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Wir sind jetzt so weit, auf eine vorher ( S. 231) zurückgestellte Frage näher einzugehen: wie sich nämlich die historisch-biographische Wissenschaft den Nachahmungsgesetzen gegenüber verhalte. Selbst wer sich hat überzeugen lassen, daß beim gebildeten Durchschnittsmenschen, also der Masse 2. Grades, die Bewertung »berühmter« Individuen nur zum sehr geringen Teil auf selbständiges und unabhängiges Urteil zurückgeht, zum weitaus größten ein Nachahmungsakt ist, wird doch der Wissenschaft unter allen Umständen eine Ausnahmestellung zuweisen. Er wird daran denken, daß für den Gelehrten höheren Grades – und nur von ihm ist wiederum die Rede – Quellenstudium selbstverständliche Voraussetzung alles Arbeitens ist und daß er sein Urteil auf gründlicher Kenntnis nicht nur der Werke, sondern auch der Epoche aufbaut, in der sie und ihr Schöpfer entstanden. »Der Historiker kennt keine Grenzen des Geschmackes, weder Sympathie noch Antipathie noch modische Formen der Anschauung, sondern alles ist sein, was gelebt hat, Menschheit, wie sie ist. Er braucht nicht davor zurückzuschrecken, Barbaren oder Verbrecher zu schildern, und kann seine Künstlerkraft und Künstlerfreude ebenso an einem Cesare Borgia und einem Napoleon entfalten wie an einem Hutten oder einem Freiherrn vom Stein. Des vollen Lebens wechselnde Gestalten darf er im Bilde bannen.« M. LENZ, Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen. Berlin 1912, 17. (Festrede.) Das hier im Anschluß an Ranke und mit denkbar schärfster Formulierung seiner Gedanken gekennzeichnete Ideal ist nie verwirklicht worden und kann auch nie verwirklicht werden. Ist doch inzwischen dargelegt worden, daß selbst Ranke mit seiner erstaunlichen Objektivität ohne Werturteile nicht auskam, daß es auch ihm nicht [249] gelang, »weder Sympathie noch Antipathie« zu zeigen. Vgl. ARVID GROTENFELT, Die Wertschätzung in der Geschichte. Leipzig 1903, 132f. Wir haben bereits gesehen, daß eine gewisse Sympathie auch für den wissenschaftlichen Biographen fast als Erfordernis gilt, und zwar aus Gründen, die gerade erkenntnisfördernd wirken sollen. Einsichtige Forscher sind sich dieser Beschränktheit – wenn man etwas Naturnotwendiges als solche bezeichnen will – auch stets bewußt gewesen und haben auf die Subjektivität ihres Standpunktes sogar nicht selten ausdrücklich hingewiesen. Statt vieler nur einige Beispiele: MARCKS, Kaiser Wilhelm I., 4. Auflage 1900, X: »Daß ich meine persönliche Anschauung von Dingen und Menschen unterdrücken wollte oder könnte, ist mir nie in den Sinn gekommen. Ich habe geurteilt, wie ich urteilen mußte, natürlich von dem mir gegebenen Standpunkte aus, aber, das darf ich versichern, meines Wissens ohne eine gewollte Tendenz.« – R. M. MEYER, Nietzsche, München 1913, 4: »Immer suchte ich Friedrich Nietzsche selbst zu sehen, meinen Nietzsche gewiß, denn ich bin kein objektiver Spiegel.« – GEORG SIMMEL, Goethe, Leipzig 1913, VII: »Die Gesamtdeutung Goethes ... wird, zugegeben oder nicht, immer auch eine Konfession des Deutenden sein.« Mit geistreicher Übertreibung, aber offenbar auf Grund sehr ernsthafter Überlegung drückt ANATOLE FRANCE denselben Gedanken in der Vorrede zu seiner Sammlung literarhistorischer Essays aus: »Je vais parler de moi à propos de Shakespeare, à propos de Racine, ou de Pascal, ou de Goethe. C'est une assez belle occasion.« (La vie littéraire, 1892, I, Préface.) Daß ein völliges Ausschalten der Subjektivität bei der Eigenart unserer Geisteskonstitution undenkbar ist, ist so oft ausgesprochen worden, daß jeder weitere Hinweis darauf sich erübrigt. Ein gewisser Grad von Objektivität läßt sich höchstens bei Anwendung dessen erreichen, was O. LORENZ »relative Wertmaßstäbe« genannt hat. Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen u. Aufgaben, 1886. Aber auch von ihnen hebt BERNHEIM noch hervor: »Ganz unabhängig von unseren Gesamturteilen können ... auch die relativen Wertmaßstäbe nicht sein« (a. a. O. 770). Jede weitere Diskussion über die Möglichkeiten einer voraussetzungslosen Wissenschaft ist also überflüssig.
[250] Aber eine solche Diskussion über eine prinzipielle Frage, die zum Teil schon in das Gebiet der spekulativen Geschichtsphilosophie reicht, wäre hier auch nicht am Platze. Für uns, die wir nicht ein letztes, sondern nur ein vorletztes Problem der Methodenlehre behandeln, ist wichtiger die Frage, ob der Forscher sich auch nur von dem emanzipieren kann, was LENZ a. a. O. »modische Formen der Anschauung« nennt. Fügen wir dem hier gebrauchten Wort »Mode« noch den Korrespondenzbegriff »Sitte« hinzu, so wäre also zu erwägen, ob der Historiker imstande ist, sich von dem über die Zeit oder über den Raum hin wirkenden Nachahmungstriebe freizuhalten. Es läßt sich nun zeigen, daß – in bezug auf Imitationsakte – Unterschiede zwischen der Masse 3. und 2. Grades auf der einen und der 1. Grades auf der anderen Seite zwar bestehen, daß sie bei ganz erlesenen Forschern – etwa bei Ranke – auch einen hohen Grad erreichen, daß sie aber immer nur quantitativer, nie qualitativer Art sind. Berücksichtigen wir die früher gemachten Feststellungen, so ergeben sich die Sätze: je eminenter ein Individuum zu sein scheint, d. h. je mehr die irrationalen ruhmbildenden Faktoren auf die Bildung seiner Erscheinungsform eingewirkt haben, desto mehr ist der Forscher den Nachahmungsgesetzen unterworfen. Ein selbständiges Urteil hat er nur gegenüber den Individuen, die die Aufmerksamkeit der Masse wenig oder gar nicht erregt, somit eine geringe Wirkung gehabt haben und daher heut als Eminenzen minderen Grades erscheinen.
Vergegenwärtigen wir uns etwa die Genesis eines Shakespeareforschers. Er hat als Kind im Elternhause unter den Klassikern Shakespeares Werke gesehen, hat in der Schule dessen Namen immer nur mit größter Ehrfurcht nennen hören und, noch bevor er eins der Dramen selbst lesen konnte, bereits das Urteil vernommen, daß Shakespeare der größte englische Dichter sei. Diese Erscheinungsform hat sich dann in derselben Richtung weiter entwickelt, als der selbständiger werdende Jüngling in der Zeitung oder in Zeitschriften Abhandlungen über Shakespeare gelesen und im Theater oder durch eigene Lektüre die Werke selbst kennen gelernt hat. Er kann nicht anders, als die bewundernden Urteile, die er von allen Seiten hört, annehmen und wiederholen, ja er wird [251] in diesem Stadium sich noch nicht einmal zu überreden versuchen, daß er sich seine Urteile durch selbständige, unbeeinflußte Kritik gebildet habe. Er entschließt sich nun, Anglist zu werden, und kommt auf die Universität. Nehmen wir nun den günstigen und seltenen Fall an, daß er bereits nach wenigen Semestern imstande ist, über ein Individuum, für das noch keine fertige Erscheinungsform vorliegt, selbständig und richtig zu urteilen, so wird diese Fähigkeit gerade Shakespeare gegenüber versagen: die Macht der social heredity lastet jetzt bereits so stark auf dem werdenden Forscher, daß er sich ihr nicht mehr entziehen kann. Aber gesetzt, es gelänge ihm unter sehr großen Mühen doch, und er schriebe ein Werk, in dem er die Falschheit des bisherigen Urteils darzulegen und Shakespeare zu entthronen versuchte. Was würde mit vollkommener Sicherheit eintreten? Er würde von der zünftigen Anglistik nicht für voll genommen werden, und – was man etwa bei Tolstoi oder Shaw mit Achselzucken oder mitleidigem Lächeln hinnimmt – würde man ihm niemals verzeihen. Die allermeisten seiner Fachgenossen würden in seinem Werke nichts anderes sehen als ein Sakrileg.
Suchen wir nun festzustellen, weshalb sie das tun würden, so ergibt sich als Grund wiederum nur die Tatsache des Traditionalismus, der social heredity, also die Tatsache eines Nachahmungsaktes. Sonst wäre die vollkommene Urteilsübereinstimmung unerklärlich. Aber angenommen, der fertige, nicht mehr in der Entwicklung begriffene Gelehrte wäre imstande, sich sein Urteil ohne jeden Einfluß von außen zu bilden, und es wären auf solche Weise lauter gleichartige Urteile über die »Genies« entstanden, so beweist doch etwas anderes, daß diese Gleichartigkeit aus unseren irrationalen Faktoren herkommt: das von diesen gebildete Urteil stimmt mit dem der Wissenschaft völlig überein, und es geht ihm, was das Wichtige ist, zeitlich voraus. Bevor es eine eigentliche Shakespeareforschung gab, war die – durch die übrigen Faktoren gebildete – Erscheinungsform Shakespeares in ihren Grundzügen bereits fertig, und sie wurde von der Wissenschaft einfach übernommen. Ebenso war es bei Goethe, Luther, Cäsar, Homer, und bei den Individuen der modernen Epoche, in der die Macht der irrationalen Faktoren immer [252] mehr anwächst, geht es sogar auch den weniger eminent erscheinenden Individuen so. Wir haben bereits gesehen, daß für höhere Ruhmformen die Wissenschaft nur in den seltensten Fällen, etwa bei Walther von der Vogelweide, der primäre Faktor ist. Meist findet sie eine völlig durchgebildete Erscheinungsform vor und sucht sie zwar in Einzelzügen zu verfeinern, aber nicht von Grund aus umzubilden.
Noch deutlicher erkennbar ist die Macht, die der Traditionalismus in der historisch-biographischen Wissenschaft hat, in all den Fällen, in denen sich der einen Tradition eine andere, von ihr abweichende entgegenstellt. Der Goetheforscher Alexander Baumgartner, ein gelehrter und als gelehrt anerkannter Jesuit, wird von der zünftigen Germanistik nicht für voll genommen, weil er seine Herkunft aus den – naturgemäß beschränkten – Ideenkreisen des Katholizismus niemals verleugnen kann und auch nicht will. Die Stellung, die die zünftige Goethephilologie ihm gegenüber einnimmt, mag, da sie bezeichnend ist, durch eine Rezension seines Buches (Goethe, sein Leben und seine Werke, 3. Aufl. 1912) illustriert werden. LUDWIG GEIGER hebt Frankf. Ztg. 16. Febr. 1913, Nr. 47. Diese Anzeige wird hier nur als typisch hergesetzt. Die übrige germanistische Wissenschaft hat sich in ganz ähnlichem Sinne ausgesprochen. die »außerordentliche Gründlichkeit«, den »vielen Fleiß«, die »richtige Benutzung eines großen Materials« anerkennend hervor, fährt dann aber fort: »Man hat bei der Lektüre des Buches auf Schritt und Tritt die Empfindung, daß hier eine Weltanschauung zum Ausdruck kommt, mit der man nicht die geringste Berührung hat, und daß diese Darlegung in einer Weise geschieht ..., die der Anschauung, die jeder nichtultramontane Deutsche von Goethe hat, so völlig widerspricht, daß eine Verständigung absolut unmöglich ist ... Es führt keine Brücke von dieser Art über Goethe zu sprechen zu der, die nun einmal der Stolz gebildeter Deutscher ist ... Die Welt, in der der Verfasser lebt, das Ziel, zu dem er strebt, die Mittel, über die er verfügt, sind von alledem, was unsere Art zu denken, zu fühlen, selbst uns auszudrücken ausmacht, so völlig verschieden, daß eine Einigung absolut unmöglich erscheint.« Hier geschieht [253] also nichts anderes, als daß zwei »Weltanschauungen« einander gegenübergestellt werden. Daß die eine, die hier einmal der Deutlichkeit wegen die germanistische genannt sei, die einzige ist, welche an das Individuum an sich heranführt, erscheint so selbstverständlich, daß es nicht einmal besonders hervorgehoben wird. Wie aber liegen die Verhältnisse in Wirklichkeit?
Auf der einen Seite steht ein Mann, der durch seine Herkunft, seine Erziehung, seine Umgebung, kurz durch sein »Milieu« an das Dogma von der Unfehlbarkeit der Kirche gebunden ist und daher in der Tat niemals imstande sein wird, an Goethe »an sich« heranzukommen. Denn er wird alles, was an Goethe akatholisch ist, ablehnen müssen. Aber auch sein Gegner ist durch Herkunft, Erziehung, Umgebung an ein Dogma gefesselt: an das von der Unfehlbarkeit Goethes. Beide stehen unter dem Zwange einer social heredity. Es ist ebenso undenkbar, daß der Jesuit seine Kirche, wie daß der Germanist Goethe verleugnet. Würde der eine oder andere es tun, so würden sie »exkommuniziert«, d. h. aus der Gemeinschaft, der sie angehören, ausgeschlossen werden. Die Befangenheit des Germanisten ist in einer Beziehung sogar noch größer als die des Jesuiten: dieser verneint an Goethe nur, was an ihm akatholisch ist, jener bejaht hingegen an ihm so gut wie alles. Ein wenig ausgeglichen wird das nur dadurch, daß für den Germanisten nicht ein Dogma im allerstrengsten Sinne des Wortes vorliegt: er darf gewisse Werke, wie etwa den »Großkophta« oder den »Bürgergeneral«, als minderwertig hinstellen (darf es freilich nicht mit der Deutlichkeit tun, wie wenn jene Werke von einem Unbekannten stammen würden); dem Jesuiten hingegen ist es verwehrt, selbst auf einzelne Mängel der Kirche öffentlich hinzuweisen. Daß auch die Sympathie, das Verstehen wollen nur bedingt als erkenntnisfördernder Zug anzusehen ist, hat sich früher gezeigt (vgl. S. 209ff.). Versuchen wir das Für und Wider uns graphisch zu vergegenwärtigen, so ergibt sich etwa, daß der Jesuit von Goethe um 5 Einheiten nach links, der Germanist um 4 Einheiten nach rechts entfernt ist. In seine unmittelbare Nähe zu gelangen, verwehrt beiden eine übermächtige Tradition, die bei dem einen von den Kirchen [254]gesetzen, bei dem anderen von den ruhmbildenden Faktoren ausgeht.
Verallgemeinern wir diese Erkenntnis, so fällt auch auf das Verhältnis der protestantischen zur katholischen Luther-, der deutschen zur französischen Bismarck-Biographik neues Licht: jedesmal ist nicht nur die verneinende, sondern auch die bejahende Seite als befangen, und zwar im allerstärksten Maße befangen, anzusehen. So lange die historisch-biographische Wissenschaft nur das Individuum an sich betrachtet, seine Erscheinungsform aber nicht berücksichtigt, kann sie nicht zu ihrem Ziele gelangen. Aber schon hierin ist ausgesprochen, daß das ignoramus nicht zu der bequemen Skepsis des ignorabimus zu führen braucht.
GOETHE sagt einmal zum Kanzler Müller: »Ein Buch, das große Wirkung gehabt, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden.« Am 11. Juni 1822. Vgl. W. v. BIEDERMANN, Goethes Gespräche. Leipzig 1889, IV, 136. Dieser Satz enthält in äußerster Komprimierung alles, was unsere vorhergehenden Auseinandersetzungen klarzumachen versucht haben. Bei Historikern jedoch finden sich Aussprüche, die in ähnlicher Weise auf die Erkenntnistrübung hinweisen, welche durch die ruhmbildenden Faktoren hervorgebracht wird, nur äußerst selten, und zwar auch bei denen, die stets mit stärkst transformierten Erscheinungsformen zu tun haben: bei den Biographen künstlerischer Eminenzen. Aber hören wir etwa, was v. WILAMOWITZ-MÖLLENDORFF in der Einleitung zu seiner »Griechischen Literatur des Altertums« sagt: »Es hält schwer, ein Werk, das zwei Jahrtausende lang vorbildlich gewesen ist, so zu sehen, wie es sein Urheber hingestellt hat, und in diesem einen ringenden, strebenden, irrenden Menschen zu sehen, fällt noch schwerer. Nichts trübt ein Menschenbild so stark wie die Apotheose, und nichts erscheint den Zufälligkeiten des Werdens so sehr entrückt wie ein klassisches Kunstwerk. Die Erhöhung ist in beiden Fällen nur um das Leben feil.« Kultur der Gegenwart, Teil I, Abt. 8, 3. Aus diesen Worten könnte man das Programm für eine Historik der Zukunft ableiten. Aber der sie geschrieben hat, war – trotz seines [255] starken Willens zu unbefangener Betrachtung – außerstande, dieses Programm völlig durchzuführen, weil die notwendigen Vorarbeiten dazu noch nicht gemacht sind und auch gerade für die Griechen so schnell nicht gemacht sein werden. »Homer ist eigentlich schon in dem Momente klassisch, wo er uns bekannt wird, und klassisch ist die griechische Literatur um Christi Geburt schon genau so und in demselben Sinne wie vor 100 Jahren, als ihr geschichtliches Studium beginnt« (ibid.). Ist es schon schwer, an das »An sich« von Individuen vorzudringen, die 100 oder nur 50 Jahre tot sind, so wachsen die Schwierigkeiten bei den Persönlichkeiten des klassischen Altertums fast ins Unmeßbare. Wertvolles Material für das Studium der Erscheinungsformen der Griechen bei BILLETER, Die Anschauungen vom Wesen des Griechentums. Berlin 1911.
Durch die Einreihung der historisch-biographischen Wissenschaft in die unabhängig von ihr entstandene Tradition und durch die Erkenntnis, daß innerhalb der Forschung gerade für die wichtigsten Individuen fast unerschütterliche Dogmen bestehen, wird der Abstand des Forschers von der Masse 2. und 3. Grades bereits stark vermindert. Er wird es noch mehr, wenn man bedenkt, daß der Forscher auch in seinem sonstigen Leben ein Ausnahmewesen nicht ist und es meist auch nicht sein will oder zu sein glaubt. Gleich anderen Menschen gehört er politischen Parteien an, und wie sehr das seine Werke beeinflußt, wird klar, wenn man etwa an Gervinus oder Treitschke denkt. Als Popularisator spricht er auf Volksversammlungen, schreibt er für Tageszeitungen, hält er Vereinsvorträge usw. Nun wird der Gelehrte, der die Ergebnisse seiner Forschung zugleich zu verbreiten sucht, in den meisten Fällen bestrebt sein, die Masse zu dem von ihm als richtig Erkannten umzustimmen. Aber prinzipielle Meinungsunterschiede werden nur selten bestehen; denn meist liegen die Verhältnisse so, daß nicht der Forscher die Masse zum Hörer, sondern die Masse den Forscher zum Sprecher gewählt hat. Und gerade wenn er über die Führer, die Genies, spricht, d. h. wenn er einer übermäßig starken Massenmeinung gegenübersteht, wird er eine etwa entgegengesetzte Ansicht selbst [256] dann nicht vorbringen, wenn er sich innerlich dazu durchgerungen hat. Es ist dann schon eher denkbar, daß er seine neue Meinung im engen Kreise der Fachgenossen kundgibt. Man erinnere sich, wie geflissentlich die Scherer-Schule ihre doch offenbar bestehende Abneigung gegen Schiller zu verbergen suchte. Daß einer jener Literaturhistoriker vor dem Volke in schillerfeindlichem Sinne sprach, wird kaum jemals vorgekommen sein.
Die Gründe liegen auch hierfür offen da. Der Forscher ist in den allermeisten Fällen auch Lehrer, d. h. er hat nicht nur wissenschaftliche, sondern auch ethische Verpflichtungen. Schon der akademischen Jugend, aber noch mehr dem Volke sollen die Ideale – und sie bestehen vor allem in dem Glauben an die großen Individuen – nicht zerstört werden. Diese ethischen Verpflichtungen sind am stärksten beim politischen Historiker, und deshalb sind auch verschiedene Persönlichkeitsbewertungen bei den Angehörigen verschiedener Nationen in der Literatur- und in der Kunstgeschichte weniger häufig als in der politischen: das französische Urteil über Bismarck wird, auch in der rein wissenschaftlichen Historie, stärker als das über Goethe von dem deutschen abweichen.
Aber keinem von den irrationalen Faktoren ist der Forscher mehr unterworfen als dem Verehrungsbedürfnis. Wir haben bereits früher gesehen, daß selbst die Forderung der Sympathie, die der Biograph für seinen Helden besitzen müsse, nur scheinbar um der Erkenntnisförderung willen gestellt wird, daß sie in Wahrheit auf das Verehrungsbedürfnis zurückgeht. Ranke freilich, bei dem überhaupt eine unbiographische und später eine antibiographische Stimmung deutlich erkennbar ist DOVE, in »Biogr. Blätter«, I, 13., hält sich von jedem Enthusiasmus fern. Aber er bildet auch hierin eine Ausnahme, und gerade Biographen, die im übrigen den höchsten Rang einnehmen, bekennen sich rückhaltlos zu einer unbegrenzten Verehrung ihres Helden. Drei Beispiele mögen genügen. KARL JUSTI, Diego Velazquez und sein Jahrhundert, Bonn 1888, I, 4: »Velazquez gehört zu denen, die mit keinem anderen verglichen werden können ... (S. 8): Wie neben dem elektrischen Licht auch sonst [257] weiß scheinende Flammen farbig aussehen, so verlieren neben den seinigen die Werke der Naturalisten; neben Velazquez erscheint Tizians Kolorit konventionell, Rembrandt phantastisch und Rubens mit einer Dosis manierierter Unnatur behaftet.« – LOUIS MOLAND, Molière, Sa vie et ses ouvrages, Paris 1887, XVII: »La France possède dans Molière un génie spécial et unique qu'elle doit considérer comme sa plus grande gloire littéraire, et qu'elle peut opposer sans crainte aux plus éminents poètes des autres nations. Molière est l'auteur comique par excellence: la comédie reste personnifiée et incarnée en lui.« – ERICH MARCKS, Bismarck, Stuttgart und Berlin 1909, I, IXf.: »Zu dem Glauben bekenne ich mich gern: dieses Dasein war so groß, in sich so gewaltig, für sein Volk so umfassend bedeutungsreich, daß an ihm alles, soweit es nur Leben hat, historisch wertvoll ist.«
Wir sehen hier überall deutlich das Mitschwingen eines Triebes, der mit jenem früher gezeichneten elementaren Bedürfnis völlig identisch ist, aber mit dem Ziel, das die Wissenschaft sich setzt: der reinen Erkenntnis, nichts zu tun hat. Zweifellos erregt Sympathie auch bei dem Leser, der zunächst weder für noch gegen das Individuum eingenommen ist, die größere ethische Befriedigung, und ein objektiver Jude z. B. wird sich von der Köstlinschen Luther-Biographie mehr angezogen fühlen als von der Grisarschen. Aber hiermit ist über den Wert keines der beiden Werke etwas gesagt. Auch der Forscher will verehren, will nicht immer der kühl Betrachtende und durch seine Kühle vielleicht Abstoßende sein. Wir haben früher gesehen, daß Vereinigungen wie etwa die Goethe- oder die Shakespeare-Gesellschaft reine Emanationen des Verehrungsbedürfnisses sind und daß sie neben dem Zweck, die wissenschaftliche Erkenntnis des Individuums zu fördern, den anderen, wichtigeren und auch als wichtiger empfundenen haben: Begeisterung zu wecken und damit der Masse den Alltag zu verschönen. So setzen sie sich auch zu etwa gleichen Teilen aus Laien zusammen und aus Forschern, die das Bedürfnis haben, zu gewissen Zeiten des Jahres zu schwärmen, sich ihren adoratorischen Trieben hinzugeben.
Die Abhängigkeit der Wissenschaft von der Tradition [258] läßt sich noch aus einem anderen Umstande erweisen. In den meisten Biographien findet sich am Anfang eine zusammenfassende Wertung des Individuums Die Erscheinung ist so häufig, daß Zitate nicht nötig sind. Auch die auf S. 256f. angeführten Stellen stehen sämtlich im Vorwort oder in der Einleitung., und zwar aus einem naheliegenden Grunde: der Leser soll sich sofort darüber im klaren sein, daß das Buch aus einer einheitlichen Stimmung heraus geschrieben wurde, und welcher Art diese Stimmung ist. Das Leitmotiv erklingt bereits in der Ouvertüre. Würde die zusammenfassende Wertung am Ende stehen, so könnte sie in keiner Weise auffallen: der Forscher faßt das Ergebnis der objektiven Untersuchung noch einmal zusammen und stellt es in einem Werturteil dar. Aber die Vorwegnahme dieses Urteils – mag es nun liebe- oder haßerfüllt, begeistert oder skeptisch, zustimmend oder ablehnend sein – ist ein gerade für unsere Erwägungen bedeutsamer Umstand, der näher betrachtet sein will.
Wir dürfen freilich nicht voreilig sein: was im Buche voransteht, wird in vielen Fällen das zuletzt Hingeschriebene sein, so daß es sich, wenn man allein den Zeitpunkt der Urteilsformulierung bedenkt, nur scheinbar um ein Vor-, in Wirklichkeit um ein Nachurteil handelt. Auch wird die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Biographie oft – freilich nicht immer – so vor sich gehen, daß der Forscher zunächst das Material über das Individuum und seine Werke sorgfältig sammelt, sich auf Grund dieses Materials ein Urteil bildet und dann erst zur Niederschrift des eigentlichen Werkes übergeht. In der Kunstgeschichte liegen die Verhältnisse noch einfacher, weil hier die Werke leichter überschaubar sind. JUSTI berichtet z. B. in seiner Velazquez-Biographie, in der er sich zu der bereits erwähnten Gesamtanschauung bekennt, er habe im Frühjahr 1867 in der Galerie Doria zum ersten Male ein Bild des Velazquez, und zwar das des Papstes Innocenz X., gesehen, der Eindruck dieses Bildes sei der Anstoß zu immer erneuten Reisen und Studien gewesen und so sei die Biographie entstanden (a. a. O. I, 4). Jene Gesamtanschauung scheint also ebenfalls nur ein Nachurteil darzustellen, das auf völlig [259] rationale Weise, d. h. durch reine Erkenntnis, zustande gekommen ist. In Wirklichkeit aber ist ihre Herkunft sehr viel komplizierter.
Von den Faktoren, die an der Entstehung der vorangestellten Gesamtanschauung beteiligt sind, ist die persönliche Eigenart des Biographen der zeitlich erste. Wenn das Individuum Cicero von zwei Forschern, deren wissenschaftliche Bedeutung gleich anerkannt ist, von Mommsen und Zielinsky, ganz verschieden bewertet wird, so liegen die Gründe hierfür tief im Charakter jener Forscher und sind letzten Endes unfaßbar. Man kommt ihnen nur etwas nahe, wenn man sich – mit Hilfe der Comte-Taineschen Milieutheorie, die hier also nicht auf das Objekt, sondern auf das Subjekt angewandt wird, – wiederum die Entstehung dieses Charakters zu erklären sucht. Aber an einer bestimmten Stelle werden wir stets an ein Geheimnis stoßen, dem weiter nachzugehen ebenso vermessen wie unvernünftig wäre. Hier wären nochmals die bereits erwähnten Geständnisse einzureihen, in denen Biographen auf ihre eigene Subjektivität hinweisen (vgl. S. 249).
Aber wichtiger als die Erkenntnis dieses, schließlich stets inkommensurablen Faktors ist die eines anderen, weil seine Wirkung noch größer ist und weil er, falls man sich seiner Irrationalität bewußt wird, stets ausgeschaltet werden kann. JUSTI nämlich glaubte bloß, daß er bei seiner ersten spanischen Reise den Werken des Velazquez unbefangen gegenübertrat. In Wirklichkeit aber stand er unter der Macht einer Tradition, die, wie er selbst hervorhebt, allein diesseits der Pyrenäen schon über 100 Jahre alt war und speziell in Deutschland auf Raphael Mengs als den inventeur zurückging (a. a. O. I, 1). Wir kommen also hier wieder – und zwar an bedeutsamer Stelle – auf die ruhmbildenden Faktoren. Und ebenso wie JUSTI stehen die MOLAND und MARCKS und die vielen, ja die meisten anderen Biographen unter dem Einfluß des vielfältigen und beziehungsreichen Phänomens, als das wir den Ruhm erkannt haben. Jene Gesamtanschauung ist also in Wirklichkeit kein Nach-, sondern ein Vorurteil, und wenn der Forscher sie an den Anfang der Biographie stellt, so tut er es nicht bloß, um – wie etwa der Mathematiker – zunächst die Be [260]hauptung und dann den Beweis zu geben. Er gesteht mit dieser Voranstellung seine Abhängigkeit von den ruhmbildenden Faktoren ein. Was seine wissenschaftliche Arbeit höchstens erreichen kann, ist eine Berichtigung oder Erweiterung darstellender Aussagen. Für alle Wertungen jedoch wird er zwar im einzelnen zu Modifizierungen oder Verfeinerungen kommen, in der Hauptsache aber nur die Anschauung wiederholen können, die sich vor seiner Forschung in ihm gebildet hatte. Nur in ganz seltenen Fällen wird eine Modifizierung darstellender Aussagen eine radikale Modifizierung wertender zur Folge haben. So dürfte das Werturteil über Maria Stuart sich ändern, seit die Echtheit der Kassettenbriefe nachgewiesen ist. Es wird sich dabei immer nur um moralische Werturteile handeln, um ästhetische fast nie. Denn selbst Plagiatsnachweise haben das Urteil über ein in der Geschichte allgemein anerkanntes Individuum noch nie umgestoßen. Nochmals ist darauf hinzuweisen, daß seine Selbständigkeit, auch für wertende Aussagen, in dem Maße wächst, in dem die historische Wirkung des Individuums, mit dem er sich beschäftigt, geringer wird. Es bleibt also für die wissenschaftliche Persönlichkeitsforschung immer noch ein weites Gebiet. Aber dieses Gebiet ist nur weit, nicht fruchtbar. Gerade vor den Punkten, die – mit Recht oder Unrecht – als die ertragreichsten gelten, ist der reinen Erkenntnis, wenigstens solange sie mit der heutigen Methode erstrebt wird, eine Schranke gesetzt. Und die Möglichkeiten der historisch-biographischen Wissenschaft werden selbst für die minderen Eminenzen immer beschränkter, einer je moderneren Epoche diese angehören. Denn wir haben wiederholt gesehen, um wieviel größer die Macht der irrationalen ruhmbildenden Faktoren heute ist als in früherer Zeit.
In der Allgemeinanschauung über ein eminentes oder eminent scheinendes Individuum sind also stets zwei Teile voneinander zu scheiden: der erste, bei weitem bedeutendere, der vor der wissenschaftlichen Forschung, und der zweite, weniger wichtige, der nach ihr und durch sie entstanden ist. Die Wichtigkeit des ersten wird um so klarer, wenn man bedenkt, daß er auf den zweiten selbst bei dem Historiker einwirken muß, der die größte Fähigkeit zu unbefangener Betrachtung hat: der Goetheforscher, der die aus den irrationalen [261] Faktoren hervorgegangene Teilanschauung besitzt, wird, selbst wo er ablehnen zu müssen glaubt – etwa beim Großkophta – anders, d. h. milder ablehnen, als er es ohne jene Anschauung tun würde. Aus der Teilanschauung, die durch Tradition, und der anderen, unbedeutenderen, die durch selbständiges Urteil gewonnen ist, setzt sich nun die Allgemeinanschauung zusammen. Ihre Herkunft und ihre Bedeutung sind also, wie wir jetzt mit noch größerer Klarheit als vorher sehen, von ganz anderer Art als die der vorangestellten Behauptung beim mathematischen Beweis. Die Behauptung ist, wenn sie nicht durch ein Axiom dargestellt wird, stets erst durch Induktion gefunden. Sie hat nur den rein äußerlichen Zweck der Namengebung, den etwa die Überschrift eines Dichtwerks oder einer Untersuchung hat, dient aber nicht zur Einleitung eines deduktiven Verfahrens. Wohl aber wird durch die vorangestellte Allgemeinanschauung in der Biographie ein solches deduktives Verfahren eingeleitet, wenigstens bei all den Individuen, die der Vergangenheit angehören und eine große Wirkung gehabt haben.
Diejenige Biographik, die sich nicht als rein wissenschaftlich gibt, betont sogar nicht selten die Deduktivität ihres Verfahrens, ja sie sieht in ihr einen besonderen Vorzug. H. ST. CHAMBERLAIN, der als der Hauptvertreter dieser Art von Biographik angesehen werden kann, sagt einmal: »Es gibt keine Wissenschaft der Persönlichkeit, vielmehr muß diese erraten, erhascht, blitzartig erblickt und erkannt werden.« »Goethe«, München 1912, 3. ... »Wir können die eingehendere Untersuchung einzelner Geistesbetätigungen Goethes nicht mit Hoffnung auf Erfolg unternehmen, wenn wir nicht zuvor Grundbegriffe über das Eigenartige der Persönlichkeit gewonnen haben« (a. a. O. S. 5). Es fragt sich nur, auf welchem Wege man zu diesen Grundbegriffen kommt. Sie sind eine bereits derartig komplizierte Tatsache, daß ihnen ein umfangreiches, freilich nicht ins Bewußtsein gelangendes Induktionsverfahren vorangegangen sein muß. CHAMBERLAIN ist geneigt, dieses Verfahren allein auf die geheimnisvolle Persönlichkeit des Biographen zurückzuführen, also als intuitiv und somit als unfaßbar hinzustellen. Wir aber wissen jetzt, [262] daß es bis zu einem gewissen Grade wissenschaftlich faßbar ist, und zwar wenn man die ruhmbildenden Faktoren berücksichtigt.
Die wissenschaftliche Biographik hebt im Gegensatz hierzu immer wieder hervor, daß sie induktiv verfährt. Man vergleiche etwa die einleitenden Worte in ERICH SCHMIDTs Lessing-Biographie mit denen Chamberlains. »Hier soll Lessing, der Mensch, der Dichter, der Forscher, nach den Geboten historischer Erkenntnis vor uns hintreten, die sich allerdings bescheidet, in die Geburt des Genies und die Geheimnisse der Individualität noch weniger eindringen zu können als in das Dämmerreich geistiger Konzeptionen, die aber, den seit Goethes großem Vorgang ausgebildeten Lehren treu, fragen will, was der Einzelne seiner Familie, seiner Heimat, seinen Schulen, seinem Volk, seinem Jahrhundert dankt und was die freiere Entfaltung seiner Eigenart diesem Zeitalter neues zugebracht hat.«! »Lessing«, Berlin 1909, 3. Noch deutlicher tritt die Induktivität des Verfahrens in einer methodologischen Auseinandersetzung über den Gegenstand hervor: »Das Material wird, soviel nur immer über eine Persönlichkeit herbeizuschaffen ist, gesammelt und gruppiert. – Die durch Zusammennehmen des Gemeinsamen und Ausscheiden des Widersprechenden entstandenen Gruppen werden wieder unter Oberbegriffe gestellt, die induktiv durch dasselbe Verfahren gewonnen sind. Und so fort, bis die ganze Pyramide in eine Spitze, die sensibilité, den psychischen Kern oder zentralen Punkt der Persönlichkeit ausläuft. Nun wird deterministisch und deduktiv von der Spitze aus der Charakter nach abwärts aufgebaut. Bei diesem Verfahren sind alle nebensächlichen, zufälligen, störenden oder widersprechenden Züge ausgemerzt und nur das im fortgesetzten Wandel des Ichs Konstante ist beibehalten.« MAX KEMMERICH, Die Porträtschilderung in Geschichte und Völkerkunde. Politisch-Anthropol. Revue, IV, 1905/6, 83. Dem wäre kaum etwas zu entgegnen, wenn der »zentrale Punkt«, von dem hier die Rede ist, wirklich nur durch Induktion gefunden wäre. Aber das ist höchstens, wie immer wieder hervorzuheben ist, bei den Individuen mit geringer Wirkung der Fall, die [263] noch dazu einer längst vergangenen Epoche angehören müssen. Schon wenn ERICH SCHMIDT eine Lessing-Biographie schreibt, steht der »zentrale Punkt« bei ihm fest, noch bevor er die »Gebote historischer Erkenntnis« angewandt hat.
Von den zwei Arten der Biographik, die hier auseinandergehalten sind, verfährt also die erste induktiver, die zweite deduktiver, als sie glaubt. So lange man nicht die Genesis der Erscheinungsformen berücksichtigt, ist jede – auch die rein wissenschaftliche – Biographik im stärksten Maße deduktiv. Aber die Allgemeinanschauung, von der sie ausgeht, kommt nur zum geringsten Teile durch die blitzartige, letzten Endes unbegreifliche Intuition des willig sich ergebenden Biographen zustande, von der CHAMBERLAIN spricht. Wäre wirklich nur sie vorhanden, so stände der Forscher außerhalb aller sozialen Bedingtheit. Wie stark aber diese Bedingtheit ist, kann jetzt nicht mehr zweifelhaft sein.
Nur in einem Falle ist sie es nicht, und zwar dann, wenn der Biograph ein Individuum »entdeckt« zu haben glaubt. Sehen wir von den bereits erwähnten, allerdings sehr zahlreichen Fällen ab, in denen der Biograph aus rein persönlichen Gründen zum Entdecken kommt, etwa um seine Originalität zu erweisen, um einen Freund zu fördern usw., so kämen wir an dieser Stelle – aber erst an dieser – freilich an den geheimnisvollen Rest, der nicht nur bei aller künstlerischen, sondern bis zu einem gewissen Grade auch bei aller wissenschaftlichen Arbeit bleibt. Hier hat die methodologische Erörterung ein Ende. Nur wo der Biograph aus anderen als persönlichen Gründen auf die Eminenz eines Individuums hinweist, das noch über keinerlei Erscheinungsform verfügt, steht er außerhalb des Traditionalismus, ist er sozial nicht bedingt. Aber auch dann noch ist er in den meisten Fällen unter der Macht psychischer Faktoren, wie des Verehrungs-, des Widerspruchs-, des Konzentrationsbedürfnisses, die das Bild des Individuums verzerren. Der »inventeur« braucht jetzt nur noch über ein gewisses Prestige zu verfügen, und die Erscheinungsform des Individuums entwickelt sich so, wie es vorher ausführlich dargelegt ist. Ist er schon nicht Produkt einer auf [264] den Nachahmungstrieb zurückgehenden Tradition, so ist er doch ihr Produzent.
Aber in einem Kapitel, das nur die Verhältnisse der historisch-biographischen Wissenschaft im engeren Sinne behandeln will, ist der Entdeckertätigkeit keine allzu große Bedeutung zuzuweisen. Denn gerade der Gelehrte ist nur in den seltensten Fällen »inventeur« in dem Sinne, der hier allein in Betracht kommt. Es würde schwer fallen, mehr als ganz wenige heut für besonders groß gehaltene Individuen zu nennen, die von der Wissenschaft »entdeckt« worden sind.