihre Widerstandskraft war am Ende.

Das Mädchen führte den Arzt herein.

Es war ein noch jüngerer Mann mit dünnem Haarwuchs, dessen rechte Schulter erhöht schien.

Nach ein paar kurzen, sachlichen Erkundigungen wurde der Kranke trotz seines Widerstrebens in den Kissen aufgerichtet und untersucht.

Die Fragen, die der Arzt an ihn richtete, beantwortete er nur widerwillig. Er winkte plötzlich mit den Augen Agnes heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Schick' ihn weg, er quält mich ja nur.«

Sie bat ihn inständig, sich zu beruhigen.

Jetzt erst schien er Salomon zu entdecken.

»Wer hat Dich denn gerufen?« sagte er mißtrauisch, und fügte er hinzu: »Ihr macht ja Gesichter, als ob ich bereits aus dem letzten Loche pfiffe.«

Salomon versuchte sich ein Lächeln abzuquälen. Er trat dicht auf ihn zu und küßte ihn auf die Stirn.

»Wie steht es mit ihm?« fragte Agnes leise.

Der Arzt wollte nicht recht mit der Sprache heraus, schien selbst noch im Dunkel zu tappen und seiner Sache nicht sicher zu sein. So viel nur wußte er: der Patient gefiel ihm nicht, trotzdem die Temperatur nicht übermäßig hoch war.

»38,4« sagte er und wies auf das Thermometer.

Er schrieb ein Rezept, gab noch ein paar Verordnungen und erklärte, am Mittag wiederzukommen.

Agnes drängte auch den Schwiegervater zum Aufbruch.

»Geh',« sagte sie, »Deine Frau' wird sonst mißtrauisch, helfen kannst Du nicht und ich rühre mich nicht vom Fleck, passiert irgend etwas, erhältst Du sofort Nachricht.«

Er widersetzte sich.

»Schick' mich nicht fort, ich habe keine Ruhe!«

Da schwieg sie.

Sie standen beide an Arturs Bett, der wieder eingeschlafen war. Nach einer Weile verließ Salomon den Raum, um Renette zu verständigen.

Als er nach ein paar Minuten zurückkehrte, deuchte es sie, als ob seine Züge sich noch mehr verfinstert hätten, und als ob es um seine Mundwinkel beständig zuckte.

Sie stellte keine Frage. Sie hatte weder gehorcht noch einen Laut vernommen und wußte doch jedes Wort, das die alte Frau am Telephon gesprochen hatte.

Es traf sie nicht mehr, aber daß Salomon über alle Maßen litt, nagte an ihrem Herzen.

Ach, alles Ringen und Kämpfen war so töricht, war Kraftvergeudung ohne Sinn.

Und wie ein angeschossener Vogel noch mit letzter Kraft die Flügel zu heben, das Weite zu gewinnen sucht, bis er das Aussichtslose seines Tuns begreift und mit erloschenen Augen auf den Tod wartet, so sank Agnes Salomon in sich zusammen.


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