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Was die vorhergehenden Kapitel zu geben versucht haben, war der erste und größere Teil einer Antwort auf die Frage, die im Mittelpunkt dieser Schrift steht: wie nämlich das Urteil über die größere oder geringere Eminenz eines Individuums zustande komme. Daß auch nur dieser erste Teil erschöpfend sei, wird keineswegs angenommen. Aber viel wäre bereits mit der Erkenntnis gewonnen, daß der Prozeß dieser Urteilsentstehung unendlich vielfältig ist, daß für ihn neben einer Anzahl psychischer Bedürfnisse fast alle Formen und Institutionen der Gesellschaft in Betracht kommen, daß seine Wirksamkeit in modernen Epochen immer umfassender und tiefergreifend wird und daß von einer wahren, die historischen Tatsachen rein darstellenden Geschichtswissenschaft nicht die Rede sein kann, wenn er nicht unaufhörlich berücksichtigt wird.
In der langen Reihe der ruhmbildenden Faktoren wurde einem stets eine besondere Stelle eingeräumt: der Eminenz. Sie ist derjenige Faktor, der für das naive Bewußtsein die einzige Ursache des Ruhmes, also die einzige der Erscheinungsform zugrunde liegende Realität ist. Bezeichnet man sie daher als rationalen Faktor, so müssen alle anderen, d. h. die vor allem vom Subjekt der Betrachtung, der Masse, ausgehenden, irrational genannt werden. Nur ist bei der Verwendung dieses Ausdrucks stets zu beachten, daß es sich hier [206] nicht um eine reine Irrationalität handelt. Müßte man doch sonst jede historische Erkenntnis, die ja ohne Mittätigkeit des Subjekts nie möglich ist, irrational nennen. Alle lähmende Skepsis wird gebannt durch die Einsicht, daß die Entwicklung, die die Erscheinungsform des Individuums nach unserer Darstellung durchmacht, die natürliche, daß eine andere bei der Eigenart des menschlichen Erkenntnisvermögens gar nicht denkbar ist.
Indes wurde bisher ein Faktor übergangen, den man – zunächst – unter allen Umständen als rational wird bezeichnen müssen: die historisch-biographische Wissenschaft. Zwar geht auch dieser Faktor vom Subjekt der Betrachtung aus. Aber das Subjekt ist, wenigstens überall da, wo es sich um höhere Formen der Wissenschaft handelt – und nur von ihnen ist hier die Rede – besonderer Art: die altruistischen, egoistischen, kapitalistischen usw. Bedürfnisse und Interessen, die mit dem Individuum an sich gar nichts zu tun haben, treten merklich zurück hinter dem Streben, das Individuum so darzustellen, »wie es eigentlich gewesen ist.« Im Idealfalle verschwindet das Subjekt völlig hinter dem Objekt. Der Forscher, der über ein Individuum oder eins seiner Werke eine Abhandlung veröffentlicht, kann ruhmzeugend oder ruhmerweiternd also nur in dem Sinne wirken, daß er einem Individuum, das bisher gar nicht oder nur wenig gekannt war, zu einer gewissen Gekanntheit verhilft. Aber sie erstreckt sich nur auf einen kleinen Kreis, dem selbst jene irrationalen Tendenzen fern liegen, und wird daher nicht so leicht eine Transformierung der Erscheinungsform zur Folge haben.
Wirklich ruhmzeugend ist die Wissenschaft nur in den Fällen, in denen es sich um Individuen aus früherer Zeit handelt, die nur geringe historische Wirksamkeit gehabt haben und daher jetzt als Eminenzen niedrigeren Grades erscheinen. Mit allem Nachdruck ist darauf hinzuweisen, daß jene Individuen der Vergangenheit angehören müssen. Je weiter wir in moderne Epochen hinaufsteigen, desto mehr verschieben sich die Verhältnisse: nicht mehr beschäftigt sich die Wissenschaft zuerst mit dem Individuum und verursacht sein Eindringen in die Zeitung, die Populärliteratur, die Kunst, den Handel usw., sondern umgekehrt: die Pressereife, Lexikonreife, [207] Übersetzungsreife, Verlagsreife ist das Primäre, und danach erst wird das Individuum Gegenstand historischer Forschung. Die Tolstoi, Ibsen, Rodin, Liebermann usw. werden von der zünftigen Literatur- oder Kunstgeschichte erst behandelt werden, nachdem die übrigen Faktoren ihre Erscheinungsform fast völlig festgelegt haben.
Betrachten wir als Gegenbeispiel die Geschichte der älteren deutschen Literatur, so ergibt sich etwa, daß Individuen wie die mittelalterlichen Minnesänger Dietmar von Eist und Friedrich von Hausen oder die Spruchdichter Boppe und Rumezland und viele andere in einem Zustande völliger Ungekanntheit verblieben wären, wenn die germanische Philologie nicht auf sie hingewiesen hätte. Jetzt sind sie, wenn auch in einem engen Kreise, gekannt: ihre Werke sind sorgfältig herausgegeben und in literar- und sprachhistorischer Beziehung eingehend untersucht. Ein paradoxer Mann braucht nun bloß den Einfall zu haben, in einem von ihnen eine Eminenz zu erblicken: er wird stets seine Ansicht zu der allgemeinen machen können, wenn er einflußreich ist, d. h. wenn er Beziehungen zu den übrigen, die große Masse bestimmenden Faktoren hat. Jetzt jedoch steht der wissenschaftliche Biograph derartigen Individuen fast völlig unbefangen gegenüber: da irgendwelche überlieferte Erscheinungsform nicht vorliegt, ist es ihm, falls er überhaupt die Fähigkeit zu objektivem Urteil besitzt, möglich, bis nahe an das Individuum an sich vorzudringen.
Indes können Individuen, auf die die Wissenschaft zum ersten Mal hingewiesen hat, auch zu stärkeren Ruhmformen gelangen. Bleiben wir bei der deutschen Literatur, so sind Namen wie Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg und namentlich Walther von der Vogelweide in sehr weite Kreise eingedrungen. Es liegt hier nicht etwa eine vom Lebenden ausgehende und dann nicht mehr unterbrochene Nachwirkung vor. Selbst Walther, der bei seinen Zeitgenossen in hohem Ansehen stand, ist im 16. und 17. Jahrhundert fast unbekannt, wird im 18. zu spärlichem Leben erweckt und auch von den Klassikern fast gar nicht beachtet. Erst als unter dem Einfluß der Romantik die germanische Philologie entsteht und Ludwig Uhland 1822 seine gelehrte Monographie [208] über ihn veröffentlicht, fängt eine neue Erscheinungsform des Dichters sich zu bilden an. Vgl. dazu HERMANN MICHEL, Walther von der Vogelweide. Leipzig 1917, XIIIff., (Pfeiffer, Deutsche Klassiker des M. A., Bd. 1). Es handelt sich also auch hier um wirkliche Ruhmzeugung durch die Wissenschaft. Aber anders als in den erst genannten Fällen bemächtigen sich alsbald auch die übrigen Faktoren des neuentdeckten Individuums: es wird – 1833 von Simrock und später noch häufig – übersetzt, wird danach Gegenstand der populärwissenschaftlichen Literaturbetrachtung und schließlich Schulschriftsteller. Selbst Objekt künstlerischer Darstellung wird Walther ebenso wie Wolfram. Die heutige Erscheinungsform Walthers geht also auf eine ganze Anzahl von heterogenen Faktoren zurück. Von den Schwierigkeiten, die sich aus dieser Komplikation selbst für den Biographen ergeben, der den stärksten Willen zur Objektivität hat, wird später noch zu handeln sein.
Aber nicht bei allen Individuen, die einer fernen Vergangenheit angehören, wirkt die Wissenschaft ruhmzeugend. Es tritt sogar weit häufiger ein, daß die Erinnerung an die Persönlichkeit in der Masse Jahrhunderte hindurch lebendig bleibt und eine bald stärkere, bald geringere Transformation die Folge davon ist. Das ist stets bei Individuen der Fall, deren Werk die Geschicke der Umwelt unmittelbar beeinflußt hat, besonders also bei religiösen und politischen, überhaupt bei allen Tateminenzen. Christus, Karl der Große, Luther brauchten von der Wissenschaft nicht erst »entdeckt« zu werden. Auch Dante und Petrarca leben – anders als ihr Zunftgenosse Walther in Deutschland – bei ihren italienischen Landsleuten ununterbrochen fort. Aber in einem gegebenen Zeitpunkt bemächtigt sich auch dieser Individuen die Wissenschaft. Selbst für eine moderne Persönlichkeit, für Schiller, sind zu scheiden die Periode »der populären Schillerverehrung« und die der »tieferen, von Zeitstimmungen unabhängigen, von historischem Verständnis begründeten Einsicht in die Bedeutung des Dichters« (LUDWIG, Sch. u. d. deutsche Nachw., 440).
Die Aufgabe, die der Wissenschaft in all solchen Fällen erwächst, ist eine andere als in den erstgenannten: sie wirkt jetzt nicht mehr ruhmzeugend, sondern ist bis zu einem ge [209] wissen Grade ein Korrektiv für die übrigen ruhmbildenden Faktoren. Es wird sich nun später noch zeigen, ob wirklich eine Unabhängigkeit von Zeitstimmungen, wie LUDWIG sie im Sinne hat, denkbar ist. Aber sicher ist, daß die moderne historisch-biographische Wissenschaft – mit der Verfeinerung ihrer Methoden und der starken Zurückdrängung subjektiver Momente – die durch die anderen Faktoren verzerrte Erscheinungsform des Individuums in manchen Fällen auf ein Maß zurückzuführen vermag, das dem richtigen nahe kommt. Dies leugnen könnte nur der, der die großen Fortschritte übersieht, welche in den letzten Jahrzehnten – um nur einige Beispiele anzuführen – auf dem Gebiete der Diplomatik in der politischen, auf dem der Stilkritik in der Literarhistorie gemacht worden sind. Aber trotzdem hat selbst die reine Form der Geschichtswissenschaft, an die hier einzig gedacht ist, bereits Tendenzen in sich, die ihrerseits transformierend wirken, vom Individuum an sich also abführen.
In England ist der Ausdruck »lues Boswelliana« zu einem geflügelten Wort geworden. Er bezieht sich auf BOSWELLs bekanntes – in England auch viel bewundertes – »Life of Samuel Johnson«, eine bis ins einzelnste gehende Biographie, und spielt auf die »Bewunderungssucht an, in welche Biographen, Übersetzer und Herausgeber unter dem Einfluß ihrer Beschäftigung nur allzu leicht verfallen« Vgl. RUD. HAYM, Gesammelte Aufsätze. Berlin 1903, 211. Was bei BOSWELL in einer zuweilen bis ins Groteske übertriebenen Form erscheint, gilt, auf ein natürliches Maß zurückgeführt, als beinahe selbstverständliche Grundregel für alle Biographik. DOVE spricht einmal – bei Gelegenheit RANKEs – von der »ebenso natürlichen wie gewöhnlichen Überschätzung des Helden« als von einer »biographischen Tugend«. »Rankes Verhältnis zur Biographie« (Biographische Blätter, I, 1895, 8). Zweifellos muß in dieser Vorliebe des Biographen für seinen Helden auch der eine »Tugend« sehen, dessen einziges Ziel die reine Erkenntnis des Individuums ist. Liebe sieht scharf. Sie veranlaßt den Biographen, sich in Einzelheiten zu versenken, die dem kalt Beobachtenden verborgen blieben, und treibt ihn vor allem, [210] in der Persönlichkeit und im Werk seines Helden Züge aufzuspüren, die seinem eigenen, des Biographen, Wesen verwandt sind. Denn das Verwandte ist der Erkenntnis zugänglicher als das Fremde. Aber schon hierin liegt eine Gefahr. Der Umstand, daß reine Erkenntnis durch Wesensverwandtheit erleichtert wird, führt dazu, die Züge, in denen es sich um wirkliche Verwandtheit handelt, stärker herauszuarbeiten, als dem Gesamtbilde zuträglich ist, hat also schließlich doch eine Verzerrung des Bildes zur Folge. Ja in Fällen, in denen der Biograph eine besonders scharf ausgeprägte Persönlichkeit ist, wird auf diese Weise der Biographierte ihm selber immer ähnlicher. Das Verhältnis ist fast so wie das des Porträtmalers zu seinem Modell. Betrachten wir etwa zwei Goethebücher aus der letzten Zeit, so ist bei H. ST. CHAMBERLAIN »Goethe«. München 1912 Goethe nicht so sehr der Dichter als vielmehr das, was Chamberlain ist, der Naturerforscher und der Germanomane mit stark antisemitischen Neigungen. Bei SIMMEL »Goethe«. Leipzig 1913. hingegen wird Goethe etwas dem Simmel Ähnliches: ein Mensch, der sein Leben nicht auf der Anschauung, sondern auf einer abstrakten philosophischen Formel – »Objektivierung des Subjekts« – aufbaut. Diese beiden Werke tragen also insofern zur Erkenntnis des Individuums bei, als sie auf Züge, die man bisher nicht genügend beachtet hat, mit Nachdruck hinweisen. Aber dieser Nachdruck ist so stark, daß sie im ganzen beinah bezeichnender für die Subjekte sind als für das Objekt. Es gibt zu denken, daß das bekannte Sprichwort nicht heißt: »Liebe macht scharfsehend«, sondern »Liebe macht blind«.
Aber geben wir selbst zu, daß Sympathie den Blick schärft, so tut es doch Antipathie nicht weniger. Um dem Gegner zu schaden, spürt der Feind jede schwache Stelle bei ihm auf und legt sie bloß. Der ethisch zu verwerfende Zweck dieses Bloßlegens kommt hier nicht in Betracht; wichtig ist nur, daß es sich um Stellen handelt, die dem Auge des Liebenden entgehen und entgehen müssen, daß die reine Erkenntnis dadurch also gefördert wird. Es ist heute nicht mehr [211] zu bezweifeln, daß die vom Haß getriebenen katholischen Lutherbiographen – es seien hier nur die Namen Denifle und Grisar genannt – für die Erkenntnis des Individuums Luther sehr wertvolle Beiträge geliefert haben. Das wird auch von Protestanten, soweit sie objektiv sind, anerkannt. Wollte man behaupten, daß ein wirkliches Eindringen in das Wesen einer Persönlichkeit nur durch Sympathie oder doch durch den Willen zu ihr ermöglicht wird, so würde sich ergeben, daß all die Individuen, denen die Historiker von jeher mit Antipathie gegenüberstanden – man denke an die grausamen und unfähigen Herrscher etwa der römischen Kaiserzeit, an Renaissancemenschen wie Cesare Borgia, an Literaten wie Kotzebue – in ihrem wirklichen Wesen niemals erkannt worden sind. Doch dagegen sträubt sich das Gefühl. Müßte man doch aus dieser Ansicht weiter folgern, daß überhaupt nur diejenigen Beurteiler eines historischen Individuums im Recht sind, die an ihm das Gute erkennen.
Für und gegen das eine Extrem, die Liebe, spricht – falls man nur das Ziel der reinen Erkenntnis im Auge hat – ebenso viel wie für und gegen das andere Extrem, den Haß. Da das Ideal der völligen Enthaltung von Liebe und Haß selbstverständlich niemals zu erreichen sein wird, sollte man nach dem vorhergehenden zum mindesten annehmen, daß im Gesamtverlauf der Biographik beide Richtungen etwa gleichmäßig zum Ausdruck kommen. Das ist aber, wie schon eine flüchtige Überlegung ergibt, nicht der Fall: bei Einzeldarstellungen hat der liebende oder doch zum mindesten der wohlwollende Biograph bei weitem das Übergewicht. Daß das Streben nach reiner Erkenntnis hierfür nicht maßgebend sein kann, wissen wir jetzt. Somit bleibt als Erklärung für die auffallende Tatsache nur der psychische Faktor, dem wir nun schon so oft begegnet sind, dem sich also auch die Wissenschaft in ihren reinen Formen nicht entziehen kann: das Verehrungsbedürfnis. Es ist dies ein erster Hinweis auf den Satz, der später noch ausführlich zu erörtern sein wird: daß zwischen der wissenschaftlichen und der populären Betrachtung des Individuums nur quantitative, nicht qualitative Unterschiede bestehen.
Aber noch andere transformierende Tendenzen hat der [212] heutige Betrieb der historisch-biographischen Wissenschaften. Es ist hier vor allem an ihre Überproduktion, also an das gedacht, was man mit einem treffenden Ausdruck »furor biographicus« genannt hat. Der Ausdruck stammt, soweit mir bekannt ist, von ALBERT LUDWIG, a. a. O. 360 Der leichte Spott‚ der in diesen Worten liegt, ist nicht dem gleichzustellen, der oft genug von Laien über die Überproduktion von politischen, Literar- und Kunsthistorikern ausgeschüttet wird. Der ästhetisierende Laie behauptet, daß die Wissenschaft – infolge der Eigenart ihres Standpunktes und ihrer Methode – selbst mit noch so zahlreichen Untersuchungen das Wesen des eminenten Individuums oder seiner Werke in den meisten Fällen nicht ergründen könne. Hier aber handelt es sich um anderes. Erinnern wir uns nämlich an unseren gleich zu Anfang gefundenen Satz, daß die Gefahr der Transformierung mit der Größe der urteilenden Masse wächst, so läßt sich auch die Gefahr erkennen, die gerade der reinen Erkenntnis von jenem furor biographicus droht. Denn auch er trägt ja schließlich nur dazu bei, die urteilende Masse zu vergrößern.
Aber unser Satz ist an der Stelle, an der wir uns jetzt befinden, nur mit einigen Einschränkungen anzuwenden. Denn zunächst dient hier die Überproduktion ja gerade dem, was sonst durch eine Massenbetätigung unmöglich gemacht wird: der Erkenntnisförderung. Wenn wir alle Ergebnisse der kollektivpsychologischen Forschung unberücksichtigt lassen, müssen wir gerade sagen, daß, je mehr sich die Wissenschaft mit einem Individuum abgibt, je größer also die Masse der Urteilenden ist, um so reiner, um so weniger transformiert das wirkliche Wesen des Individuums schließlich hervortritt. Überdies ist die »Masse«, um die es sich hier handelt, nicht ohne weiteres der gewöhnlichen gleichzusetzen, da jedes einzelne ihrer Glieder über ein immerhin hohes Maß von Urteilsfähigkeit und Kenntnissen verfügt.
Trotzdem wirkt die Hypertrophie der Biographik auch erkenntnismindernd. Man glaubt zunächst, daß die historisch-biographische Wissenschaft sich um so intensiver mit einem Individuum oder einem Werke abgibt, je eminenter es ist [213] oder zu sein scheint, in Wirklichkeit aber tut sie es aus einer ganzen Reihe von Gründen, die mit der Eminenz nichts zu tun haben. Diese ist auch hier nur einer von mehreren Faktoren, und der Kausalzusammenhang ist gerade umgekehrt, als er zunächst zu sein scheint: je mehr über ein Individuum geschrieben wird, als desto eminenter erscheint es uns. Zunächst hält nur der Gelehrte selbst das Objekt seiner Arbeit für wichtiger, als es in der Gesamtheit der Kulturerscheinungen ist, weil er nicht die nötige Distanz von ihm hat, um es mit anderen Erscheinungen vergleichen zu können. Aber auch den übrigen Gelehrten tritt der Name des Individuums immer wieder entgegen. Es gewinnt die Anschauung Platz, daß jemand, dem so eingehende Untersuchungen gewidmet werden, auch über eine gewisse Bedeutung verfügen müsse. Bleibt die Untersuchung selbst unbekannt, so sichert ihr doch eine Rezension, eine Polemik eine gewisse Wirkung. Ja schon ihre Nennung in der bibliographischen Übersicht einer Zeitschrift genügt, um ihr und damit ihrem Gegenstand zu weiterer Gekanntheit zu verhelfen.
Unter den außerhalb der Eminenz liegenden Umständen nun, die zur Überproduktion in den historisch-biographischen Wissenschaften führen, sei als erster die Dunkelheit gewisser Werke genannt. Der zweite Teil des Faust wäre eine ebenso bedeutende Dichtung, wie er es ist, wenn er nicht soviel Schwerverständliches und Erklärungsbedürftiges enthielte. Aber gerade dieser Umstand hielt und hält die Goethe-Philologie unaufhörlich in Atem und hat eine Massenproduktion hervorgerufen, die zunächst nur den Ruhm umfang erweitert, aber gleichzeitig – auf dem nun schon so oft beschriebenen Wege – zur Transformierung der Erscheinungsform Goethes beiträgt. Mit den zahllosen Deutungsversuchen des Hamlet steht es nicht anders. Auch eine Browning-Gesellschaft wäre niemals, am allerwenigsten schon bei Lebzeiten des Dichters, gegründet worden, wenn seine Werke leicht verständlich gewesen wären. Aber nachdem sie nun einmal bestand, vergaß man den Grund ihrer Schaffung und stellte sie auf eine Stufe mit der Chaucer-, der Shakespeare- und ähnlichen Gesellschaften, die vor allem Emanationen des Verehrungsbedürfnisses sind. Am stärksten ist diese auf Dunkelheit zurück [214]gehende Massenproduktion bei Philosophen, weil diese naturgemäß am schwersten zugänglich sind. Hören wir, was nach einem Kenner Kants im Jahre 1897, also nach etwa 100 Jahren intensivster Kantforschung, immer noch Gegenstand der heftigsten Diskussionen ist und welche scheinbar unversöhnlichen Gegensätze sich in der Exegese der Kantschen Werke gegenüberstehen: »Der Gegensatz der psychologischen und der transzendentalen Auffassung der Kantschen Methode, der Streit um den eigentlichen Hauptzweck der Kantschen Philosophie, ob derselbe im Rationalismus oder im Empirismus bestehe, ob die Kantsche Philosophie mit der kritischen Methode abschließe oder in ein metaphysisches System münde, ob dieselbe einen negativ-skeptischen oder einen positiv-aufbauenden Charakter habe, ob ihr Schwerpunkt im Theoretischen oder im Praktischen liege, ob ihr religionsphilosophischer Teil nur einen symbolischen oder auch einen systematischen Wert besitze.« Vgl. Kantstudien, I (1897): Vaihinger, Zur Einführung, 3.
Wo die Dunkelheit nicht im Werke liegt, wird sie und mit ihr eine Massenproduktion durch die Aufstellung einer Streitfrage geschaffen. Man vergegenwärtige sich, wie stark der Ruhmumfang Homers durch die unaufhörliche Diskussion über die sogenannte »Homerische Frage« erweitert worden ist. Ähnliche Verhältnisse liegen bei der Shakespeare-Bacon-Frage, in den Diskussionen über die Echtheit oder Unechtheit von Urkunden, von Bildern usw. vor. Ein Werk, das an sich vielleicht kaum beachtet worden wäre, kann – allein wegen seiner Anonymität – Gegenstand langer Erörterungen werden und so allmählich in die Reihe derjenigen eintreten, die als eminent erscheinen.
Je älter oder vielmehr je unbekannter die Epoche ist, der ein Individuum angehört, desto stärkere Beachtung findet es. Der Gotenbischof Wulfila hat nur eine Bibelübersetzung geschaffen, also nichts anderes – sogar offenbar weniger –, als was so mancher Missionar mit der Übertragung der Bibel in einen sehr entlegenen Negerdialekt geleistet hat. Trotzdem bleibt der Name des Missionars unbekannt, während der Wulfilas zu Weltruhm gekommen ist und sein Träger heute als [215] Eminenz hohen Ranges erscheint. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: es handelt sich in den zahlreichen Untersuchungen, die den Namen Wulfila im Titel führen, gar nicht um das Individuum, auch nicht um das Werk, sondern nur um die Erkenntnis einer bestimmten Sprache, die – im Gegensatz zum Negerdialekt – die Grundlage einer heute überaus wichtigen Sprache bildet und deren einziger Überrest jene Bibelübersetzung zufälligerweise ist. Das Individuum Wulfila ist also nur Vorwand für geschichtliche, in diesem Falle für sprachgeschichtliche Forschungen. Als solcher Vorwand wird es überall da benutzt, wo eine Erkenntnis der Kultur oder der Kunstformen einer bestimmten Epoche erstrebt wird, wo aber nur mangelhafte Überreste zurückgeblieben sind. Jedes Werk des klassischen Altertums z. B. erhält dadurch wirkliche Wichtigkeit; aber diese Wichtigkeit wird dann auf die Eminenz des Verfassers zurückgeführt. Kommentare, die sich in jede Einzelheit tief versenken, haben ihren Wert darin, daß sie die Kultur einer kaum noch erkennbaren Zeit erkennen lehren. Aber gefährlich werden sie, weil im Mittelpunkt der Untersuchung nicht die zu erforschende Sache, sondern das Werk eines Individuums steht, das nur sehr mittelbare, meist gar keine Beziehungen zu jener Sache hat, und weil sie auf diesem Umwege das Individuum bedeutender erscheinen lassen, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Der einsichtige Gelehrte, der eine Persönlichkeit 5. oder 6. Ranges zum Gegenstand einer sehr ausführlichen Biographie macht, fügt auf dem Titel vorsichtig hinzu: »Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des ...ten Jahrhunderts« oder ähnliches. Das ist gewiß bereits eine Verminderung der Gefahr. Aber eine der Wahrheit entsprechende Darstellung wäre nur zustande gekommen, wenn der Gelehrte eine Kulturgeschichte des ...ten Jahrhunderts geschrieben und in dieser Geschichte jenem Individuum die unbedeutende Rolle zugewiesen hätte, die es in Wirklichkeit gehabt hat. Dadurch, daß es zum Mittelpunkt der Betrachtung gemacht wird, wird seine Erscheinungsform notwendigerweise verzerrt, und man vergißt allmählich, daß es nur Vorwand für Kulturgeschichtsschreibung ist. Der Fehler liegt also hier, wie so häufig, bereits in der Problemstellung.
Als letzter Grund für die Hypertrophie der Biographik [216] sei endlich der genannt, daß die Zahl der Wissenschaft Treibenden in sehr viel stärkerem Maße gewachsen ist als die Zahl derer, an denen Wissenschaft getrieben wird. So kommt es zu immer erneuter Bearbeitung alten Stoffes, und nur künstliche, zuweilen gekünstelte Fragestellung vermag ihn noch zum Gegenstand neuen Forschens zu machen. Es ist sicherlich noch nicht oft vorgekommen, daß die Wissenschaft aufgehört hat, sich mit einem Individuum zu beschäftigen. Man dürfte einwenden, daß zu gewissen sehr eminenten Individuen verschiedene Epochen immer wieder Stellung nehmen müssen. Aber es würde sich hierbei zunächst um sehr seltene Ausnahmen handeln, dann auch um eine außerhalb des eigentlichen Wissenschaftsbetriebes liegende Art von Stellungnahme, wie sie etwa in unserem Kapitel über die Zeittendenzen behandelt worden ist. Im Grunde liegt in jenem Niemalsaufhören ein Schwächeeingeständnis. Denn wenn gewisse – sagen wir: einfache – Ergebnisse nicht in einem gewissen – sagen wir: späten – Zeitpunkte festgestellt sind, ist der Wert der historisch-biographischen Wissenschaft äußerst beschränkt.
Man weise den Einwänden, die hier gegen die Biographik erhoben wurden, nur den Rang zu, der ihnen gebührt. Es wurde bereits hervorgehoben, daß die Intensität des Betriebes vor allem erkenntnisfördernd wirkt. Aber man vergesse nie, daß dem Vorteil auf der einen Seite ein – freilich nicht allzugroßer – Nachteil auf der anderen gegenübersteht, daß also selbst die reinen Formen der Biographik, die hier einzig zur Erörterung standen, in gewissem Maße zur Transformierung der Erscheinungsform des Individuums beitragen und von den übrigen ruhmbildenden Faktoren nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden sind.
Jetzt erst sind wir imstande, diese Faktoren in ihrer ganzen Ausdehnung zu überschauen. Nur einen gibt es, der unter allen Umständen rational ist: die Eminenz des Individuums. Am nächsten kommt ihr, was die Rationalität angeht, die historisch-biographische Wissenschaft. Aber es hat sich gezeigt, daß auch sie schon mit gewissen irrationalen Tendenzen durchsetzt ist. – Diesen beiden Faktoren, von denen [217] der erste also zu den auf das Objekt, der zweite zu den auf das Subjekt der Betrachtung zurückgehenden gehört, steht nun die gewaltige Masse der völlig irrationalen gegenüber, die zum geringeren Teil ebenfalls vom Objekt, zum sehr viel größeren vom Subjekt ausgehen. Welche Bedeutung den einzelnen, vor allem der Eminenz, zukommt, ist natürlich von Fall zu Fall neu zu entscheiden. Jedenfalls wird man sich hüten müssen, ihnen in der Erscheinungsform eines Individuums etwa eine Bedeutung zuzuschreiben, die dem Raume entspricht, welcher ihnen in der vorliegenden Untersuchung gewidmet ist. Hier konnte es sich nur um die Herausarbeitung der überhaupt vorhandenen Möglichkeiten handeln.
Undenkbar ist es, daß die Eminenz der einzige ruhmbildende Faktor ist. Hingegen ist es auf der einen Seite denkbar – wenn auch nicht wahrscheinlich –, daß sie allein ebenso stark oder vielleicht sogar stärker ist als die übrigen Faktoren, auf der anderen Seite, daß sie vollständig fehlt und der Ruhm selbst von solchen Individuen irrational ist, über deren »Genialität« heute eine fast allgemeine Übereinstimmung herrscht.
Es erhebt sich jetzt nur noch die Frage, wie solche Übereinstimmungen zustande kommen, d. h. wie die Gesamtheit der ruhmbildenden Faktoren, die nun klar vor unseren Augen liegt, auf den Betrachter des Individuums wirken muß. Daß es sich um eine im reinsten Sinne kollektivpsychologische Frage handelt, kann nicht zweifelhaft sein: mögen die Faktoren vom Objekt oder vom Subjekt ausgehen, überall sind die schließlich Urteilenden nicht Einzelne, sondern eine – wenn auch noch so heterogene – Masse. Um jene Frage nach dem Zustandekommen der Urteilsübereinstimmungen beantworten zu können, müssen wir daher einen, freilich nicht allzulangen, Umweg über ein Gebiet der Kollektivpsychologie machen, das sich zunächst mit dem unseren nur wenig zu berühren scheint. Aber es wird sich alsbald ergeben, daß der Umweg nötig ist, wenn man das Ziel sicher erreichen will.