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B. Von der Masse ausgehende psychische Faktoren.
Unter den psychischen Veranlagungen, die sich – als Summierung einzelner Seelenzustände – bei der Masse finden, gibt es eine ganze Reihe solcher, die auf die Erscheinungsformen des Individuums, entweder schwächer oder stärker, verzerrend wirken. Sind diese Veranlagungen, hier also: bestimmte Triebe oder Bedürfnisse einmal als überall und stets vorhanden erkannt, so ergibt sich mit Deutlichkeit, daß sie nach einem Objekt suchen müssen, das ihnen die Richtung weist und weiterhin Nahrung gibt. Das einzelne Individuum, besonders aber dasjenige, das bereits vorher, sei es durch seine Eminenz oder durch andere Umstände, die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat, ist dieses Objekt. Jene Veranlagungen werden also zuweilen ruhmzeugend, häufiger ruhmerweiternd wirken, beides dem Range gemäß, den sie in der Gesamtheit der psychischen Veranlagungen der Masse einnehmen.
Als erste und bei weitem wichtigste unter ihnen, ja als bedeutendster unter allen ruhmbildenden Faktoren überhaupt ist das Verehrungsbedürfnis zu nennen. Es kann sich hier aber nicht um den Nachweis der Existenz des Verehrungsbedürfnisses handeln – die niemand leugnen wird –, sondern nur um eine Darlegung der Wichtigkeit, die dieses Bedürfnis unter den übrigen kollektivpsychischen Willensveranlagungen von jeher besessen hat und auch heute noch besitzt.
Wollten wir das Verehrungsbedürfnis bis in seine allerersten Anfänge verfolgen, so müßten wir hier auf die Frage [52] nach dem Ursprung der Religionen eingehen. Die Beschäftigung mit dem – bisher ungelösten und in Wirklichkeit nie lösbaren – Problem hat eins mit Sicherheit ergeben: die religiösen Gefühle sind auf ein einziges psychisches Motiv nicht zurückzuführen, sei dieses nun der Selbsterhaltungstrieb oder der Kausalitätsdrang oder das Abhängigkeitsgefühl oder endlich die Furcht und die mit ihr, wie wir bereits gesehen haben, nahe verwandte Ehrfurcht. Will man der Wahrheit wenigstens um ein Kleines näher kommen, so muß man hier – wie so oft – eine Vielheit zeugender Faktoren annehmen. Daß in dieser Vielheit das Verehrungsbedürfnis nicht nur nicht zu umgehen ist, sondern bereits eine bedeutende Stelle einnimmt, ergibt sich von selbst. Ist es doch sogar auch mit zwei anderen der genannten Faktoren, der Furcht und dem Abhängigkeitsgefühl, nahe verwandt. – Aber wir brauchen die ganze Frage hier nur flüchtig zu berühren. Denn es ist möglich – Sicheres läßt sich auch hier nicht sagen –, daß in den Hauptformen der primitiven Religion, dem Animismus, Fetischismus, Totemismus oder dem vielumstrittenen Henotheismus, die Verehrung sich noch gar nicht auf Menschen, sondern auf Naturerscheinungen, Tiere, Pflanzen, Idole richtet. Für uns aber, die wir bei der Behandlung des Problems stets die moderne Genieverehrung im Auge behalten, gewinnt das Verehrungsbedürfnis erst da wirkliches Interesse, wo es sich auf zweifellos historische Individuen richtet.
Das ist nun beim Ahnenkult der Fall. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß er die natürliche Entwicklung des Totenkultes und erst auf einer höheren Kulturstufe zu beobachten ist. Dort aber findet er sich fast überall. Nur kurz sei hier an die – ihrem Wesen nach noch ziemlich dunkeln – altisraelitischen Teraphin, an die Fravashis der Perser, an die Parentalia der Römer erinnert. Chantepie de la Saussaye, Lehrbuch der Religionsgeschichte, Tübingen 1905, I, 399. Bis auf den heutigen Tag findet sich eine Deifizierung wirklicher Individuen auf Grund des Ahnenkultes in Indien. »The Indian prophet or devotee does rise gradually in the hierarchy of supernatural beings, until his human origin fades ... and he takes rank as [53] a god ... In the course of a very few years, as the recollection of the man's personality becomes misty, his origin grows mysterious, his career takes a legendary hue, his birth and death were both supernatural. (Die populärsten Götter in Berar sind: Kandoba, Vittoba, Beîroba und Bâlâji; sie alle waren) notable living men not so very long ago«. A. C. LYALL, Asiatic studies, religious and social. London 1884, 21ff. – Noch auffallendere Formen hat der Ahnenkult in China und Japan. Schon der chinesische Totenkult hat einen kaum zu überbietenden Umfang, und so zeigt denn auch der Ahnenkult eine völlig euhemeristische Vergöttlichung von Menschen und zwar auch von solchen, bei denen eine wirkliche Eminenz nicht in Frage kommt. Jedem Individuum, das nur den einen Vorzug hat, Ahne zu sein, muß nach den Gesetzen der Staatsreligion göttliche Verehrung zuteil werden.
Ebensowenig wie in China kann beim japanischen Shintoismus von einer ursprünglichen Transzendenz der Götter die Rede sein. Nur nimmt hier neben der Verehrung von Familienahnen die eminenter Individuen einen größeren Raum ein. Erst in neuester Zeit wurden auf Befehl des Kaisers von Japan über 20 hervorragenden Männern, die sich im Altertum und im Mittelalter ausgezeichnet hatten, Tempel geweiht, so dem Minister Tenjin aus dem 9. Jahrh., den Feldherrn Kusunoki, Masashiga aus dem 14. und Toyotomi Hideyoshi aus dem 17. Jahrh. Ja der Gesamtheit von Personen, die im Restaurationskriege 1868 gefallen sind, wurde ein Tempel nach den Regeln des orthodoxen Shintoismus errichtet. Chantepie a. a. O. I, 153ff. Am schnellsten aber wird gerade in Japan dem Kaiser göttliche Verehrung zuteil. Er ist der direkte Nachkomme des Weltenschöpfers, seine Familie daher als göttliche Rasse gänzlich verschieden von anderen japanischen Familien.
Die Tatsache, daß ein solcher Herrscherkult – in welcher Form auch immer – sich überall auf Erden findet, ist ein weiterer Beweis für den gewaltigen Umfang, den das Verehrungsbedürfnis hat. Freilich ist hier zunächst die Verehrung abzusondern, die der Herrscher selbst für sich bean [54]sprucht und die Masse ihm nur gezwungen darbringt. Aber sie nimmt in dem Komplex der Formen des Herrscherkultes nur einen verhältnismäßig geringen Raum ein. Hören wir den scharfblickenden Angehörigen eines Volkes, bei dem man gerade von diesem Kultus nur wenig vermutet: »Je ne sais quelle illusion mystique sur l'origine du pouvoir, je ne sais quel mélange de vérité physiologique et d'erreur sur la transmission héréditaire de cette autorité surnaturelle ont eréé les dynasties ... Ni dans les monarchies constitutionelles modernes, ni même dans les républiques, ou le suffrage universel, ou l'opinion, où la presse semblent régner, le rôle des personnages politiques – rois, présidents, ministres – n'est près d'être annulé«. Henri Berr in »Nouvelle Revue«. 1890, 726f. (La question des grands hommes.)
Aber das Dunkel, das die Entstehung der Herrscherdynastie umgibt, wird ein wenig gelichtet, wenn man sich der einleuchtenden Hypothese HERBERT SPENCERs anschließt. »Prinzipien der Soziologie.« Übers. v. VETTER, Stuttgart 1877-97, IV, 220ff. Die Häuptlingsherrschaft besteht zunächst nur zeitweilig, und zwar während des Krieges, in dem ein erfolgreiches Zusammenwirken natürlich nur durch ein einheitliches Oberkommando möglich ist. Wo Kriege häufig sind, wird die Herrschaft permanent, indem sie sich auch über die kurzen Friedensperioden erstreckt. Das unterjochte Volk sucht den Heerführer gnädig zu stimmen und muß ihm daher schmeicheln. Die eigenen Untertanen sind nicht nur Zeugen dieser Schmeichelei, sondern werden auch durch den Erfolg seiner Tat selbst zu immer wachsender Bewunderung angestachelt. Das übrige tut dann das Verehrungsbedürfnis: die Bewunderung, die der Einzelne genießt, wird nicht nur auf seine Nachfolger, sondern auch auf seine Nachkommen übertragen: es entsteht die Dynastie. SIMMEL hat mit tiefgrabenden Worten die Entstehung der Dynastie folgendermaßen darzulegen versucht: »Solange der Bestand der Gruppe noch ein unsicherer und schwankender ist, kann jene höchste, zusammenhaltende Spitze ihre Funktion nur vermöge ganz bestimmter persönlicher Eigenschaften erfüllen; der griechische König der heroischen Zeit mußte nicht nur tapfer, weise und beredt sein, sondern auch ausgezeichnet in athletischen Übungen usw. ... Im allgemeinen sorgt die soziale Zweckmäßigkeit dafür, daß in noch unstabilen Gruppen Kampf und Selektion dem Gewinn der Herrschaft vorangeht. Wo aber die Form, in der die Gruppe sich selbst erhält, schon fest und zweifellos geworden ist, da kann das Personalmoment vor dem formalen zurücktreten und diejenige Art der Herrschaft den Vorzug erhalten, welche die Kontinuität und prinzipielle Ewigkeit des so geformten Gruppenlebens am besten zum Ausdruck bringt: das aber ist die erbliche Herrschaft« (Selbsterhaltung der soz. Gr., Jahrb. f. Gesetzgeb., Verwaltg. u. Volkswirtsch. 22 (1898), 600 f.). Von hier aus ist der Weg zu göttlicher Ver [55]ehrung des Herrschers nicht mehr weit. Aber auf eins ist hier schon hinzuweisen, das auch bei den später zu betrachtenden Betätigungen des Verehrungsbedürfnisses zu finden ist: in dem Maße, in dem der eigentliche Götter- oder Gotteskult an Bedeutung verliert, wächst die Verehrung historischer oder für historisch gehaltener Individuen. Das beste Zeugnis hierfür bietet die Entwicklung des römischen Kaiserkultes. »Die Vergötterung der verstorbenen und z. T. der regierenden Kaiser ... knüpft sich zwar in Rom selbst an den echt römischen Dienst der Manes, Lares und des Genius, allein die Ausdehnung und Wichtigkeit, welche ihr beigelegt wurde, verrät nicht undeutlich den aus politischen Gründen beförderten Einfluß orientalischer Sitte, welche in den Reichen der Diadochen und namentlich in Ägypten in der Zeit der vollkommensten Glaubenslosigkeit aufgekommen, zuerst in den Provinzen den Kult römischer Kaiser auf griechische Weise organisierte, erst darauf in Rom selbst Einfluß erlangte und den Beweis lieferte, daß der Untergang der römischen Religion vollendet war, als der Despotismus das entartete Geschlecht zur Anbetung seines Herrn bereit fand.« MARQUARDT, Römische Staatsverwaltung. Leipzig 1885, III, 90f. Diese Anbetung wird von den Kaisern nun nicht etwa gefordert. Im Gegenteil: sie sind ihr gegenüber oft »von zögernder Zurückhaltung«, sie treten »dem traditionellen Glauben an die Göttlichkeit der Monarchen« nur nicht entgegen. HIRSCHFELD, Sitzungsber. d. Berl. Akad. Philos. hist. Kl. 1888, 837. Freilich mag bei den hohen Provinzialbeamten oft Streberei mit im Spiele gewesen sein. Das Amt eines Flamen bei den großen Festversammlungen war sehr begehrt, denn man konnte dadurch zu dem [56] Divus Augustus in Beziehungen treten, ohne auf Zwischenpersonen angewiesen zu sein. Aber die große Popularität des Kaiserkultes beim niederen Volke ist dadurch nicht erklärt. Das psychische Bedürfnis nach Verehrung, das bei den transzendenten Göttern keine Nahrung mehr fand, richtete sich auf den allmächtigen Kaiser. In Rom genießt Cäsar bereits bei seinen Lebzeiten schmeichlerische Vergötterung; nach seiner Ermordung wird er als Divus Julius unter die offiziellen Götter versetzt, durch Octavian erhält er einen bleibenden Kult, und von da ab werden auch die späteren Kaiser durch einen Senatsbeschluß konsekriert. So geht es Augustus, Claudius, Vespasian, Titus u. a., sogar den Frauen – wie der Julia Augusta, der Drusilla, der Poppaea – werden ähnliche Ehren zuteil. Es werden Tempel errichtet, besondere Spiele, die Ludi circenses, die Augustalia und die Ludi palatini, gefeiert, ja ein eigenes Priestertum, das der Sodales augustales, entsteht. Dem latent vorhandenen, nach Betätigung strebenden Triebe ist ein Objekt gegeben.
Aber schon lange vorher hat an anderer Stelle das auch dort vorhandene Verehrungsbedürfnis Ausdrucksformen gefunden, die noch näher an unser Ziel, den modernen Geniekult, heranführen. Denn bei ihnen kommt eine Umschmeichlung Mächtiger, die beim Herrscherkult völlig ja nie zu leugnen ist, nicht mehr in Betracht. Die griechische Heroenverehrung, an die hier gedacht ist, stellt zwar in ihren Anfängen wahrscheinlich nur eine Vermenschlichung von Göttern dar, was besonders deutlich beim Asklepioskult zu verfolgen ist. Aber sehr bald »schlägt sie in eine Steigerung des Menschlichen in das Göttliche um«. E. ROHDE, Psyche. Tübingen und Leipzig 1903, I, 144f. Die nahe Verwandtschaft der Heroenverehrung mit dem – natürlich rein menschlichen – Toten- und Ahnenkult geht schon daraus hervor, daß sie überall an die Stätte des Grabes anknüpft und daß die Heroenagone Nachahmungen der Kampfspiele für Verstorbene sind. Allmählich wird das eminente Individuum allein Gegenstand des Kultes. »Heros zu werden nach dem Tode, war ein Vorrecht großer und seltener Naturen, die schon bei Lebzeiten nicht mit der Menge der Menschen verwechselt werden konnten« [57] (Rohde, II, 348). »Die Vorstellung erhielt sich im Bewußtsein, daß das Aufsteigen zu heroischer Würde nicht ein Vorgang sei, der sich für irgendeine Klasse von Menschen ganz von selbst verstehe, sondern jedesmal, wo er eintrete, Bestätigung ganz besonderer, schon im Leben betätigter Kraft und Tugend sei« (II, 354). So finden wir denn unter den Persönlichkeiten, denen heroische Verehrung gezollt wurde, politische Eminenzen wie Brasidas, Philipp v. Kroton, Euphron v. Sikyon, Harmodios und Aristogeiton, die Athleten Kleomedes, Theagenes, Pulydamas, den Bauleiter Artachaies und endlich – was uns besonders auffällt – Männer wie Epikur, Plato, Sophokles, Aischylos u. a.! Vgl. DENEKEN in ROSCHERs Lex. d. griech. u. röm. Mythol. sub »Heros«. Nur in einem Punkte werden hier die ROHDEschen Ansichten zu modifizieren sein: die Eminenz des Individuums ist nicht allein das Ausschlaggebende; es kommt – als immerhin nicht zu vernachlässigender Faktor – ein rein religiöses Moment, die Frömmigkeit, hinzu. Deutlich ist das bei Sophokles zu beobachten, dessen Kult eine ganz besondere Ausdehnung hatte, aber doch nicht allein auf eine Erkenntnis der künstlerischen Eminenz zurückzuführen ist. Wahrscheinlich hat er aus Frömmigkeit einen Thiasos gestiftet, also eine Genossenschaft, die ihn nach dem Tode zu verehren hatte. Bald wird er eine sagenhafte Gestalt: das Volk läßt Götter, den Asklepios und Dionysos, bei ihm einkehren und ihn bitten, Päane zu dichten. Aber gerade bei einem Manne wie Sophokles wird man außer der Frömmigkeit noch nach anderen Gründen für Popularität und Verehrung suchen müssen. Der Tragödiendichter hatte es leicht, bei den Festspielen auf eine große Masse zu wirken. Ja man wird wohl schon von einer Art modernen Ruhmes sprechen können, wenn man nur die damals naturgemäß starke Beschränktheit der ruhmpropagierenden Mittel berücksichtigt.
Nach der Epoche Alexanders des Großen steigert sich die Heroisierung zur Apotheose. Persönlichkeiten wie Hephaistion, Alexanders Freund, Hippokrates, Demosthenes, Philopoimen erhalten durch öffentlichen Beschluß Altäre, Opfer oder gymnische Spiele. In jener nachalexandrinischen Zeit entsteht [58] auch die merkwürdige Schrift des Euhemeros, nach der Zeus nichts anderes war als irgend ein sterblicher König, der auf dem Olymp residierte, in Kreta starb und in Gnossus begraben liegt, nach der weiterhin auch die übrigen griechischen Götter nur potenzierte Menschengestalten waren. Man wird das Buch mit seinem seichten Rationalismus nicht überschätzen: als Zeichen der Zeit, d. h. einer Zeit des Niederganges religiöser Gefühle, ist es interessant genug, mehr noch dadurch, daß es schnell eine sehr große Anzahl von Gläubigen findet, die dann wiederum ähnliche Götterentthronungen und Menschenerhebungen vornehmen.
Aber der griechische Heroenkult stirbt mit dem Eindringen des Christentums nicht völlig ab. Da das Verehrungsbedürfnis der Masse bleibt, wie es stets gewesen ist, verfällt er nur in eine Art Scheintod und wird – schon um die Mitte des 3. Jahrhunderts – zu neuem Leben erweckt: im christlichen Heiligenkult feiert er seine Auferstehung. Daß zwischen dem heidnischen Heros und dem Heiligen der Kirche, also dem Propheten, dem Apostel, dem Märtyrer, ja den heiligen Frauen bzw. Jungfrauen, historische Zusammenhänge bestehen, ist inzwischen bis ins kleinste nachgewiesen und heute nicht mehr zu bezweifeln. Vgl. VIKTOR SCHULTZE, Geschichte des Untergangs des griech.-röm. Heidentums. Jena 1892, II. 348ff. u. SAINTYVES, Über Heilige und Heiligenverehrung in den ersten christl. Jahrh, Leipzig 1910. Von katholischer Seite wird demgegenüber der Versuch gemacht, den Heiligenkult als spezifisch christl. Erscheinung hinzustellen. (Vgl. DELHAYE, Les origines du culte des martyrs. Bruxelles 1912.) Der Streit ist für uns bedeutungslos, da zum mindesten der psychische Zusammenhang zwischen den beiden Erscheinungen – und auf ihn kommt es uns an – nicht zu bestreiten ist. Der polytheistische Charakter der Heiligen geht am klarsten daraus hervor, daß einer ganzen Anzahl von ihnen, ganz so wie den antiken Göttern und Heroen, Spezialgebiete für die Wirksamkeit zugewiesen sind. So ist Lucas der Schutzpatron der Maler, Ivo der der Juristen, Crispin der der Schuster, Cosmas und Damian die beiden der Ärzte usw. An den Natalien der Märtyrer kehren die Opfermahlzeiten der heidnischen Parentalia wieder. Aus dem heidnischen Kult ist es übernommen, daß Tag und Nacht Kerzen [59] auf den Gräbern der Heiligen brennen, daß Salben und Narden über sie ausgegossen werden. Die Kirchen, die den Heiligen errichtet werden, lösen die alten Heroa ab; auch die Translationen der Heroen, die früher eine große Rolle spielten, fehlen nicht. Die antike Statue endlich wird durch die Reliquie ersetzt. In der ersten Zeit zwar macht sich von seiten der Kirche ein gewisser Widerstand gegen diese offenbare Vergöttlichung menschlicher Individuen geltend, die mit ihrem monotheistischen Charakter nicht recht übereinstimmen will. Man macht darauf aufmerksam, daß nur Gott die »Adoration«, die Anbetung, zukomme, daß der Heilige sich mit der Verehrung begnügen müsse. Aber die Masse vermag den feinen Unterschied zwischen Anbetung und Verehrung nicht zu fassen und gibt sich ruhig weiter wie bisher ihren adoratorischen Trieben hin. Das psychische Motiv ist hier ebensowenig zu verkennen wie beim Ahnen-, beim Herrscher- und beim Heroenkult: der transzendente Gott, der in unfaßbarer Jenseitigkeit thront, genügt dem Volke nicht. Das Verehrungsbedürfnis, von dem es erfüllt ist, sucht nach greifbar nahen Objekten und findet sie in gewissen Individuen, die entweder durch ihre Eminenz oder durch andere Umstände die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Der religiöse Ursprung dieses Personenkultes ist gar nicht zu verkennen. Aber ebensowenig ist zu verkennen, daß zu gleicher Zeit eine in gewissem Sinne konträre Tendenz vorhanden ist: wo das religiöse Gefühl sich zu lockern oder doch von seinem ursprünglichen Objekte abzuwenden beginnt, wächst der Personenkult zu immer größeren Formen auf.
Von solchen Erwägungen bis zu einer historischen Einordnung des Geniekultes ist denn auch nur ein kurzer Sehritt. Auch hier ist die Herkunft aus religiösen Gefühlen unzweifelhaft. Aber auch hier ist nicht zu bezweifeln, daß ein Niedergang der ursprünglichen Form der Religiosität ein Anschwellen des Kultes zur Folge hat. Von dem Griechenkult der Neuhumanisten, der ja im Grunde ebenfalls nur ein Kult einzelner, für besonders eminent gehaltener Persönlichkeiten ist, hören wir bei PAULSEN: »Man kann geradezu sagen: das Griechentum wird zum Gegenstand eines religiösen Kultus, und zwar das Griechentum im Gegensatz zum Christentum: das natu [60]ralistisch-diesseitige zum supranaturalistischen und transzendenten.« »Geschichte des gelehrten Unterrichts«, 1. Aufl., 520. Vgl. auch 2. Aufl. II, 6. Noch deutlicher zeigt sieh der auf einem Kontrastbedürfnis beruhende Zusammenhang zwischen Religiosität und Heroenkult in der Periode, die auf das Erscheinen von FRIEDR. DAV. STRAUSS' »Leben Jesu« (1835) folgt. Man muß sich vergegenwärtigen, wie erschreckend, das Tiefste aufwühlend dieses Buch wirkte: das Fundament des Glaubens schien untergraben. Aber bald meldet sich bei keinem anderen als bei STRAUSS selber das Verehrungsbedürfnis. In einem Aufsatz, »Vergängliches und Bleibendes im Christentum« (1838), der im übrigen bereits diplomatisch zu vermitteln sucht, findet sich eine Stelle, die hier nicht nur ihren Platz finden muß, weil sie von STRAUSS, dem damals höchst einflußreichen Manne, stammt, sondern weil sie auch wichtige historische Hinweise bietet: Zuerst veröffentlicht im »Freihafen«, herausgeg. von CARUS, KÖNIG u. a. 1838, 31f. »Es ist eingestanden: wir wissen keine Kirchen mehr zu bauen ... Dagegen steigen jetzt ... aller Orten Denkmale für große Männer, für erhabene Geister hervor. Vieles Lächerliche mischt sich in diesen Trieb: aber er hat auch seine ernste Seite, und ein Zeichen der Zeit ist er gewiß. Die evangelische Kirchenzeitung hat ganz recht gesehen, wenn sie die Verehrung des Mannes von der Vendôme-Säule und des Weimarschen Olympiers als neuen Götzendienst verfluchte. In der Tat sind hier Götter, von welchen dem Gotte der evangelischen Kirchenzeitung, – ein Heidentum, wenn man will, das ihrem Christentum Gefahr droht. Hat HEINE die Berichte von O'Meara, Antommarchi und Las Casas mit Matthäus, Markus und Lucas verglichen: wie lange wird es an solchen fehlen, die in Bettinas Briefen ein anderes Evangelium Johannis erblicken? – Ein neuer Paganismus oder ein neuer Katholizismus ist über das protestantische Deutschland gekommen: man hat an der einen Menschwerdung Gottes nicht genug und will nach indischer Weise eine Reihe sich wiederholender Avatars ... Die Richtung dieser Zeit geht dahin, die Offenbarung Gottes in allen den Geistern zu verehren, welche belebend und schöpferisch auf die Menschheit eingewirkt haben. – Der einzige Kultus – mag man es nun beklagen oder [61] loben, aber leugnen wird man es nicht können – der einzige Kultus, welcher den Gebildeten dieser Zeit aus dem religiösen Zerfalle der letzten übrig geblieben, ist der Kultus des Genies«. Später, in der »Zugabe« zum »Alten und Neuen Glauben«, nennt STRAUSS auch die Namen, die er sich als »Ersatzmittel für die Kirche« denkt: LESSING, SCHILLER, GOETHE, GLUCK, HAYDN, MOZART, BEETHOVEN. Ein ganz ähnliches Beispiel aus neuester Zeit enthalten die folgenden Ausführungen HERBERT EULENBERGs: »Diese Matineen (gemeint sind die von LUISE DUMONT im Düsseldorfer Schauspielhause abgehaltenen) wollten nicht mehr und nicht weniger, als dem Volke an seinen Sonntagen den Gottesdienst ersetzen, der in seinen alten Formen den höheren Menschen heute nicht mehr Befriedigung geben kann. Sie vereinigten an jedem Sonntage ein zahlreiches Publikum unter dem Sockel eines großen Mannes zu einer schönen stillen Feier zu seinen Ehren, in seinen Manen die Gottheit achtend, die ihn uns schenkte. Denn uns Heutigen sind wirklich die gewaltigen oder zarten Künstler vor uns in der Musik, der Malerei, der Philosophie, der Staats- und der Dichtkunst zu unseren Heiligen und Schutzpatronen geworden, an denen wir uns im Glück erfreuen, im Leiden trösten können. ›Du sollst keine anderen Götter haben neben ihnen.‹« »Schattenbilder, eine Fibel für Kulturbedürftige in Deutschland.« Berlin 1910, XXIf.
Wie stark und wie schnell das Verehrungsbedürfnis der Masse deifizierend wirkt, sei an zwei Namen näher erwiesen, an Napoleon und an Goethe. Béranger läßt Napoleon sagen: »Ich bin der Gott der Welt«, Delavigne nennt ihn »Dieu mortel«. Gutzkow vergleicht die Hoffnungen auf eine Wiederkehr Napoleons mit den Hoffnungen der Christen nach dem Scheiden des Erlösers. Vgl. zu diesen Zeugnissen HOLZHAUSEN, Napoleons Tod im Spiegel der zeitgenössischen Presse und Dichtung. Frankfurt a. M. 1902. 77. Heine berichtet 1831 an die Augsburger Zeitung: »Die Bonapartisten versichern, daß sowie man die Anzeichen der Cholera spürt, man seine Augen nur zur Vendômesäule zu erheben brauche, um gesund zu werden.« Bald darauf erzählt er in derselben Zeitung von einem Bettler, der ihn nicht im Namen Gottes angebettelt, sondern gerufen [62] habe: »Au nom de Napoléon, donnez-moi un sou«. Garsou Auch die letzten beiden Zeugnisse entstammen seinem Buche »Les créateurs de la légende napoléonienne. Barthélémy et Méry«. Paris 1899, 18f., der Erforscher der damaligen Volksstimmung, berichtet von den alten Soldaten als den eigentlichen Schöpfern der Napoleonischen Legende: »Nouveaux rhapsodes, ils conterent, dans les veillées, d'innombrables fragments d'une épopée grandiose et exalterent, jusqu'à la déification, la personnalité de leur ancien chef ... Une véritable religion, en effet, s'était formée. Après avoir longtemps refusé de croire à la mort de Napoléon, le peuple en avait fait son dieu.«
Handelt es sich hier immerhin zum Teil um eine Masse 3. Grades, die bei der Beurteilung eminenter Persönlichkeiten naturgemäß rasch das richtige Augenmaß verliert, so führen die folgenden Stellen über Goethe in einen Kreis höchst gebildeter, gerade in literarischen Dingen zu starker Skepsis neigenden Menschen. Am 23. Oktober 1794 schreibt David Veit an Rahel: »Vor hundert Jahren wurden solche Menschen (wie Goethe) mit Strahlen um das Haupt gemalt, und ist er denn nicht ein Heiliger?« Novalis nennt ihn Mahadöh (an A. W. Schlegel, 25. Dezember 1797: »Heil Ihnen, daß Sie Mahadö so nahe sind«). Friedr. Schlegel an Novalis, 2. Dezember 1798: »Gibt die Synthesis von Goethe und Fichte wohl etwas anderes als Religion?« Dorothea Veit an Rahel, 28. April 1800: »Friedrich ist diesen Morgen zu Vater Goethe oder Gott dem Vater nach Weimar gewandert!« Dieselbe an Rahel, 18. Dezember 1799: »Goethe hat einen großen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht: diesen Gott so sichtbar und in Menschengestalt neben mir, mit mir unmittelbar beschäftigt zu wissen, es war für mich ein großer, ein ewig dauernder Moment.« Entnommen aus VICTOR HEHN, Goethe und das Publikum (in »Gedanken über Goethe«. Berlin 1900, 118). Wie weit die Vergottung ging, die Bettina von Arnim mit Goethe vornahm, geht aus fast jeder Seite ihres Buches »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« hervor und besonders aus dem Entwurf zu einem Goethedenkmal, der dem Buche vorgesetzt ist: er stellt einen thronenden Zeus mit Goethes Zügen dar, an ihn sich anschmiegend eine Psyche, die offen [63]bar niemand anderes ist als Bettina selbst. Der »Olympier« ist – nicht erst seit damals – eine ständige Bezeichnung für Goethe. Bereits Jean Paul nennt ihn so nach seinem ersten Besuche, und erst langsam bekommt das Epitheton eine ganz leicht ironische Färbung. Vgl. PETERSEN, Der Olympier Goethe. (Münchener Allg. Ztg., 112, 1909, 108.) – Daß bei den oben zitierten Worten der Romantiker nicht etwa die natürliche Wirkung der Goetheschen Dichtungen vorliegt, sondern eine zum großen Teil auf das Subjekt der Betrachtung zurückgehende Erscheinung, ist völlig klar. Die Herkunft der Urteile aus einem – latent stets vorhandenen – psychischen Bedürfnis, eben unserem Verehrungsbedürfnis, läßt sich um so weniger bestreiten, als die urteilenden Persönlichkeiten zu gewissen Exaltationen des Gefühls ohnehin leicht geneigt sind, und, falls sie nicht Goethe deifiziert hätten, wahrscheinlich auf irgendein anderes Deifikationsobjekt gestoßen wären. Aber noch deutlichere Beweise für die Stärke des Verehrungsbedürfnisses als die Urteile der Romantiker, die in Stunden der Selbstkritik sich ihrer Übertreibungen sicherlich bewußt wurden, sind die immer wieder erschallenden Mahnrufe von Ästheten, die mit der Kirche zerfallen sind und an Stelle des Gotteskultes einen Genie-, meist einen Goethekult setzen wollen. Die Kirche ist sich der Gefahr, die hierin für sie liegt, wohl bewußt. Schon als bei der Enthüllung des Stuttgarter Schillerdenkmals im Jahre 1839 einige Schillerverehrer von einem »religiösen Akt« reden, äußert die Geistlichkeit recht deutlich ihre Bedenken gegen diese »abgöttische Menschenverehrung« (Alb. Ludwig, a. a. O. 213). Und als 1911 eine anonyme Schrift mit dem durch seine Anspielung sehr bezeichnenden Titel: »Das Buch von der Nachfolge Goethes« erscheint, erhebt die Kirche ihren Widerspruch unter der nicht weniger bezeichnenden Überschrift: »Nachfolge Goethes oder Nachfolge Jesu?« Vgl. AUGUST PAULY in Preuß. Jahrb. 1912, 385ff. Es wird in maßvoller, klug abwägender Weise darauf hingewiesen, daß das Vorbild Goethes, so lehrreich und bedeutsam es sei, »doch nicht nach allen Seiten hin« genügen könne und daher nicht der Notwendigkeit überhebe, bei einem noch [64] größeren Meister in die Lehre zu gehen. Schon daß eine kirchlich gesinnte Persönlichkeit eine solche Problemstellung für möglich, ja für nötig hält, spricht für die Bedeutsamkeit der Erscheinung.
Aber der historische Zusammenhang zwischen dem Heroen- und Heiligenkult und dem modernen Geniekult läßt sich noch in kleinere Einzelheiten hinein verfolgen. Wir haben die Tempel und Heroa, die Reliquienverehrung, die Wallfahrten und die Apotheosen des Altertums und des Mittelalters ohne irgend bedeutsame Veränderungen auf unsere eminenten oder uns eminent scheinenden Individuen übertragen. Die Londoner »Westminster Abbey«, das Pariser »Panthéon«, die Regensburger »Walhalla« sind nichts anderes als modernisierte Heroa. Der heroenkultische Charakter der Westminster Abbey ist dadurch etwas verwischt, daß sie nebenher noch eine wirkliche Kirche darstellt. Aber auf der anderen Seite zeigt sich gerade darin deutlich, daß eine Art religiöser Motive wirksam war, als man in dieser Kirche die Statuen von Herrschern, Staatsmännern, Gelehrten, Dichtern usw. aufstellte, die zum kirchlichen Leben selbst in gar keiner Beziehung standen, ja sich ihm z. T. bewußt entzogen. Neben den Denkmälern der Könige und Königinnen finden sich darin die der Staatsmänner: Pitt, Fox, Palmerstone, Cobden, Beaconsfield, Gladstone, – der Gelehrten: Newton, Macaulay, Herrschel, Lyall, Darwin, – ferner die von Stephenson, Livingstone, Händel, Chaucer, Shakespeare, Burns, Dickens usw. Kollektivpsychologisch besteht kaum ein Unterschied zwischen diesen Statuen und den Heiligenbildern, die in katholischen Kirchen an den Wänden hängen. Im Pariser »Panthéon« tritt das Unkirchliche klarer zutage. Zwar war auch dieses Bauwerk ursprünglich als Kirche gedacht. Aber es wurde nur kurze Zeit als solche benutzt und bereits 1791 – also wiederum in einer Zeit des Niederganges rein kirchlichen Lebens – zu einer Art Tempel gemacht, den »Aux grands hommes la Patrie reconnaissante« gewidmet hat. Am deutlichsten endlich werden die heroenkultischen Motive bei Bauten wie der Regensburger Walhalla. Hier sind die Beziehungen zur Kirche völlig abgestreift. Der Bau ist nichts als eine Hülle für die mehr als 150 Marmorbüsten hervorragender Deutscher, die in ihm aufgestellt sind.
[65] Diese modernen Heroa sind aber nicht nur weitere Beweise für den Umfang des Verehrungsbedürfnisses unserer Zeit, sondern wirken auch an sich bereits im stärksten Maße ruhmverbreitend: die Erscheinungsform eines Individuums, dessen Statue darin aufgestellt ist, muß sich bei dem Betrachter – und die Betrachter zählen nach Hunderten – alsbald ins Mächtige verzerren.
Die Verehrung von Reliquien eminenter Individuen steht hiermit im engsten Zusammenhang. Auch beim mittelalterlichen Heiligen geht sie aus der Sorge für den Leichnam hervor und erstreckt sich dann allmählich auf alles, was mit dem Toten – wenn auch nur mittelbar – zusammenhängt: auf Wachslichter vom Grabe, Partikeln von den Kleidern, Splitter von der Tür einer Heiligenkirche, Stücke vom Strick einer Glocke usw. Die moderne Reliquie geht vom Leichenteil, man denke an die Haarlocke, aus und hat dann zum besonderen Gegenstand vor allem das Autograph einer eminenten Persönlichkeit. Ein äußeres Kennzeichen der Schätzung bietet hier wie so oft die starke Preissteigerung einer Handschrift. Ja es läßt sich an diesem Preise fast genau die Erscheinungsform des Individuums, also der Grad seines Ruhmes, messen. Aber zur »Reliquie« – auch in der Umgangssprache wird das Wort ja in diesem Sinne gebraucht – werden alsbald auch andere, profanere Gegenstände: Möbel, Spazierstöcke, Federkiele, Schnupftabaksdosen u. a. m. Die alsbald zu erwähnenden »Personalmuseen« sind hierfür die gegebene Sammelstätte.
Auch für die Wallfahrtsorte der katholischen Kirche hat sich das moderne Verehrungsbedürfnis Ersatz zu schaffen gewußt: Lourdes, Czenstochau, Kevelaar sind Stratford on Avon, Weimar, Friedrichsruhe geworden. Wenn man davon absieht, daß den Kirchengläubigen in vielen Fällen ein rein äußerliches Motiv treibt, die Hoffnung auf Heilung einer Krankheit, ist die psychische Konstitution der Wallfahrenden in beiden Fällen sehr ähnlich. Denn beidemal handelt es sich um Befriedigung eines elementaren, dem Menschen eingeborenen Triebes, des Verehrungsbedürfnisses, zu dem beidemal noch ein zweites Motiv hinzukommt: der aus einer Art Neugierde entstandene [60] Wunsch, die Stätte zu sehen, an der eine außergewöhnliche Persönlichkeit gelebt oder ein außergewöhnliches Ereignis stattgefunden hat. Die Verwandtschaft dieses zweiten Motives mit dem später zu besprechenden Sensationsbedürfnis ist evident. Nur tritt es zurück gegenüber der Fähigkeit und dem Wunsche zu bewundern, zu verehren, anzubeten.
Die Apotheose historischer Individuen endlich, die ebenfalls im Heroen- und Heiligenkult ihren Ursprung hat, bietet nach außen hin die stärkste Form des Verehrungsbedürfnisses. Aber nur nach außen hin. In Wirklichkeit ist der Verehrende sich hierbei der Übertreibung in sehr viel stärkerem Maße bewußt als etwa beim Reliquienkult und der Wallfahrt. Zu verfolgen ist die Apotheose von eminenten Individuen, besonders von Herrschern, am deutlichsten in deren Ikonographie. Man denke an die Unzahl von Bildern, die Friedrich d. Gr. oder Napoleon als antiken Heros darstellen, in den Wolken schwebend, zum Himmel ansteigend, jedenfalls weit hinausgewachsen über die irdische Menschheit. Man könnte die Sitte aus dem Zeitgeschmack erklären. Aber noch bei modernen Herrschern – etwa bei Wilhelm I. – sind ähnliche Beobachtungen zu machen. Daß es sich auch hier nicht um Byzantinismus handelt, geht am besten daraus hervor, daß die Apotheose in den meisten Fällen erst nach dem Tode des Individuums eintritt.
Bevor wir die religiösen oder religionsähnlichen Formen des Verehrungsbedürfnisses verlassen, ist noch eine Erscheinung zu erwähnen, die ihrem Inhalt nach zwar bereits zum folgenden gehört, aber durch ihre psychologische Begründung noch hier angeschlossen werden muß. Es hat sich gezeigt, daß Zeiten, in denen die eigentliche Götter- oder Gottesverehrung schwindet oder zu schwinden droht, dem Geniekult besonders günstig sind. Denn das Verehrungsbedürfnis sucht sich, wenn das eine Objekt ihm verloren gegangen ist, auf andere Weise Befriedigung. Aus demselben Grunde werden gewisse – eminente oder eminent scheinende – Individuen, die solange im Hintergrunde gestanden haben, von dem Augenblick an erhoben und verehrt, in dem andere vom Throne gestoßen sind. Besonders klar wird das an der Geschichte des Schiller- und Goethekultes. Als Goethe in den [67] 20er und 30er Jahren des 19. Jahrh. von einer Gruppe von Literaten – den Pustkuchen, Glover, Menzel u. a. – geschmäht wird, tritt sofort die Reaktionserscheinung ein: Schiller wird von ihnen ebenso übermäßig gepriesen (vgl. Ludwig, 167ff.). Genau das Umgekehrte ereignet sich vier bis fünf Jahrzehnte später, als die Allgemeinheit der Ästheten sich von Schiller abzuwenden beginnt: der Goethekult schwillt mächtig an. Die Überschätzung auf der einen Seite hat ihren Grund zum guten Teil in der Herabsetzung auf der anderen. Die Eminenz des verehrten Individuums steht erst in zweiter Reihe. Bei paradoxen Kritikern ist dieselbe Beobachtung immer wieder zu machen, besonders bei dem, dem das Verneinen am tiefsten im Blute lag, bei NIETZSCHE. Von dem Moment an, in dem er mit Wagner gebrochen bat‚ kann er sich nicht genug tun im Lobe Bizets, des Komponisten von »Carmen«. Wenn man bedenkt, welche Macht Nietzsche war und z. T. auch noch ist, ist leicht zu erkennen, wie sehr Bizets Gekanntheit in Deutschland auf Nietzsche zurückgeht. Aber diese wiederholte Hervorhebung des französischen Komponisten wäre unmöglich gewesen ohne die vorherige Abwendung von Wagner.
Ganz ähnlich liegt der Fall, wenn etwa EUGEN DÜRING Bürger für einen größeren Lyriker hält als Goethe Vgl. III. Abschn. 2. Kap., BERNARD SHAW den Verf. von »The Pilgrim's Progress«, John Bunyan, für einen größeren Dichter als Shakespeare. »Bunyan u. Shakespeare«, Voss. Ztg. 31. August 1913 (Nr. 441). Auch hier war das Verneinen stets das Primäre. Um diesem Verneinen größeren Nachdruck zu geben und um andrerseits nicht als bloße Verneiner zu erscheinen, suchen die beiden Kritiker, die wie NIETZSCHE zu paradoxalem Denken neigen, neue Götter auf den Thron zu heben. Daß sie damit nicht so durchgedrungen sind wie NIETZSCHE, liegt an Faktoren, über die später zu handeln sein wird.
Wo sich die bildende Kunst des Individuums bemächtigt, wächst dieses leicht zu gotthaften Formen auf: die Betrachtung der Persönlichkeitsapotheose hat das des näheren ergeben. [68] Faßbarer, dem Diesseits angepaßter sind die Formen, zu denen die Poesie das Individuum erhebt. Aber wie stark auch bei ihr das Bedürfnis nach Verehrung ist, erhellt schon daraus, daß sie sich frühzeitig und bei einer ganzen Reihe von Völkern eine besondere Form geschaffen hat, die kaum einem anderen Zwecke dient: die Heldensage. Freilich ist bei der Heldensage neben dem rein historischen, auf wirkliche Individuen zurückgehenden Teil fast stets noch ein zweiter zu beobachten, der mythischer Art ist, also völlig unhistorische Vorstellungen und Überlieferungen zur Grundlage hat. Und bei der griechischen Heldensage sind beide Teile auch so sehr miteinander verwachsen, daß sie heute nur noch mit äußerster Schwierigkeit zu trennen sind. Vgl. darüber GRUPPE, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte. München 1906, 1, 5. Aber bei der jüngeren germanischen ist die Scheidung leichter. Für die hier vorliegenden Zwecke kann der rein mythische Teil unberücksichtigt bleiben; mit ihm auch die große Streitfrage, ob er aus der Göttersage hervorgegangen sei oder sich unabhängig von ihr aus Naturanschauungen entwickelt habe. Hier ist nur die Tatsache von Wichtigkeit, daß unzweifelhaft historische Individuen wie: Ostrogotha, Ermanarich, Theoderich d. Gr., Attila, die Merowinger Theoderich und Theodebert, Chilperich u. a. frühzeitig Gegenstand der Volkssage geworden und von ihr so stark transformiert worden sind, daß die späteren Erscheinungsformen das Individuum an sich nur noch ahnen lassen. Daß auch dieser Prozeß auf den Verehrungstrieb zurückgeht, bedarf keines Nachweises im einzelnen, und ein Kenner wie SYMONS spricht auch wirklich von dem »Bedürfnis, die Helden immer strahlender erscheinen zu lassen und mit einem übernatürlichen Glorienschein zu umgeben.« PAULS Grundr. d. germ. Phil. 2. Aufl., II, I, 4. Karl d. Gr. geht es nicht anders. Die Persönlichkeit, der das Volk sein Dasein, zum mindesten aber seine Größe verdankt, wird mit höheren Kräften ausgestattet und – nicht immer langsam – mythisiert. Selbst ein Motiv praktischer Art, das hinzukommt, geht letzten Endes auf das Verehrungsbedürfnis zurück: der Herrscher, der Gesetzgeber, der Religionsstifter gehören nicht nur der Vergangen [69]heit, sondern auch der Gegenwart an, indem sie zu Autoritäten werden, denen man gehorchen, zu Vorbildern, denen man nacheifern soll. Vgl. den wichtigen Aufsatz von EDUARD ZELLER: »Wie entstehen ungeschichtliche Überlieferungen?« Deutsche Rundschau 1893, 201ff.
Aber die Mythisierung eminenter Individuen beschränkt sich nicht auf Epochen, denen die Fähigkeit zu methodischer Kritik abgeht. Der stets lebendige Verehrungstrieb hat im modernen Geniekult neue Formen des Mythisierens gefunden. Die bildende Kunst schreitet naturgemäß auch hier voran. Unter den Bildwerken, die in den letzten Jahren in Deutschland bei der Masse besondere Anerkennung gefunden haben – diese Anerkennung ist für uns natürlich von der größten Bedeutung – sind vor allen zu nennen: Klingers »Beethoven« in Leipzig und Lederers »Bismarck« in Hamburg. In beiden Fällen hat das Individuum die Form, in der es auf Erden gelebt hat, abgestreift und mythische Gestalt angenommen. Besonders bei Bismarck ist es deutlich, daß die Mythisierung einem Willen des Volkes entspricht. Denn allerorten entstehen jetzt Säulen und Denkmäler, in denen das Porträthafte entweder eine untergeordnete Rolle spielt oder gänzlich zurücktritt. Viel Aussicht, rasch zum Mythus zu werden, hat die – im Leben und Schaffen auch wirklich gleich rätselvolle – Gestalt August Strindbergs. GERHART HAUPTMANN schreibt über ihn noch vor dem Tode: »Wer in einer solchen Natur keine Größe sieht, der wird sie auch nicht in der Sage von Prometheus finden, der um der Menschheit willen mit den Göttern im furchtbarsten Kampfe lag, oder in dem Mythus von ›Wieland dem Schmied‹. Zwar ist das Flugproblem heute gelöst, aber doch nicht so, wie es Wieland und Lionardo auffaßten, denn wir sind höchstens zu fliegenden Philistern geworden. Strindbergs Flüge in den eisigen Weltenraum und sein Hinabsteigen in die Abgründe bietet meinem Geist noch immer das sowohl gefährlichere als erhabenere Schauspiel dar, und seine Abenteuer sind die verwegneren« (Berl. Tagebl. 23. Januar 1912).
Einen Tag nach Strindbergs Tode aber schreibt der Chronist einer vielgelesenen Berliner Zeitung sogar: »Oft wenn ich ihn las, hielt ich den Atem an und fragte mich: ist dies noch ein [70] Mensch? An seiner Riesengestalt begriff ich die Vorstellung der alten Griechen, daß Menschen zu Göttern erhoben werden können« (Berl. Börsenkurier, 15. Mai 1912). Aber charakteristischer als diese Zeugnisse ästhetisch interessierter Menschen, die dem künstlerischen Individuum an sich stets befangen entgegentreten, ist das eines exakten Historikers höchsten Ranges. ERICH MARCKS sagt von Friedrich d. Gr.: »Wir kennen ihn von unserer Kindheit an. Er gehört zur Mythologie unserer Welt, zu jener Schar geschichtlicher Menschen, die unsere Phantasie begleiten und unser Innenleben unmerklich mitformen, wie es in früheren Tagen nur die biblischen Gestalten und die Helden des griechisch-römischen Altertums taten, auch er vom Hauche der Sage umweht, wirklich und symbolisch zugleich, unwahrscheinlich und selbstverständlich« (Neue Rundschau 23, 1912, 161). Es ist ein oft wiederholter Scherz, von Individuen der jüngsten Vergangenheit mit dem schweren Rüstzeug der historischen Kritik nachzuweisen, daß sie überhaupt nicht existiert haben, sondern nur sagenhafte Persönlichkeiten oder gar nur personifizierte Naturerscheinungen sind. Luther, Napoleon, auch Schopenhauer ist es so gegangen. Vgl. bes. PÉRÈS, Comme quoi Napoléon n'a jamais existé, 1885, und NEBEL, »Hat Schopenhauer gelebt?« (Jahrb. d. Schopenhauer-Gesellsch. 1912). Die geistreichen Scherze sind nicht ohne tiefere Bedeutung. Sie ironisieren nicht bloß gewisse Tendenzen unter den Mythologen, die alles auf Naturerscheinungen zurückführen wollen, sondern vor allem auch die Übertreibungen, die der Kultus eminenter Persönlichkeiten hervorruft. Die Tatsache und die Notwendigkeit der Karikatur beweist besser als manches andere die große Bedeutung der karikierten Erscheinung.
Die psychologische Reihe, in die die Entstehung von Sagen in moderner Zeit und damit auch die Mythisierung historischer Individuen einzuordnen ist, hat SYBEL einmal festgestellt. Er spricht von der »Verkehrtheit der noch immer weitverbreiteten Vorstellung, die Sage sei nur eine unvollkommene Geschichte; sie entstehe, wo man noch nicht ordentliche Geschichte zu schreiben gelernt habe, und verschwinde, sobald diese Fertigkeit erreicht sei. Sie ist vielmehr ganz eigentümlichen Wesens und hat feste, positive Voraussetzungen, unter deren Einfluß sie auf allen Bildungsstufen, im 12. wie im 19. Jahrh., zutage tritt. Ihre Gebilde erscheinen unfehlbar, sobald die Phantasie der Massen eine starke Anregung erhält; [71] die leitenden Vorstellungen verkörpern sich dann in plastischen Dichtungen, man erzählt, dies und jenes sei geschehen, weil man überzeugt ist, es müsse so geschehen sein.« »Geschichte des ersten Kreuzzuges«. Leipzig 1881, 95.
Es sind nun noch eine Reibe alltäglicherer, dafür aber umsomehr verbreiteter Formen zu betrachten, in denen sich das Verehrungsbedürfnis äußert. Die Sitte, dem Individuum, auch wenn es von minderer Eminenz ist, ein Epitheton ornans zu geben, das ihm den höchsten Rang zuweist, ist allgemein und besonders in romanischen Ländern zu beobachten. Das Italien der Renaissance war mit der Bezeichnung »divino« nicht sehr sparsam Vgl. BURCKHARDT, Kultur der Renaissance in Italien. Leipzig 1901, I‚ 179 Anm. 3., und noch heute nennt die französische Zeitung jeden ihrer Mitarbeiter, auch wenn er nur ein Lokalreporter ist, »notre éminent collaborateur«. Der Deutsche erteilt gern das Beiwort »Künstler«. In der Musik ist zuerst – und wohl auch mit dem besten Recht – die Bezeichnung vom produktiven Individuum, dem Komponisten, auf das rein reproduktive, den Virtuosen, übergangen. Die Poesie ist ihr gefolgt. Heute nennt sich nicht nur jeder Schauspieler jeden Ranges selber Künstler – das würde ja nur auf persönliche Eitelkeit schließen lassen –, sondern wird auch von allen anderen so genannt. In dieselbe Kategorie gehört die Freude, die namentlich der Deutsche daran hat, einen anderen mit einem Titel, besonders einem hohen Titel, anzusprechen. Das Verehrungsbedürfnis geht hier, wie auch in einigen anderen Fällen, schließlich auf nichts anderes als auf ein egoistisches Motiv zurück: wer einen anderen erhebt, glaubt damit sich selbst zu erheben. Das unter der Bewußtseinssphäre bleibende Gefühl: du stehst jemandem nahe, der so hoch erhoben zu werden verdient – zeitigt in all diesen Fällen, wo zwischen dem Erhebenden und dem Erhobenen ein persönlicher Zusammenhang besteht, erst die Tatsache der Verehrung.
Auf zwei Epitheta ornantia sei hier etwas näher eingegangen, weil sie nicht nur Zeichen des Verehrungsbedürfnisses sind, sondern auch überall da, wo sie sich lange Zeit hindurch erhalten haben, an sich im stärksten Maße ruhmverbreitend [72] wirken und so die Erscheinungsform des Individuums verändern helfen: die Beinamen »der Große« und »Klassiker«. Beide sind weder eine notwendige Folge noch auch ein sicheres Anzeichen außergewöhnlicher Eminenz. Cäsar und Napoleon hatten nie den Beinamen der Große, der Dominikaner Albertus und Kaiser Constantin haben ihn bis auf den heutigen Tag behalten. R. M. MEYER weist (Deutsche Stilistik. München 1906, 47) darauf hin, daß im 10. und 11. Jahrhundert vier verschiedene Fürsten desselben französischen Dynastengeschlechtes so heißen: wer Hugo getauft ist, wird auch der Große genannt. Doch sind diese Beinamen schnell geschwunden. Daß aber doch auch bei der Masse zuweilen ein gewisses Auswählen zu beobachten ist, zeigt sich bei Wilhelm I.: das Epitheton hat sich, obwohl es von der einflußreichsten Stelle eingesetzt wurde, nicht zu erhalten vermocht. Ruhmvermindernd hat hier vor allem wohl die Riesengestalt Bismarcks gewirkt. Aber die obengenannten Namen ergeben eins mit Deutlichkeit: dem sogenannten »Urteil der Nachwelt« darf man auch hier in keiner Weise trauen. Bald ist die Masse – vor allem im deutschen Mittelalter, also bei Karl d. Gr. und Otto d. Gr., – durch eine höhere Reichsbehörde beeinflußt, bald entsteht der Beiname zuerst in der Masse und dringt dann erst in die Geschichtsschreibung ein. Auch die Frage, ob die Bezeichnung schon bei Lebzeiten oder erst nach dem Tode entsteht, ist ungelöst und wahrscheinlich von Fall zu Fall verschieden zu beantworten. WAITZ (Deutsche Verfassungsgeschichte. Berlin 1896. VI. 153f.) weist auf die Kanzlei als maßgebenden Faktor hin. Sie habe die Beinamen beibehalten, die in den Unterschriften der Könige gewöhnlich gesetzt wurden; darunter auch gloriosissimus, clarissimus, illustrissimus usw. Karl der Gr. hat bei Lebzeiten offiziell nur den Beinamen Prudens, aber bereits die ältesten Annalen und andere Zeitgenossen nennen ihn Magnus (vgl. WAITZ, a. a. O. III, 101 Anm. 1). Sicher ist nur, daß die Masse infolge des ihr innewohnenden Verehrungsbedürfnisses stets nach gewissen Gipfeln verlangt, zu denen sie bei der historischen Betrachtung aufblicken kann und die ihr, eben weil sie sich aus der Fülle der Erscheinungen herausheben, den Überblick erleichtern. BURCKHARDTS Ansicht (Weltgeschichtliche Betrachtungen, Berlin u. Stuttgart 1905, 212); »Es ist uns völlig unwesentlich, ob eine Persönlichkeit den Beinamen der Große trägt; dieser hängt schlechterdings davon ab, ob es noch andere desselben Namens gegeben hat oder nicht,« – ist sicherlich zu radikal.
[73] Solche Gipfelpunkte hat sie sich denn auch in der Kunst-, vor allem in der Literaturgeschichte stets geschaffen. Der »Klassiker« ist die allgemeinste Form des besonders verehrten Dichters, dazu kommen für bestimmte kleinere Gruppen in England der poeta laureatus, in Frankreich der prince des poètes.
Zu dieser höchsten Kategorie unbedingt anerkannter, von der Kritik kaum noch zu erreichender Klassiker gehören in Deutschland etwa: Klopstock, Lessing, Herder, Wieland, Goethe, Schiller, in Spanien: Cervantes, Lope de Vega, vielleicht auch Calderon, in Frankreich: Corneille, Racine, Molière, in Italien: Dante, Petrarca, Boccaccio usw. Vgl. dazu und zum folgenden den instruktiven Aufsatz von R. M. MEYER »Der Kanon der deutschen Klassiker«, Neue Jahrbücher für das klass. Altertum, 1911, 208ff. Wie sich dieser Kanon aus zahlreichen und lang andauernden Urteilsschwankungen allmählich herausformt, ist nun – wenigstens für die deutsche Reihe – ziemlich genau zu verfolgen. MEYERS Ansicht, daß für die Gestaltung des Kanons eine Gleichheit des Ortes – für den deutschen also Weimar – bei den Dichtern vorliegen müsse, ist, wie er selbst schon zugibt, schwer aufrecht zu erhalten. Sehr viel eher wäre an eine ungefähre Gleichheit der Zeit zu denken. Das trifft nicht nur beim deutschen, sondern auch beim spanischen, italienischen, französischen Kanon zu. Die von Meyer aufgestellte englische Reihe – Shakespeare, Pope, Wordsworth, Tennyson – erscheint schon an sich recht fragwürdig, und bei ihr trifft die Gleichheit der Zeit auch wirklich nicht zu. Über einen wichtigen Faktor, den MEYER übersehen hat, vgl. II. Abschn. 16. Kap. Aber es wäre ein Irrtum, wollte man ihn als den endgültigen ansehen. Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, daß in 100 oder 200 Jahren das »Urteil der Nachwelt« anders entschieden haben wird, sei es im Anschluß an neue Moden der literarhistorischen Betrachtung, sei es unter dem Einfluß der übrigen kollektivpsychischen Faktoren, die in der Folge zu besprechen sind. Mit Sicherheit ist nur eins zu sagen: irgend ein Klassiker-Kanon wird immer bestehen. Bewunderung, die stets denselben Objekten zugewandt wird, führt zur Übersättigung und muß daher den alten Kanon einmal zu Falle bringen. Aber das Ver [71]ehrungsbedürfnis derselben Masse wird dann alsbald einen neuen erzeugen. Ist jedoch ein Dichter erst einmal zum »Klassiker« gestempelt, so wird seine Erscheinungsform schnell in einer Weise verzerrt, daß an das Individuum an sich – wenigstens für die Periode des Ruhmes – fast nicht mehr heranzukommen ist. Es ist dabei nicht einmal nötig, daß er auch wirklich gelesen wird. Klopstock und Herder werden es sicherlich weniger als mancher Dichter, der nicht in der offiziellen Klassikerliste steht. Aber da sie nun einmal noch darin sind, werden sie von Kennern wie von Nichtkennern – also von der Masse jeden Grades – auf eine sehr viel höhere Stufe gestellt als die wirklich gelesenen Dichter. Ja sie bleiben sogar in gewisser Beziehung wichtige Kulturfaktoren, da gerade die Schule mit ihrer großen geistesgeschichtlichen Macht auf ihnen baut, solange sie dem Klassiker-Kanon angehören.
Der Versuch, die verschiedenen Äußerungsformen des Verehrungsbedürfnisses kennen zu lernen, hat eine – wenn auch nur flüchtige – Betrachtung fast aller Geschichtsperioden und fast aller Gebiete menschlicher Betätigung nötig gemacht. Über die Macht des Triebes kann also ein Zweifel nicht bestehen. Man wird den ethischen Wert dieser Macht kaum hoch genug veranschlagen können: an dem großen oder für groß gehaltenen Vorbild wächst der Nacheiferer selbst zur Größe auf. Für die historische Wissenschaft jedoch ist sie verhängnisvoll. Denn sie macht eine Erkenntnis des Individuums an sich und damit auch jedes Zustandes – denn jeder Zustand ist ja letzten Endes durch Individuen bedingt – fast zur Unmöglichkeit.