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8. Kapitel.
Das Konzentrationsbedürfnis und verwandte Erscheinungen.

Die Gefahr, daß mit zunehmender Kultur die Fülle der Vorstellungsmassen den Menschen erdrückt, hat frühzeitig zur Schaffung eines Hilfsmittels geführt, das die Fülle vermindert, die Massen zusammenpreßt und so ein leichteres Hantieren mit den Vorstellungen ermöglicht. Die gewaltige Bedeutung dieses Hilfsmittels wird klar, wenn man bedenkt, daß alle Begriffsbildung im Grunde nichts anderes ist als derartige Konzentration Der Ausdruck »Konzentration« ist von BERNHEIM übernommen (vgl. a. a. O. 483, 499, 779); doch ist er im folgenden in einer von BERNHEIM stark abweichenden Weise gebraucht., bedingt durch die überall bemerkbare und überall notwendige Ökonomie des Denkens. Selbst der Eigenname, der noch am ehesten eine einmalige und einheitliche Erscheinung bezeichnet, hat in gewissem Sinne bereits generelle Bedeutung: es können verschiedene Individuen denselben Namen tragen, und er bezeichnet – was wichtiger ist – das [99] einzelne Individuum in seinen verschiedenen Zuständen und Lagen. Hierauf weist WUNDT, Logik, I, 96 hin. In sehr viel stärkerem Maße stellt eine Konzentration von Vorstellungsmassen der Gattungsbegriff dar: Worte wie »Baum, Tier, Metall« sind nur noch Hilfsmittel und haben überhaupt keine dinglichen Korrelate in der Erscheinungswelt mehr. Der Konzentration von Vorstellungen entspricht eine – rein äußerliche – Konzentration von Worten. Wenn eine Sammlung von »Untersuchungen und Texten aus der deutschen und englischen Philologie« die Bezeichnung »Palästra«, eine »Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur« den kurzen Rufnamen »Logos«, eine »Zeitschrift f. d. Anwendung der Psychoanalyse« den Rufnamen »Imago« führt, liegen stets Fälle derartiger reiner Wortkonzentrationen vor. Am allerwenigsten könnten die historischen Wissenschaften ohne ständige Vorstellungskonzentration auskommen, die in einem oder wenigen kurzen Worten ausgedrückt wird. Zunächst ergibt sich für diese Wissenschaften nur die äußerliche Notwendigkeit, bestimmten Zeitabschnitten in der Darstellung eine kurze Überschrift zu geben. Für eine Geschichte der deutschen Literatur werden Worte gefunden wie »Romantik« und »Junges Deutschland«, für eine politische Geschichte des deutschen Volkes Worte wie »Reaktion« und »Liberalismus«. Ja historische Konzeptionen umfassendster Art, wie Comtes 3 Stadien, Lamprechts Kulturstufen, gehen letzten Endes auf das Konzentrationsbedürfnis zurück. Allmählich ergibt sich hier, was später noch ausführlich zu erörtern sein wird: man vergißt, wie und aus welchen Gründen die Konzentrationen zustande gekommen sind, und baut auf ihnen seine Urteile auf, anstatt auf den Vorstellungen, die ihnen zugrunde liegen.

In noch stärkerem Maße treten solche Urteilstrübungen in den Fällen von Konzentration ein, die uns in der vorliegenden Untersuchung einzig zu beschäftigen haben. Sehr häufig nämlich wird eine Vielheit von Vorstellungen nicht auf ein beliebiges Wort der Sprache, sondern auf den Namen eines bestimmten Individuums, eines eminenten oder eines eminent scheinenden, konzentriert. Es sind hier nun zwei verschiedene Arten von Konzentration möglich, deren Ungleichheit – bei aller inneren Verwandtschaft – doch nicht zu ver [100]kennen ist. Sie seien » Konzentration nach innen« und » Konzentration nach außen« genannt. Die erstere findet statt, wo die Leistungen der Individuen A, B, C, D, ... auf eines dieser 4, etwa das Individuum A, die letztere, wo die Eigenschaften oder Schicksale der Individuen A, B, C, D auf ein fünftes, ihnen ähnliches, etwa das Individuum E, konzentriert werden. Es ist nun schon hier evident, daß das Konzentrationsbedürfnis im einen Falle für das Individuum A, im anderen für das Individuum E in hohem Maße ruhmerweiternd bzw. ruhmzeugend wirken muß. Die Beachtung, die sich eigentlich auf alle Glieder der Reihe verteilen müßte, wird – aus Gründen der sprachlichen Ökonomie, wie nochmals hervorgehoben sei – einem einzigen zuteil, dessen Erscheinungsform dadurch – bald mehr, bald weniger – transformiert wird.

 

Konzentration nach innen. Aus dem – stets wiederholten und daher fast axiomatischen – Satze: »Bismarck ist der Gründer des Deutschen Reiches« ergeben sich bereits all die Konsequenzen, auf die es an dieser Stelle ankommt. Es werden in diesem Satz nicht nur die Leistungen Bismarcks und seiner hervorragendsten Helfer, etwa Moltkes und Roons, auf den einzigen Namen Bismarck konzentriert, sondern die Verdichtung erstreckt sich, wenn man den Gedanken nur einigermaßen zu Ende denkt, auf eine wahrhaft unermeßliche Fülle von Individuen und auch von Umständen, die ihrerseits wieder auf andere Individuen zurückgehen. Die Tatsache der Konzentration wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß die Gründung des Deutschen Reiches nur zum einen Teil eine diplomatische, zum anderen, beinah größeren eine militärische Leistung war. Wollte man nun Moltke den Gewinner des deutsch-französischen Krieges nennen, so würde natürlich auch hierin bereits eine sehr starke Konzentration liegen, die zuungunsten etwa des Generals von Steinmetz, des Prinzen Friedrich Karl und des Kronprinzen von Preußen vollzogen würde. Letzten Endes müßte man, wenn man schon den Satz von der Gründung des Deutschen Reiches auf den Teilsatz von der Gewinnung des deutsch-französischen Krieges beschränkte, jeden Unterführer, ja jeden Offizier und schließlich sogar jeden einzelnen Soldaten nennen. Selbst [101]verständlich wäre dies ein Unding. Der Satz »Bismarck ist der Gründer des Deutschen Reiches« enthält also nur nebenher eine historische Erkenntnis, vor allem ist er ein sprachliches Phänomen, d. h. stellt er eine Wortzusammendrängung dar, die durch die Ökonomie der Sprache bedingt ist.

Nur in einem gewissen Sinne drückt er eine Erkenntnis aus: die nämlich, daß in der langen Reihe von wirkenden Individuen Bismarck das eminenteste war. Würde ein anderes für eminenter gehalten, so würde die Konzentration auf dieses andere hin stattgefunden haben. Aber diese Erwägung bleibt beim Aussprechen des Satzes fast stets unterbewußt. In Wirklichkeit findet eine Vergleichung mit den anderen, mitwirkenden Individuen nur bei dem genaueren Kenner der Verhältnisse statt. Das Individuum, auf das hin konzentriert wird, gewinnt einen so hohen Grad von Gekanntheit, daß seine Erscheinungsform, besonders bei der Masse, im stärksten Maße transformiert werden muß. Das Verehrungsbedürfnis spricht, wie fast stets bei der Genesis des Ruhmes, natürlich auch hier mit und beschleunigt noch den Umwandlungsprozeß. Aber es bleibt in diesem Falle stets sekundäres Moment. Um denselben Fall von Konzentration nach innen handelt es sich überall da, wo etwa in einer Schlachtenbeschreibung nur der führende General, in einem Konzertbericht nur der Kapellmeister genannt wird. Aber in einer Theaterkritik nimmt im allgemeinen der Regisseur keinen größeren Raum ein als die Schauspieler, meist sogar einen kleineren. Dabei ist das Verhältnis des Regisseurs zum Schauspieler dasselbe wie das des Kapellmeisters zum ausübenden Musiker. Es zeigt sich hier wieder die Ausnahmestellung, die dem Schauspieler – aus den bereits genannten Gründen – allgemein eingeräumt wird. Der Führer ist also nicht nur eine sachliche, sondern auch eine sprachliche Notwendigkeit. Die Tatsache, daß er der Repräsentant der Geführten ist, in jeder Erörterung, die nicht endlos werden will, es auch sein muß, wirkt in demselben Maße, in dem sie für jene Geführten ruhmvermindernd ist, für ihn selbst ruhmverstärkend.

Aber das Individuum, das der Gegenstand der Konzentration ist, braucht nicht einmal in allen Fällen das eminenteste zu sein oder auch nur als solches zu erscheinen. Der [102] Erfinder- und Entdeckerruhm beweist das. Auch bei ihm nämlich handelt es sich sehr häufig um nichts anderes als um Konzentration nach innen, aber diese Konzentration geht hier auf andere, zum großen Teil äußerlichere Momente zurück als auf die Erkenntnis einer wirklichen oder einer vermeintlichen Eminenz. Es gibt nur sehr wenige Errungenschaften des menschlichen Geistes, deren endgültige oder doch der Gegenwart endgültig erscheinende Form auf eine einzige Persönlichkeit zurückgeht. Meistens werden technische oder wissenschaftliche Fortschritte in einer Anzahl von Etappen gemacht, an der eine ebenso große Anzahl von Individuen beteiligt ist. Den Ruhm aber hat, da das Konzentrationsbedürfnis stets wirksam ist, in sehr vielen Fällen wiederum nur ein einziger. Man vergegenwärtige sich den Leser eines modernen Buches, der sich plötzlich zu erinnern sucht, wem es zu verdanken ist, daß das Buch so gedruckt werden konnte. Er wird nicht an Gutenberg oder an Senefelder oder an Stanhope oder an Friedrich König oder an Applegath denken, noch viel weniger an alle zusammen, sondern vor allem, ja in den meisten Fällen allein an Gutenberg. Nebenher sei darauf hingewiesen, daß die Holländer nicht in Gutenberg, sondern in ihrem Landsmann Coster den Erfinder der Buchdruckerkunst sehen. Es beweist das von neuem die bereits erwähnte Tatsache, daß der Ruhm oft eine national bedingte Erscheinung ist. Es fragt sich nun zunächst, ob die geistige Leistung dessen, der – unter Benutzung des bereits bestehenden sog. Blockdruckes – darauf verfällt, bewegliche Lettern herzustellen (Gutenberg), überhaupt größer ist als die des anderen, der die Handpresse durch eine Druckmaschine ersetzt (König). Aber dieses selbst zugegeben: die Superiorität der Leistung Gutenbergs über die Königs steht in gar keinem Verhältnis zu der Superiorität des Gutenbergschen Ruhmes über den Königschen. Die Eminenz Gutenbergs oder auch nur der Glaube an sie kann also nicht der Grund für seine überragende Stellung im Gedächtnis der Nachwelt sein. Die Erklärung für die auffallende Tatsache liegt offenbar darin, daß Gutenberg der Beginner ist. Wer am Anfang einer Reihe steht, zieht die Aufmerksamkeit besonders leicht auf sich und wird der Repräsentant der übrigen. Aber das Beginnersein bringt nicht nur den Erfindern den [103] Ruhm, deren Leistung gerade durch ihre verblüffende Einfachheit immerhin noch eine gewisse Größe besitzt. Galvani kommt zu seiner Entdeckung durch einen völlig unerwarteten Zufall und trägt zu ihrer Verwertung fast nichts bei. Aber sein Name, nicht etwa der von Volta oder Faraday oder Helmholtz, bleibt unlösbar mit der Sache verknüpft, ja er wird sogar als Wort Eigentum der Sprache. Und es bleibt nicht bei dem Worte Galvanismus. Dinge, von denen Galvani nichts geahnt hat, wie Galvanoplastik, Galvanokaustik, Galvanometer u. a., halten, nur weil er zufällig am Anfang der Reihe steht, seinen Namen Jahrhunderte hindurch lebendig. BURCKHARDT, Weltgeschichtl. Betr., 217: »Immerhin behauptet bei wichtigen Entdeckungen in der Ferne der erste Entdecker einen unverhältnismäßigen Glanz, obwohl wir wissen, daß die Größe im Objekt und nicht im Manne liegt«.

Nächst dem Beginner ist in sehr vielen Fällen der Vollender der Gegenstand der Konzentration nach innen und damit der Träger des Ruhmes. Das ist namentlich da der Fall, wo nicht ein glücklicher Einfall oder gar ein Zufall oder auch ein Experimentieren zu anderen Zwecken – man denke an die Röntgenstrahlen – zu der Entdeckung führt, sondern wo das Ziel im voraus erkannt ist und man ihm durch planmäßiges Arbeiten näher zu kommen sucht. Seine Erreichung ist fast stets erst möglich, nachdem eine Reihe von Individuen Versuche, und zwar mißlungene Versuche, gemacht hat. Die Eminenz dieser Individuen, von denen jedes die Arbeit seiner Vorgänger benutzt, braucht darum nicht geringer zu sein als die des letzten, das nur den Schlußstein an den Bau setzt und dann der wartenden, gerade durch die vielen Mißerfolge erregten Masse das vollendete Werk vorführt. Aber den Ruhm hat – was in diesem Falle leicht zu begreifen ist – nur der Vollender. Es besteht heute gar kein Zweifel mehr, daß an der Erfindung des lenkbaren Luftschiffs Männer wie Giffard, Dupuy de Lôme, Hänlein, Wölfert, Schwarz u. a. nicht weniger beteiligt sind als Zeppelin. Trotzdem ist – wenigstens in Deutschland nur der Name dieses letzten durchgedrungen. Einer von den Gründen hierfür ist bereits im vorigen Kapitel genannt worden. Hier ist darauf hinzuweisen, daß Zeppelin schließlich der [104]jenige war, der – unter Benutzung der Arbeit seiner Vorgänger – das Werk vollenden und das vollendete dem begeisterten, mit Recht begeisterten Volke an glücklichen Tagen vorführen konnte.

Natürlich sind mit den Typen des Beginners und Vollenders alle Konzentrationsmöglichkeiten nicht erschöpft. Von den Fällen, in denen derartiger Ruhm auf Irrtümer zurückgebt, wird hier abgesehen, da sie außerhalb der hier zu betrachtenden Erscheinungen liegen. Beispiele hierfür bieten HERTSLET (vgl. S. 105) und auch S. WIDMANN, Geschichtsel, Mißverstandenes und Mißverständliches aus der Geschichte, 1891. Zuweilen sind reine Zufälle wirksam. So geht es sicherlich z. T. auf Zufälligkeiten zurück, daß der Ruhm der Urheberschaft des Entwicklungsgedankens sich an Darwin und nicht an Wallace geknüpft hat. Rationaler sind die Verhältnisse, wenn auf ein Individuum hin konzentriert wird, das bereits vorher die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat, aber gerade an der einen Leistung nur unwesentlich, vielleicht sogar gar nicht beteiligt ist. Besonders »in den Anfängen der Staatengeschichte figurieren namhafte Persönlichkeiten, wo einer solchen beigelegt wird, was das Werk einer unbekannten Pluralität war.« W. WACHSMUTH, Über die Quellen der Geschichtsfälschung (Berichte über die Verhandl. d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wissenschaften zu Leipzig, Philolog.–histor. Klasse VIII, 1856, S. 143). Eine ganze Reihe von Gesetzessammlungen ist so mit dem Namen je eines Individuums verbunden worden, das nur mittelbare Beziehungen dazu hat. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die sog. Lykurgischen Gesetze. Ist man doch soweit gegangen, dem Lykurgos jegliche menschliche Existenz abzusprechen und in ihm eine peloponnesische Gottheit zu sehen. Mit der Solonischen Gesetzgebung ist es ähnlich, und auch die Zurückführung sämtlicher altisraelitischen Gesetze auf Moses kann, wie sich immer deutlicher herausstellt, nichts anderes sein als ein Akt der Konzentration. Der sprachlichen Notwendigkeit kommen freilich auch hier überall im stärksten Maße Nationalstolz und Verehrungsbedürfnis entgegen.

Nahe verwandt mit diesen Konzentrationsformen sind die Erscheinungen der Personifikation und Lokalisation: historische Geschehnisse oder auch Sagen werden auf eine [105] Persönlichkeit und damit auf einen Ort konzentriert, weil sie dadurch anschaulicher werden. Die eben genannten Beispiele, die sich leicht vermehren ließen – vgl. BERNHEIM a. a. O. 499f. – gehören auch hierher. Der Widerwille des Volkes gegen Anonymität ist so groß, daß es sie auch da beseitigt, wo die Konzentrierung auf ein bereits bekanntes historisches Individuum nicht möglich ist, also eine völlig sagenhafte Person erst neu geschaffen werden muß. »Obwohl über die Magier aus dem Osten im Neuen Testamente weder hinsichtlich der Zahlen noch der Namen eine Andeutung gemacht wird, müssen die heiligen drei Könige Kaspar, Melchior, Balthasar heißen ... Der Hauptmann unterm Kreuze Jesu hieß angeblich Longinus und stammte aus Zöbingen bei Ellwangen in Württemberg« HERTSLET, Treppenwitz der Weltgeschichte. Berlin 1912, 17. Sucht der Trieb sich bereits auf diese gekünstelte Weise zu äußern, so ist leicht ersichtlich, wie stark er da ruhmfördernd zu wirken vermag, wo er ein bereits gekanntes, historisches Individuum benutzen kann.

 

Konzentration nach außen. Haben wir uns im vorhergehenden aus dem Gebiet des rein Sprachlichen allmählich entfernt, so führen die folgenden Betrachtungen wieder ganz dahin zurück. Es wurde bereits auf die – sehr einfache – Form der reinen Wortkonzentration hingewiesen, die namentlich bei Titeln und Überschriften notwendig ist. Gegenstand solcher Verdichtungen sind nun oft auch Personennamen, namentlich in historischen Betrachtungen. Wenn etwa von einem Perikleischen Zeitalter, einem Elisabethanischen England die Rede ist, so handelt es sich hier, wie ohne weiteres klar ist, zunächst noch um Konzentration nach innen. Anders liegt der Fall, wo z. B. ein Gesetz »Lex Heinze«, ein Geschäftspalast – er steht in Berlin – »Fuggerhaus« genannt wird. Das Gesetz betrifft ebenso wenig das Individuum Heinze selbst, wie in jenem Geschäftshause Angehörige der Familie Fugger wohnen. Die Notwendigkeit der Namengebung hat dazu geführt, daß Individuen gewählt wurden, deren Schicksale, Eigenschaften oder Leistungen denen derjenigen Individuen ähnlich sind, für die jene Institutionen wirklich geschaffen wurden. Es handelt [106] sich also hier um die ruhmbildende Macht, die vorher Konzentration nach außen genannt worden ist. Die stete Nennung des Namens, der schließlich – zusammen mit dem anderen Teil der Gesamtbezeichnung – völlig Eigentum der Sprache wird, läßt die Erinnerung an das Individuum nicht mehr einschlafen und verhilft – die Lex Heinze zeigt das besonders deutlich – auch den fragwürdigsten Gestalten zu einem hohen Grade der Gekanntheit.

Ähnliche, wenn auch freilich etwas kompliziertere Formen von Konzentration nach außen stellen Bezeichnungen dar wie »Dürer-Bund«, »Goethe-Bund«, »Kleist-Stiftung« u. ä. Man war gezwungen, für die wortreiche Bezeichnung »Bund zur praktischen Förderung der Ausdruckskultur« oder »Stiftung für verkannte und in Not geratene Dichter« einen kürzeren Ausdruck zu finden und wählte dazu wiederum Individuen, deren Namen eine Verdichtung der Anschauungen und Bestrebungen darstellt, die durch jene Institutionen verkörpert werden. Auch haben die Verbände mit den Individuen selbst, also etwa der Erforschung ihres Lebens und ihrer Werke, ebenso wenig zu tun wie die Lex Heinze mit Heinze, das Fuggerhaus mit Fugger. Nur kommt hier als sehr bedeutsamer Faktor – wie so oft – das Verehrungsbedürfnis hinzu. In Fällen wie »Kleist-Stiftung« wird das besonders klar, da die Stiftung bei Gelegenheit eines Kleistjubiläums begründet wurde und in der Tat neben ihrem eigentlichen Zweck noch einen anderen verfolgt: den, die Erinnerung an das Individuum Kleist wach zu halten. Aber der Unterschied, der zwischen den 3 Bezeichnungen: Kleist-Straße, Kleist-Stiftung und Kleist-Museum besteht, ist nicht zu verkennen. Die Benennung von Straßen, Schulen und Städten nach Individuen geht, wie sich gezeigt hat, fast stets auf das Verehrungsbedürfnis allein zurück. Es sei denn, daß eine Straße nach dm eminenten Individuum, das in ihr gewohnt hat, eine Schule nach dem, das sie besucht hat, usw. benannt wird. Aber das ist ja nur selten der Fall. Vgl. S. 79f. Eine nähere Beziehung zu dem zu verehrenden Individuum ist meist nicht von nöten, und man könnte für jede Kleist-Straße auch Schiller-Straße oder Uhland-Straße sagen. Aber die obige Kleist-Stiftung hätte man niemals Uhland- [107]Stiftung nennen können. Der Zusammenhang zwischen Namen und Sache ist hier bereits sehr viel enger, wenn er auch freilich sekundäres Moment bleibt: alle die Dichter, denen es im Leben schlecht gegangen ist, hätten ihren Namen dazu hergeben können. Am engsten ist der Zusammenhang in »Kleist-Museum« oder auch in »Goethe-Jahrbuch«, »Shakespeare-Gesellschaft« usw. Denn hier ist die Sache mit dem jeweilig genannten Namen, und nur mit ihm, untrennbar verbunden; eine Konzentration irgend welcher Art liegt also nicht mehr vor.

Schon in den eben besprochenen Fällen handelt es sich am Ende um Symbolisierungsakte: für die Begründer des Dürerbundes ist Dürer ebenso das Symbol gesunder, germanischer Weltanschauung, wie für die Begründer der Kleist-Stiftung Kleist das Symbol verkannten, ewig mit dem Schicksal kämpfenden Dichtertums ist. Und es ist nicht einmal nötig, daß diese Symbolisierung sprachlich fixiert wird: die Vorstellungskonzentration braucht nicht zur Wortkonzentration zu werden. NIETZSCHE sagt einmal: »Dem großen Manne macht man in späteren Jahrhunderten alle großen Eigenschaften und Tugenden seines Jahrhunderts zum Geschenk, und so wird alles Beste fortwährend durch die Pietät verdunkelt, welche es als ein heiliges Bild ansieht, an dem man Weihgeschenke aller Art aufhängt und aufstellt – bis es endlich ganz durch dieselben verdeckt und umhüllt wird und fürderhin mehr ein Gegenstand des Glaubens als des Schauens ist« (Menschl. Allzumenschliches II, Aph. 207). Ein solcher Symbolisierungsakt liegt vor, wenn z. B. das jüdische Volk Moses zu einer Verkörperung seiner Ideale macht. ACHAD HAAM hat in einer aufschlußreichen Untersuchung gezeigt, daß diese Ideale – das der Wahrheit, des Extrems und der absoluten Gerechtigkeit – im voraus beim Volke allgemein anerkannt waren und daß sie dann auf Moses, dessen – wie er sagt »archäologische« Persönlichkeit dem gar nicht entsprochen zu haben brauche, übertragen wurden. Der Aufsatz (in Al parasath derakhim III, 210ff.), der in hebräischer Sprache geschrieben ist, ist mir leider unzugänglich. Ich verdanke einen Hinweis darauf A. SCHLESINGERS »Die Methode der historisch–völkerpsychologischen Begriffsanalyse«. Arch. f. d. ges. Psychol. 20, 1911, 168ff. Dort ist auch erwähnt, daß ACHAD HAAM zwischen dem »archäologischen« und dem »historischen« Moses scheidet, was also unserer Trennung des Individuums an sich und seiner Erscheinungsformen ziemlich genau zu entsprechen scheint. Ganz ähnlich ist die Art, wie die »Stürmer [108] und Dränger« mit Shakespeare verfahren. Das Individuum an sich muß auch hier völlig zurücktreten: es wird zu einem Symbol all der Wünsche und Sehnsüchte, die in ihnen selbst lebendig sind. »In der Hurrah-für-Shakespeare-Epoche der Stürmer und Dränger ... steht Shakespeares Name für die Forderung unbegrenzter Regellosigkeit, für die Verächtlichmachung aller theoretischen Untersuchung und Erkenntnis; in ihr gilt der dunkle Schaffensdrang des Dichters als das Geniale und Maßgebende und als die einzige Richtschnur der Kunst.« MARIE JOACHIM-DEGE, Deutsche Shakespeare-Probleme im 18. Jahrhundert und im Zeitalter der Romantik. Leipzig 1907, 63. – Ganz ähnlich, sogar mit Nennung des Wortes Symbol, ALBERT LUDWIG: »Shakespeare war den Deutschen seit der Zeit der Stürmer und Dränger vielmehr ein Symbol als eine bestimmte, fest umrissene Persönlichkeit gewesen, und dabei blieb es auch jetzt (um 1840)« (Schiller u. d. d. Nachw., 330). Wir sehen hier wieder deutlich, daß das Primäre eine Stimmung des Subjekts, in diesem Falle also der Stürmer und Dränger, ist. Das Objekt ist sekundärer Faktor: es ist der Punkt‚ auf den hin konzentriert wird. Mit ziemlicher Sicherheit ist anzunehmen, daß, wenn der einflußreiche Lessing nicht auf Shakespeare hingewiesen hätte, eine andere, gerade naheliegende Persönlichkeit zum Symbol erhoben worden wäre. Nötig wäre nur gewesen, daß die Strebungen dieser Persönlichkeit eine gewisse Ähnlichkeit mit denen der Epoche hatten.

 

Metaphorischer Gebrauch des Eigennamens. Einen Akt der Konzentration nach außen stellt auch die rein metaphorische Verwendung des Eigennamens dar, die von der symbolisierenden ja nur wenig verschieden ist. In der Bezeichnung »Kleist-Stiftung« ist der Name Kleist – neben allem anderen – auch zur Metapher geworden, natürlich nur für diejenigen, die die Lebensschicksale Kleists kennen und so die Gleichsetzung sofort zu vollziehen vermögen. Die Übertragung von Vorstellungen »aus einer weniger anschaulichen oder weniger bekannten Sphäre in die bekanntere« R. M. MEYER, Deutsche Stilistik, 111. wird noch [109] deutlicher in einer Reihe von anderen Fällen, in denen der Name von Individuen zur Bezeichnung bestimmter Charaktereigenschaften verwandt wird. Es soll etwa eine Frau geschildert werden, die unverträglich und zänkisch ist und ihrem Manne das Leben sauer macht: man nennt sie Xanthippe. Ein Mann, der als generöser Kenner Künstler unterstützt, wird Mäcen, ein anderer, der ein skrupelloser Frauenjäger ist, Don Juan genannt. Derjenige, der den Satz »A. ist ein Mäcen« ausspricht, setzt bei seinem Hörer selbstverständlich voraus, daß ihm zwar A. unbekannt, aber Mäcen bekannt ist. Der Eigenname gibt hier also seine ursprüngliche Natur vollständig auf und hat nur noch generelle Bedeutung. Da sich aber trotzdem die Erinnerung an seinen eigentlichen Träger nur wenig, zuweilen gar nicht verliert, kann die ruhmbildende Macht dieses Sprachgebrauchs keinem Zweifel unterliegen. Wenn auch Mäcen und Don Juan ihren Ruhm zum Teil anderen, später zu besprechenden Faktoren verdanken, liegt der Fall Xanthippe völlig klar. Wer hätte von ihr etwas gewußt, wenn ihr Name nicht Charakterbezeichnung geworden und als solche nicht ständig in aller Munde wäre?

Diese metaphorische, schlagwortartige Verwendung von Eigennamen ist sehr verbreitet. Es gehören dazu adjektivische Bezeichnungen wie »Katilinarische Existenz«, »Potemkinsche Dörfer«, »Goethesche Weisheit«, »Schillersche Rhetorik«, »Heinescher Witz«, Wortzusammensetzungen wie »Judas-Lohn«, »Herostraten-Ruhm«, »Pyrrhus-Sieg«, »Titus-Kopf«, wenn wir auch sagenhafte Individuen nennen wollen, »Tantalus-Qualen«, »Sisyphus-Arbeit« u. a. m. Selbst ganze Wortgruppen – wie etwa »Ei des Kolumbus« – stellen solche Konzentrationen nach außen dar. Ziemlich groß ist auch die Gruppe der mit Suffixen versehenen Nomina propria, wie Mausoleum, Cicerone, Eulenspiegelei, Verballhornisieren, Utopie (nicht Persönlichkeits-, sondern Werkruhm) usw. Ebenso wie die vorhergehenden bezeichnen diese Wörter Persönlichkeiten oder Werke, die mit den Persönlichkeiten oder Werken, nach denen sie genannt sind, nur Ähnlichkeit haben. Man wird freilich die ruhmbildende Macht dieser wie schon einiger vorher genannten Bezeichnungen nur für gering halten dürfen. Wer von einem Mausoleum spricht, denkt ebenso selten an den karischen [110] König Mausolos, wie der von Utopien redende an den Roman »Utopia« des Thomas More denkt. Bei den auf das Verehrungsbedürfnis zurückgehenden Bezeichnungen von Schulen, Straßen, Städten usw. nach Individuen ist es ähnlich: der Name Mommsenstraße wird in Wahrheit nur verhältnismäßig selten die Erinnerung an das Individuum Mommsen, der Name Petersburg die an das Individuum Peter der Große wachrufen. Aber oft genug wird er es tun, und selbst wo er es nicht tut, wirkt er in anderer Weise ruhmerweiternd: man stelle sich vor, daß ein Angehöriger etwa der Masse dritten Grades, der das Wort Mommsenstraße oft gebraucht hat, aber nichts von dem Historiker Mommsen weiß, nachträglich dessen Werke in die Hand bekommt. Er wird sofort im günstigen Sinne voreingenommen sein; denn er macht den Schluß: dieser Mann ist so eminent, daß nach ihm eine Straße benannt wurde. Noch stärker ist natürlich die ruhmbildende Macht bei den eben genannten nichteminenten Berühmtheiten wie Mausolos, Eulenspiegel, Ballhorn.


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