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15. Kapitel.
Die Kunst.

Aus zwei Gründen kann das Individuum Gegenstand der Kunst werden: entweder hat der Künstler die Absicht, die Erinnerung an das bereits gekannte durch sein Werk bei der Nachwelt zu erhalten und auch zu verstärken, oder die Eigenart irgendeines Individuums bestimmt ihn, es zum Gegenstand künstlerischer Darstellung zu machen, ohne daß er dessen vorherige Gekanntheit oder Nichtgekanntheit berücksichtigt. Im ersten Falle handelt es sich also stets nur um Ruhmerweiterung, stets auch um eminente oder eminent scheinende Individuen. Die Ahnengalerien in dynastischen Häusern, die Denkmäler, die ein Volk seinen Herrschern und großen Persönlichkeiten errichtet, die Porträtsammlungen, die sich zuweilen in Museen finden, alle diese – bereits erwähnten – Äußerungen des Verehrungsbedürfnisses sind künstlerische Schöpfungen. Der Künstler ist hier fast stets nur passiv. Es wird ihm eine Aufgabe gestellt, die er zu lösen hat. Warum sie ihm gestellt wird, kann für uns nicht mehr zweifelhaft sein. Der Auftraggeber steht unter der Macht irgendeiner Verbindung von ruhmzeugenden und ruhmerweiternden Faktoren, läßt also den Künstler nur den Resonator seines eigenen Abhängigkeitsgefühles sein. Aber auch da, wo der Künstler freiwillig sich das eminente Individuum zum Objekt wählt, mag er nun ein Porträt Goethes malen oder ein Gedicht auf Goethe machen, steht er völlig unter dem Einfluß unserer »Faktoren«. Aber er steht nicht nur unter ihrem Einfluß, er wird – und darauf kommt es in diesem Kapitel an – auch selber wieder Faktor: da dem Künstler in den meisten Fällen eine gewisse Massenwirkung gegeben ist, fließen Folge und Ursache also auch hier in eins zusammen.

Aber dieser erste Grund der künstlerischen Verarbeitung eines Individuums, der ja zum größten Teil der Ausfluß eines Verehrungsbedürfnisses ist, tritt an Bedeutung zurück gegenüber dem bereits genannten zweiten. Überall da, wo ein Individuum – sei es durch seinen Charakter oder durch seine Lebensschicksale, sei es auch nur durch sein Äußeres – auf [172] den Künstler einen so großen Reiz ausübt, daß er es zum Gegenstand eines Werkes macht, überall da beeinflußt der Künstler die Form, in der jenes Individuum der Mit- oder Nachwelt erscheint. Zuweilen ist der Reiz so stark, daß dasselbe Individuum mehrfach Gegenstand künstlerischer Darstellung wird. Aber man darf nicht etwa glauben, daß der Einfluß der Kunst auf die Erscheinungsform, d. h. vor allem auf den Umfang des Ruhmes, um so größer ist, je häufiger das Individuum künstlerisch verarbeitet worden ist. Kaum eine historische Persönlichkeit hat so oft als Vorlage für dramatische Dichtungen gedient wie die karthagische Königin Sophonisbe. Trotzdem ist auch nur ihr Name über den Kreis der zünftigen Literarhistoriker wenig hinausgedrungen, ja er ist bei ihnen wohl bekannter als unter eigentlichen Historikern. Nicht die Zahl der Kunstwerke ist von Wichtigkeit, sondern das Ansehen, in dem sie oder ihre Schöpfer stehen, d. h. also: die eine Erscheinungsform ist von der anderen abhängig.

Von den verschiedenen Arten künstlerischen Schaffens sei die Dichtkunst als die erste besprochen, und zwar weil bei ihr – aus den mehrfach angeführten Gründen – die größte Massenwirkung möglich ist. Ruhmzeugend wirkt sie überall da, wo sie sich nichteminente Personen zur Vorlage nimmt. Weder von dem Individuum Faust noch von dem Individuum Don Juan oder dem Individuum Michael Kohlhaas würde die Nachwelt das geringste wissen, wenn sie nicht immer wieder in Dichtwerken behandelt worden wären. Es kommt hier nicht in Betracht, daß beim Aussprechen ihres Namens die Masse nur in den allerseltensten Fällen an die historischen Persönlichkeiten, dagegen fast stets an die Form denkt, die sie in den Dichtungen erhalten haben. Für uns ist nur von Wichtigkeit, daß es sich um berühmt gewordene Individuen handelt und daß die Genesis ihres Ruhmes dargelegt werde. Aber auf einer etwas höheren Stufe der Eminenz (oder der historischen Wirksamkeit) liegen die Verhältnisse schon komplizierter. Man denke an die Jungfrau von Orleans oder Don Carlos oder Egmont. Auch der geschichtskundige Deutsche – für die verschiedenen Nationen ist die Sachlage natürlich verschieden – wird beim Nennen ihres Namens zunächst nicht an die historischen Persönlichkeiten denken, [173] sondern an die Form, die sie in den bekannten Dichtungen erhalten haben. Ja die Macht dieser Dichtungen ist so groß, daß er – falls er nicht Historiker von Fach ist – stets die äußerste Mühe hat, sich von den Erscheinungsformen, die sie ihm darbieten, zu emanzipieren. Es ist höchst bezeichnend, daß selbst RANKE, der sich im übrigen um die Formen, in denen das Individuum der Masse erscheint, recht wenig kümmert, auf den Einfluß hinweisen zu müssen glaubt, den das Kunstwerk in dieser Beziehung hat. Am Anfang seiner Abhandlung über Don Carlos »Historisch-biographische Studien«. Sämtliche Werke. Leipzig 1877, Bd. 40/41, 468f. sagt er bei der Analyse der historischen Schriften, die sich vor ihm mit seinem Stoff beschäftigt haben: »Unmittelbar aus St. Real schöpfte der deutsche Dichter, welcher den Namen des Don Carlos bei uns berühmt gemacht hat ... Er vollendete sozusagen die Fabel, indem er sie auf ihren idealen Grund zurückführte. Aber offenbar ist doch, daß er die Meinung, die ohnehin schon gang und gäbe war, so viel an ihm lag, verstärkte. So ist es nun einmal mit historischem Roman und Schauspiel. Die Leser wissen wohl, daß man sich nicht verpflichtet, ihnen die Wahrheit zu berichten. Aber von der eigentlichen Historie gewöhnlich ohne Anschauung, ohne die Illusion des teilnehmenden Gefühls zurückgelassen, ergreifen sie mit Begierde den Eindruck, den ein Roman und Schauspiel machen, und an die Namen, die ihnen die ersten gegeben, knüpfen sie unwiderruflich die falsche Vorstellung der letzteren.« Wenn RANKE diese »falsche Vorstellung« überhaupt erwähnenswert findet, so sind in ihm – sicherlich ohne daß er sich dessen völlig bewußt wird – bereits Anschauungen lebendig, die bei der Besprechung des Verhältnisses von Wissenschaft und Massenmeinung ausführlich zu erörtern sein werden.

Aber wichtiger ist für uns der Einfluß von Dichtwerken auf die Erscheinungsform solcher Individuen, in denen bestimmte Völker und Zeiten Eminenzen ersten Ranges erblicken. Es ist ohne weiteres klar, daß dieser Einfluß besonders stark sein wird in Epochen, denen die Fähigkeit zur Kritik abgeht und die deshalb bei der Transformierung histo [174]rischer Charaktere völlig sorglos verfahren. Die üppige Sagenbildung des Mittelalters z. B. fand kein Korrektiv in der historischen Wissenschaft. Es lag dem mittelalterlichen Menschen fern, sich klar zu machen, daß der wirkliche Vergil ein anderer war, als er in den allegorischen Dichtungen des Fulgentius oder Johann von Salisbury oder als er im Dolopathos und bei Dante erscheint. Und mit dem gewaltigen Kreise der Alexander- und der Karls-Sagen war es nicht anders: er wurde kritiklos als Geschichte hingenommen. – In dem Maße, in dem der historische Sinn bei der Masse wächst, schwindet natürlich der Einfluß des Dichtwerkes. Wenn heute etwa der Name Cäsar genannt wird, so wird auch die geschichtsunkundige Masse 2. Grades zunächst nicht an die Form denken, die Shakespeare ihm in seinem Drama gegeben hat. Aber es ist kaum zu leugnen, daß in dem Gesamtbilde gewisse Züge aus dieser Form herstammen. Wenn sie nur nebenher in Betracht kommen, so liegt das allein daran, daß gerade dieses Shakespearesche Drama heute nicht mehr eine Macht ersten Ranges ist. Sowie aber der Einfluß eines Dichters ganz besonders groß ist, wirkt er auch noch in moderner Zeit im stärksten Maße auf die Erscheinungsform des Individuums ein. Besonders klar wird das, wenn wir an das Bild denken, das die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts sich von Napoleon geformt hatte, und namentlich an den Einfluß, den Béranger darauf hatte. Zur Zeit der Restauration ist Béranger mit seinen liberalisierenden Tendenzen und seinem schroffen Antibourbonismus der Abgott des Volkes. In Napoleon sieht er aus verschiedenen, hier nicht interessierenden Gründen nicht etwa den rücksichtslosen, unmäßig ehrgeizigen Eroberer, sondern nur das Haupt der Revolution, d. h. den Feind des Königtums und einen liberal gesinnten Politiker. So erscheint Napoleon in seinen Liedern. Und genau so erscheint er nach kurzer Zeit auch der Masse des Volkes. Es wurde bereits früher darauf hingewiesen, daß diese auffallende Transformierung ihren letzten Grund in den allgemeinen Zeittendenzen hat. Béranger ist nur der höchst einflußreiche Resonator dieser Tendenzen. Es ergibt sich also eine eigenartige Wechselwirkung zwischen den ruhmerweiternden Faktoren: die Masse beeinflußt den Dichter und dieser wiederum die Masse; [175] zwischen den Verhältnissen im Mittelalter und denen der Neuzeit besteht also, wie sich auch an dieser Stelle zeigt, nur ein quantitativer, kein qualitativer Unterschied.

Aber Béranger ist nicht der einzige, der Napoleon zum Helden seiner Dichtung macht. Von Bänkelsängern wird in unzähligen Liedern immer wieder der Ruhm der großen Armee verkündigt. Edgar Quinet schreibt sein Epos »Napoléon«, bei Byron, Puschkin, Chamisso, Grillparzer, Heine u. a. taucht er als Wesen von übermenschlichen Dimensionen auf, und selbst ein Mann wie Lamartine, der ihm mit ausgesprochener Feindschaft gegenüber steht, trägt durch seine feindlichen Gedichte letzten Endes nur dazu bei, Napoleons Ruhm zu erweitern. Je weiter sich der Dichter von der Epoche des behandelten Individuums entfernt, desto weniger ist er an der Bildung der Erscheinungsform aktiv beteiligt. Eine moderne Napoleon-Dichtung z. B. wird in den meisten Fällen nur passiv sein, d. h. sie wird die Züge wiedergeben, die sich bei der Masse durch die verschiedenen ruhmzeugenden und -erweiternden Faktoren allmählich gebildet haben. Versucht sie es, neue Züge in das alte Bild einzufügen, so wird sie eine Weitertransformierung nur dann erzielen, wenn ihr Schöpfer bei der Masse ganz besonderes Ansehen genießt.

Die bereits berührte Frage, unter welchen Bedingungen ein Individuum Gegenstand der Dichtung wird, ist nun noch eingehender zu behandeln. Die eine Bedingung, die auf das Verehrungsbedürfnis zurückgeht, kann, weil vorher erwähnt, hier übergangen werden. Um schwächere Formen dieses Bedürfnisses handelt es sich da, wo Individuen behandelt werden, die in bestimmten Epochen die Massen stark beschäftigt haben. In den 40er Jahren z. B., in denen Schillers Popularität besonders groß ist, entstehen Hermann Kurz' Roman »Schillers Heimatjahre« und Laubes Schauspiel »Die Karlsschüler«, von denen namentlich das letztere einen großen Erfolg hat. Es ist kaum anzunehmen, daß in den 80er und 90er Jahren eine Dichtung, die Schiller zum Gegenstande gehabt hätte, sehr beachtet worden wäre. Über Ursache und Wirkung des Laubeschen Stückes äußert sich LUDWIG deutlich: Laubes Karlsschüler 1846 waren der »größte Theatererfolg der 40er Jahre. Der Erfolg war einerseits dem populären Helden [176] zu verdanken, andererseits aber trug das Schauspiel dazu bei, das Interesse an einer näheren Kenntnis des Lebens Schillers zu steigern« (»Schiller u. d. deutsche Nachwelt«, 311).

Tiefer in das dichterische Schaffen hinein führt derjenige Grund, der von Literarhistorikern immer wieder hervorgehoben wird: der Dichter sucht – um ein Wort Goethes zu gebrauchen – sich vor dem eigenen »furchtbaren Wesen zu retten, indem er sich hinter ein Bild flüchtet«. Dieses Bild ist ein historisches Individuum, dessen Schicksale oder Charaktereigentümlichkeiten denen des Dichters ähnlich sind. Es entstehen dann Werke wie Goethes »Egmont« oder »Tasso«, Kleists »Kohlhaas« oder »Prinz von Homburg«, also Werke, die auch für nichteminente Individuen ruhmbildend wirken können. Die Intensität, mit der der Dichter in den historischen Persönlichkeiten sich selbst schildert, hängt natürlich von seiner Eigenart ab. In Shakespeares »Cäsar« oder Schillers »Wallenstein« ist weniger von Shakespeare oder Schiller zu erkennen als in den eben erwähnten Dichtungen von Goethe oder Kleist. Stets aber ergibt sich hier eine Transformation allerstärksten Grades. Da das Primäre der Seelenzustand des Dichters ist und das Individuum nur Mittel zum Zweck, da der Dichter die historische Wahrheit gar nicht geben will, der Leser sie auch nicht erwartet, steht einer völlig willkürlichen Umbildung der Erscheinungsformen nichts entgegen.

Die konstruierende Literaturgeschichtsschreibung ist stets geneigt, diesen aus dem Innersten kommenden Gründen eine ausschlaggebende Bedeutung zuzuschreiben. Mit Unrecht. Man denke an jene Shakespeare-Forschung, die das Seelenleben des Dichters, von dem man so gut wie nichts weiß, erst mühsam aus seinen Werken herausinterpretiert und dann seine Werke für den notwendigen Ausfluß dieses – auf solche Weise erkannten – Seelenlebens erklärt. Ein ähnlicher Zirkel ergibt sich oft genug, auch bei Dichtern, deren Persönlichkeit man kennt und die – wie etwa Goethe und Kleist – einen starken Drang hatten, in ihren Werken sich selbst zu geben. In sehr vielen Fällen führt zur Behandlung historischer Individuen der sehr viel äußerlichere Grund, daß der Dichter sich einfach auf die »Motivsuche« begibt, weil er den Drang hat zu dichten, aber wegen eines Stoffes in Verlegen [177]heit ist. Schon bei Goethes »Goetz« ist das historische Individuum das Primäre, des Dichters Inneres das Sekundäre. Noch mehr ist das der Fall, wenn etwa Schiller Persönlichkeiten wie Maria Stuart, die Jungfrau von Orleans, Wallenstein usw. behandelt. Ja es gibt Individuen, die immer wieder Gegenstand dichterischer, besonders dramatischer Werke geworden sind, neben der bereits erwähnten Sophonisbe vor allem Kleopatra, Cäsar, Arminius, Konradin, Heinrich IV. Der Grund, warum gerade sie dieser Auszeichnung würdig gefunden wurden, liegt auf der Hand. Ihnen allen eigentümlich ist ein ungewöhnliches, die Phantasie erregendes Schicksal, das sie als geeigneten Dramenstoff erscheinen läßt und den motivsuchenden Dichter der Mühe überhebt, eine tragische Handlung frei zu erfinden. Daß die Eminenz hierbei keine Rolle spielt, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Auffallen könnte höchstens, daß in der obigen Aufzählung die meisten Individuen Eminenzen, und zwar politischer Art, sind. Der Grund hierfür liegt nicht nur in der bekannten Tatsache, daß bis in die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Tragödie – den OPITZschen Worten gemäß – nur von »königlichem Willen«, nicht aber »von geringen Standes Personen« handeln wollte, sondern auch darin, daß sie von den letzteren nicht handeln konnte. Denn, wenn man von wenigen Ausnahmen – etwa Faust und Don Juan – absieht, waren die Lebensschicksale von Individuen, die nicht als Herrscher oder in sonstiger Stellung in das politische Leben eingegriffen hatten, gar nicht bekannt genug, um sich dem Dichter aufzudrängen. Allmählich kommen von England der bürgerliche Roman und das bürgerliche Trauerspiel nach dem Kontinent; aber sie behandeln fast ausnahmslos Persönlichkeiten, die der Phantasie des Dichters entsprungen sind. Erst im 19. Jahrhundert wird das historische bürgerliche Individuum – es sei nur an Kohlhaas, Chatterton, Kaspar Hauser, Kleist erinnert – Gegenstand der Dichtung, mag es nun Roman, Epos oder Drama sein.

Die Transformation all dieser Individuen, die der Dichter wählt, weil sie ein abenteuerliches oder tragisches Schicksal gehabt haben, ist naturgemäß geringer als die der anderen, die für den Dichter nur Mittel zum Zweck der Selbstdar [178]stellung sind. Aber auch hier ist sie immer noch groß genug, Daß der Coriolan eines Dichters aus dem 17. Jahrhundert anders aussieht und aussehen muß als der eines modernen, daß der Lessingsche Faust eine andere Erscheinungsform hat und haben muß als der Goethesche, ist selbstverständlich: das Individuum wird in den Kunstwerken verschiedener Epochen mehr oder weniger zum Abbild der jeweiligen Epoche, in den verschiedenen Kunstwerken derselben Epoche mehr oder weniger zu dem des Künstlers, der es darstellt. In jedem Fall aber verhilft das Kunstwerk dem Individuum zu einem Grade der Gekanntheit, den es ohne dasselbe nie erlangt hätte. Ist die Dichtung noch derart, daß die Kritik der Um- und die der Nachwelt, also die Literaturgeschichte, sich damit beschäftigt, so wirkt auch dieser Umstand wieder mittelbar ruhmerweiternd für die behandelte Persönlichkeit.

Ähnlich wie bei der Dichtkunst liegen die Verhältnisse bei den bildenden Künsten. Freilich ist hier die Massenwirkung etwas beschränkt. Denn während das Dichtwerk durch den Buchdruck alsbald bis ins Ungemessene verbreitet wird und als Drama überdies von der Bühne herab auf jede beliebige Hörerzahl wirken kann, sind Bild und Skulptur zunächst auf einen einzigen Ort und damit auf einen ziemlich kleinen Wirkungskreis angewiesen. Aber ein Ausgleich tritt wie bereits an früherer Stelle hervorgehoben – in moderner Zeit durch die außerordentliche Vervollkommnung der Reproduktionstechnik ein: die Züge eines Individuums, dessen Porträt zunächst vielleicht nur in einem Museum hängt, werden, falls das Kunstwerk an sich darnach angetan ist, alsbald der Masse bekannt, wobei der Eminenzgrad des Individuums völlig außer acht bleibt. Die sicherlich nichteminenten Persönlichkeiten Hieronymus Holzschuher und Mona Lisa da Gioconda sind »berühmt«, und zwar weil die eine von Dürer, die andere von Lionardo porträtiert worden ist. Es handelt sich in diesen allereinfachsten Fällen nicht einmal um bloßen Namenruhm; denn ein bedeutendes Kunstwerk enthüllt dem Kenner auch manches vom Seelenleben der porträtierten Persönlichkeit. Aber es ist sicherlich nur ein Zufall, daß in jenen Fällen überhaupt die Namen überliefert sind. Wenn die Bilder etwa die Unterschrift geführt hätten »Der Mann [179] mit dem Barte« oder »Die lächelnde Frau«, wären die Individuen aus dem Zustande der Nichtgekanntheit nie herausgetreten. Der Maler hat sie zum Gegenstande seines Werkes gewählt, nicht weil sie bereits über eine bestimmte Erscheinungsform verfügten, sondern weil ihr Äußeres ihn lockte.

Die Ähnlichkeit dieser Fälle mit den vorher besprochenen (Don Juan, Michael Kohlhaas usw.) ist evident. Aber es treten zugleich bestimmte Unterschiede zutage, die gerade für unsere Zwecke beachtenswert sind. Porträtiert wird das nichteminente Individuum nur bei seinen Lebzeiten, da es nur dann als Modell fungieren kann; dichterisch verarbeitet hingegen wird es auch nach seinem Tode; denn die Kunde von seinem eigenartigen Schicksal erhält sich leicht. Aber die Verhältnisse verschieben sich, sowie wir vom nichteminenten zum eminenten Individuum aufsteigen. Eine Persönlichkeit kann noch so bedeutend sein, ein geeigneter Stoff für den Dichter ist sie nur dann, wenn ihre Erlebnisse in irgend einem Betracht erregend wirken. Goethe, dessen äußeres Leben ruhig hingegangen ist, ist dichterisch – namentlich dramatisch – nur selten verarbeitet worden, jedenfalls seltner als Chatterton oder Kleist, deren Schicksal im reinsten Sinne des Wortes tragisch war.

Daß die Ikonographie eminenter Individuen ein anderes Gepräge zeigt, ist nicht auffallend. Wer ein geeignetes Objekt für den Dichter ist, braucht es nicht für den Maler zu sein, und umgekehrt. Goethe mit seinen ausgeprägten und auffallenden Zügen ist unendlich oft porträtiert worden, hingegen sind von Kleist, dessen Gesicht offenbar nur wenig reizvoll war, nicht mehr als 1 oder 2 Bilder erhalten. Der Tod bildet beim eminenten Individuum auch keinen Abschluß der Ikonographie: Religionsstifter, Könige, Feldherrn und Künstler, sie alle werden so lange immer von neuem bildlich dargestellt, als sie die Nachwelt beschäftigen, d. h. als ihre Erscheinungsform in der Bildung und Umbildung begriffen ist.

Es fragt sich nun noch, inwiefern die bildende Kunst auf diese Transformierung aktiv einwirkt. Besonders klar liegen die Verhältnisse bei Christus, über dessen Äußeres das Neue Testament bekanntlich nicht die geringsten Nachrichten enthält, den wir uns aber trotzdem heute in einer ganz bestimmten, sehr charakteristischen Form vorstellen. Es braucht [180] hier nicht im einzelnen verfolgt zu werden, wie aus dem holdseligen, bartlosen Jüngling im 3. Jahrhundert die hoheitsvolle, bärtige Mannesgestalt wird, wie später die italienische Renaissance in Christus vor allem das Ideal des schönen Mannes sieht und wie erst die germanische Kunst das aus tiefster Seele geschöpfte – und, wie es scheint, endgültige – Bild des leidenden Christus schafft. Vgl. PFANNMÜLLER, Jesus im Urteil der Jahrhunderte. Leipzig und Berlin 1908, besonders »Das Christusbild der Kunst im Laufe der Jahrhunderte«, 549f. In jedem Falle liegt hier eine völlige Neuschöpfung vor: das Primäre ist hier wieder die Gesamtheit der Faktoren, die die Erscheinungsform schaffen, die also in bestimmten Epochen bestimmte Idealbilder hervorrufen. Aber da das Christusporträt in einer ungeheuren Menge von Exemplaren über die Erde verbreitet ist, kann gar nicht geleugnet werden, daß das Produkt auch hier wieder zum Produzierenden wird, d. h. daß die Vorstellung, die sich viele Menschen von Christus machen, stark beeinflußt wird durch das Porträt, das ihnen – und zwar in ziemlich einheitlicher Form – aller Orten vor Augen tritt.

Eine so gewaltige, die Erscheinungsform wirklich beeinflussende Macht wird die bildende Kunst in all den Fällen nicht haben, in denen authentische Nachrichten über das Äußere des Individuums erhalten sind. Wo sie sich da einer Persönlichkeit in besonderem Maße bemächtigt, wird sie zunächst noch nicht eigentlich transformierend wirken, d. h. zwar den Umfang des Ruhmes vergrößern, aber die Art der Erscheinungsform nicht verändern. Die Popularität Friedrichs des Großen ist ohne die bildende Kunst, d. h. ohne die Pesne, Graff, Chodowiecki, Schadow, Rauch, vor allem ohne Menzel, undenkbar. »Die Umrisse der äußeren Erscheinung des großen Königs sind ein feststehender Begriff geworden, ein jedes Kind wird sein Bild auf den ersten Blick erkennen. Diese Popularität seines Bildes verdankt Friedrich aber weniger den Porträts aus seiner Lebenszeit als der Meisterhand Adolf v. Menzels, der durch seine Schöpfungen das Verlangen des preußischen Volkes und der Menschheit überhaupt nach einem sprechenden, die Phantasie sowohl wie den Verstand ganz befriedigenden [181] und erfüllenden Bildnis ihres Helden in höchster künstlerischer Form erfüllt hat.« »Ausstellung Friedrich d. Gr. in der Kunst, veranstaltet von der Kgl. Akademie der Künste«. Berlin 1912. (Mit Vorworten von SEIDEL und AMERSDORFFER.) S. 13.

Ist hier immerhin noch von der »äußeren Erscheinung« die Rede, so führt ein anderer Ausspruch dieses Buches noch näher an unsere Gedankengänge heran: »Menzels Verkörperung des großen Königs, seines Geschickes und seiner Taten ist so zwingend wahr und lebendig, daß sich unsere Vorstellung von Friedrich selbst und von allem was mit dem Gedächtnis an ihn zusammenhängt, in der Hauptsache nach seinen Darstellungen gebildet hat« (a. a. O. 28). Ja Volz stellt Menzel auf eine Stufe mit Ranke. »Für den Historiker liegt der Vergleich mit Leopold von Ranke nahe; denn was Menzel auf dem künstlerischen Gebiete vollbracht, hat Ranke in der Geschichtsschreibung geleistet: wie er uns einen Luther, wie er uns Preußens Herrscher, den Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. geschildert, so sehen wir sie heute.« Voss. Zeitg. 6. Dezember 1912, Nr. 621. »Friedrich d. Große in der Kunst«. Von einer Transformierung wird in diesem Falle nur wenig die Rede sein können; denn Menzel, der ja, bevor er an die Arbeit ging, sehr eingehende, sozusagen wissenschaftliche Studien über die ganze friderizianische Epoche anstellte, kann als Historiker angesehen werden, der sich bemüht, das Bild des Individuums so weiter zu geben, wie es war, unter möglichster Zurückdrängung seiner eigenen, d. h. des Künstlers, Individualität. Wenn also Menzel vor allem auch nur als Mehrer des Ruhm umfanges Friedrichs d. Gr. zu betrachten ist, ist doch nie ganz zu vergessen, daß er Künstler war, d. h. daß er in seinem Werke auch sich selbst geben wollte und gegeben hat. Stärker als in diesem Falle tritt – neben der im engeren Sinne ruhmerweiternden – auch die transformierende Macht der bildenden Kunst in der Ikonographie fast aller eminenten Individuen zutage. Denn der Maler oder Bildhauer ist oft eine noch eigenwilligere Persönlichkeit als der Dichter, und wie etwa aus Goethes »Tasso« oder Kleists »Kohlhaas« mehr über Goethe und Kleist als [182] über Tasso und Kohlhaas zu erfahren ist, ist auch für den bildenden Künstler – und zwar um so mehr, je bedeutender er ist – das zu porträtierende Individuum oft nur ein Vorwand, um eigene Seelenstimmungen auszudrücken. Er wird es sich amalgamieren, manchmal bis zu dem Grade, daß es vollkommen zurücktritt.

 

Parodie und Karikatur. Es könnte zunächst scheinen, als hätten diese zwei Nebenzweige künstlerischen Schaffens Tendenzen, die das Individuum nicht im günstigen, sondern im ungünstigen Lichte erscheinen lassen, die also in gewissem Sinne ruhmvermindernd wirken. Bei genauerem Hinsehen aber ergibt sich eine andere Sachlage, und es zeigt sich überdies, daß auch hier Ruhmfolge und Ruhmursache in eins zusammenfließen. Die Parodie bemächtigt sich des Individuums oder eines seiner Werke fast ausnahmslos erst dann, wenn es die Aufmerksamkeit bereits auf sich gezogen hat, d. h. bereits über eine bestimmte Erscheinungsform verfügt. Übersieht man etwa die Masse der Homer- und Vergilparodien, die zunächst bei den Griechen und Römern selbst, dann aber bei allen Völkern, die ein Verhältnis zur Antike hatten, entstanden sind, so wird ohne weiteres klar, daß es sich nicht um Versuche handelt, die Individuen Homer und Vergil herabzusetzen oder gar lächerlich zu machen, sondern daß – zunächst – nur die natürliche Folge eines übergroßen Ruhmes vorliegt: die Dichtungen, die immer wieder gelesen oder zitiert werden, die der Menge also genau bekannt sind, werden manchmal vielleicht ohne Absicht – meist aber mit vollem Bewußtsein verändert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt. Es wird so zwar auf Kosten des eminenten Individuums eine komische Wirkung erzielt, aber diese Wirkung ist für den Parodierten eher günstig als ungünstig: sie verhindert eine Übersättigung mit der allzu häufig zitierten Dichtung und hält vor allem die Erinnerung an das Werk, das wie eine stark abgegriffene Münze allmählich an Wert verlieren müßte, auch in Epochen lebendig, die ihm sonst fremd gegenüberstünden. Es läßt sich fast das literarhistorische Gesetz aufstellen, daß die höchstgeschätzten Werke zugleich die meistparodierten sind: in England wird nichts häufiger parodiert als Shakespeares »Hamlet«, namentlich der Monolog »To be or not to [183] be«, in Deutschland nichts häufiger als Schillers »Lied von der Glocke« und Goethes »Faust«.

Daß die Folge eines bestimmten Ruhmgrades zugleich die Ursache weiteren Ruhmes ist, zeigt sich noch deutlicher bei der Karikatur. Zwar liegen hier die Verhältnisse insofern etwas anders, als die Karikatur sich hauptsächlich mit dem lebenden Individuum abgibt, also mit dem, dessen Erscheinungsform noch im Werden begriffen ist. Auch ist sie oft weniger harmlos, da sie dem Individuum Widerstand leistet und sein Werk in den Augen der Mitwelt wirklich herabzusetzen sucht. Trotzdem ist eine ihrer Wirkungen in jedem Falle für den Karikierten günstig: sie geht von der Anschauung aus und erzeugt demgemäß bei anderen die Anschauung, daß das Werk des Individuums in starkem Maße beachtenswert ist, daß man zu ihm in irgendeiner Weise Stellung nehmen muß. Mehr als den Widerstand fürchtet – wie bereits hervorgehoben – derjenige, der sich durchsetzen will, das Totgeschwiegenwerden. Und der Diplomat oder der Künstler, die schon in die Zeitung eingedrungen sind, werden es unter allen Umständen als Fortschritt ansehen, wenn die Karikatur – sei es auch in bösartiger Form – sich mit ihnen zu beschäftigen anfängt. Was zunächst nur Zeichen beginnender Gekanntheit ist, wird bald selbst Mitbildner der Erscheinungsform. Selbst in so extremen Fällen wie etwa der deutschen Karikatur auf Napoleon I., der französischen auf Bismarck, in denen also nichts als Haß am Werke ist und sein kann, wird nichts weniger als eine Verkleinerung des Individuums erzielt. Und wenn in beiden Ländern jene zwei Gestalten zu fast dämonischer Größe angewachsen sind, so hat die Karikatur ihren bedeutenden Anteil daran.

Aber wichtiger wird sie für uns durch die Tatsache, daß sie in sehr vielen Fällen ihren negierenden Charakter völlig aufgibt. Nur die Karikatur von Ständen negiert ohne Mitleid, die von Individuen folgt gehorsam der »öffentlichen Meinung«, also der Gesamtheit der Faktoren, die die Erscheinungsform bilden, und sagt ebenso gern Ja wie Nein. Der Kladderadatsch z. B. polemisiert nur solange gegen Bismarck, als die Bismarcksche Politik offensichtliche Erfolge nicht aufweisen kann. Aber 1865, nach der Unterzeichnung des Gasteiner Vertrages, ändert [184] sich seine Stellung, nach dem österreichischen Kriege tritt er völlig zu Bismarck über und wird später einer der unermüdlichsten und einflußreichsten Verherrlicher und Ruhmverkünder des Kanzlers. Bismarck-Album des Kladderadatsch. Berlin 1890, namentl. 32ff. Heute, wo die Erscheinungsform Bismarcks bereits ganz bestimmte, nur noch schwer verwischbare Züge angenommen hat, ist die – immer noch neu entstehende – Bismarck-Karikatur völlig im Banne jener Form, und es dürfte schwer fallen, in einem Witzblatt eine Zeichnung zu finden, die Bismarck zu verkleinern suchte. Richard Wagner geht es nicht anders. »War die Karikatur ehedem in den meisten Fällen eine feindselige Nörglerin, die, von Wagners Großheit angezogen, aus Prinzip alles verwitzelte und bemängelte, was von ihm ausging, oder selbst eine gehässige Verleumderin, die weder den Menschen noch den Künstler schonte, so ist sie heute eben so häufig Rächerin und Schützerin seiner Ehre und Größe, Züchtigerin aller Kleinlichkeit und Verständnislosigkeit, die sich ihm noch immer in den Weg stellen.« KREOWSKI u. FUCHS, Rich. Wagner in der Karikatur. Berlin 1907, 16. – Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß das Witzblatt »Simplizissimus« seit Jahren eine »Galerie berühmter Zeitgenossen« bringt. Auch diese Galerie hat nicht den Zweck, die Individuen lächerlich zu machen oder auch nur herabzusetzen, sondern will nur in einer dem Wesen des Blattes entsprechenden Kunstform Individuen darstellen, die es – infolge unserer »Faktoren« – zu einem bestimmten Grade der Gekanntheit gebracht haben. Die »Galerie« wirkt also wie jede andere ruhmerweiternd. Nirgends vielleicht zeigt sich die Macht der ruhmzeugenden und -erweiternden Faktoren stärker als hier: die Karikatur, deren Wesen Negation ist, vergißt dieses ihr Wesen und geht zur unbedingten Bejahung über, sofern die Konstellation jener Faktoren ihr den Übergang nahe legt.

 

Die Übersetzung. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß bei all den Individuen, deren Werk auf der Sprache beruht, eine Propagierung des Ruhmes über die Sprachgrenzen hinaus naturgemäß erschwert ist. Einen Ausgleich bietet hier die Übersetzung. Der Einfluß, den sie auf den Umfang des Ruhmes und damit auf die Gestaltung der Erscheinungsformen hat, hängt von dem Ansehen ab, das sie selbst genießt, dann [185] aber auch von dem Umstande, ob die Sprache des Schriftstellers im Lande des Übersetzers mehr oder weniger gekannt ist. Vossens Homerübersetzung, die an sich, d. h. abgesehen von Homer, der Mit- und der Nachwelt als Meisterwerk erscheint, erhöht eben durch diese Geschätztheit den Ruhm Homers; aber in jedem Falle ist Homer in Deutschland mehr auf Übersetzungen angewiesen als etwa Molière oder Shakespeare, weil das Griechische dem Deutschen ferner steht als das Französische oder Englische. Trotzdem wird sofort evident, was auch Shakespeare in Deutschland der langen Reihe (der Übersetzungen, besonders der Schlegel-Baudissinschen, verdankt. Freilich ist stets zu bedenken, daß jeder Schriftsteller auch im fremden Lande bereits über eine bestimmte Erscheinungsform verfügen kann, bevor er in dessen Sprache übersetzt ist. Denn, wenn auch die Werke unbekannt bleiben, dringt doch der Ruf über die Landesgrenzen hinaus. Dazu kommt, daß unter denen, die sein Werk in der Ursprache zu lesen vermögen, sich stets einige finden, die – als Kritiker oder Literarhistoriker – ihre eigene Meinung durchzusetzen und zur allgemeinen zu machen verstehen.

Wenn aber heute das Urteil, daß etwa Dante oder Cervantes zu den größten Dichtern der Welt gehören, von vielen nachgesprochen wird, die nie eine Übersetzung jener Dichter gelesen haben, so ist das ein Zustand, der ohne die Übersetzungen gleichwohl nie eingetreten wäre. Sowie ein Schriftsteller übersetzt ist, sowie er also in einem neuen Kreise, diesmal einem neuen Sprachkreise, zu wirken beginnt, tritt – nach dem nun schon so oft erwähnten Gesetze – er selbst und sein Werk zurück gegenüber der Erscheinungsform, die – als Folge der Übersetzung – alsbald zu entstehen anfängt. Die Presse, die Schule, die Kunst, das Verehrungsbedürfnis und all die anderen Faktoren bemächtigen sich seiner, er selbst verflüchtigt sich, steht aber in einer bestimmten Form auch denen vor Augen, die mit seinem Werk niemals in persönliche Berührung gekommen sind.

Es erhebt sich nun die Frage, warum der eine Dichter übersetzt wird, der andere nicht und warum einige immer wieder, d. h. in den verschiedensten Epochen, zu Übertragungen anregen. Selbst für die letztgenannte Tatsache kann als Er [186]klärung jetzt nicht mehr die Eminenz der Individuen allein angeführt werden. Wenn wir etwa die lange Reihe der Shakespeare-Übersetzer betrachten, die von v. Borck über Wieland, Eschenburg, Schlegel-Baudissin zu Gundolf‚ also von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die letzte Zeit, führt und das Phänomen dieser langen Reihe zu ergründen suchen, so können wir höchstens sagen: jeder der Übersetzer befand sich bereits einer bestimmten – sei es durch »Sturm und Drang«, sei es durch die Romantik oder andere Zeittendenzen beeinflußten Erscheinungsform Shakespeares gegenüber; er war – mehr oder weniger willenloses – Werkzeug der Gesamtheit der Faktoren, in deren Kette die Eminenz, wie sich gezeigt hat, nur ein kleines Glied ist. Ist die Übersetzung aber erst einmal aus solchen Gründen zustande gekommen, so trägt sie ihrerseits wieder im höchsten Maße zur Ruhmerweiterung bei. Ganz ähnlich verläuft die Geschichte der Übersetzungen klassischer, d. h. griechischer oder lateinischer, Autoren.

Ist hier das übersetzte Individuum, wenn auch in verzerrter Gestalt, immerhin noch das Primäre, so wird es in anderen Fällen völlig zum Sekundären gegenüber dem Übersetzer. Die Baudelaire, Mallarmé u. a. verdanken ihre Gekanntheit in Deutschland vor allem den Übersetzungen Stephan Georges und seiner Anhänger. Vorher verfügten diese Franzosen in Deutschland über keinerlei Erscheinungsform. Aber wie kam George gerade auf sie und nicht auf andere? Bei seinem starken Anlehnungsbedürfnis suchte er Individuen, die seiner eigenen Wesensart ähnlich waren, bei deren Übersetzung er also in gewissem Sinne sich selbst geben konnte. Das Primäre war er: sie waren nur Vorwand zur Darstellung seiner selbst. Und nach dieser Richtung hin entwickelte sich denn auch ihre Erscheinungsform. Den Übersetzten kam der Ruhm des Übersetzers zugute. Nicht umgekehrt, wie man es als das Natürlichere erwarten sollte. Die Bedeutung dieser Erwägungen wird klar, wenn man bedenkt, daß z. B. die gewaltige Übersetzungsarbeit der Romantik zum großen Teil auf ähnliche Gründe zurückgeht. Wenn Calderon oder Lope de Vega »entdeckt« und übersetzt, wenn die übrigen romanischen und später auch die orientalischen Literaturen den Deutschen nahe gebracht werden, so handelt es sich ebenfalls zunächst um ein [187] Anlehnungsbedürfnis, das mit einem Mangel an Produktionsfähigkeit zusammenhängt, und demzufolge um das Streben, Individuen, deren Wesensart, d. h. hier vor allem: deren äußere Dichtungsformen denen der Übersetzer nahe stehen, einem großen Kreise zugänglich zu machen. Mit dem vieldeutigen Worte »romantisch« stellen die Romantiker selbst jede Verbindung zwischen sich und dem neu entdeckten Dichter her. Vgl. etwa WILHELM SCHLEGEL: »Calderon kann uns als Beispiel eines von dem Shakespeareschen ganz verschiedenen, jedoch ebenso vollendeten Stiles im romantischen Drama dienen« (Berliner Vorlesungen, herausgeg. von JAKOB MINOR, I, 110).

Diese Ähnlichkeit des Übersetzten mit dem Übersetzer spielt für die Ruhmverbreitung dann noch in einem weiteren Sinne eine Rolle. Wenn z. B. Shakespeare für Deutschland eine ganz andere Bedeutung gewinnt als für Frankreich, so liegt das nicht allein an der Eminenz oder der Erscheinungsform der Übersetzungen, sondern vor allem daran, daß der Deutsche in Shakespeare einen Wesensverwandten erkennt oder zu erkennen glaubt. Auf ähnliche Weise wird es zu erklären sein, daß von den modernen französischen Lyrikern keiner mehr als Verlaine in Deutschland Eingang gefunden hat. Der »Übersetzer« ist in diesen Fällen nicht nur der sprachenkundige Umformer, sondern die ganze Volksgemeinschaft, der der Umformer angehört und auf die die Übersetzung zu wirken bestimmt ist.

Sehr viel äußerlicher sind die Gründe, durch die in einer großen Anzahl anderer Fälle Übersetzungen und damit Ruhmerweiterungen veranlaßt werden. Gehen wir auf die Anfänge der deutschen Übersetzungskunst zurück, also auf die Lukian-, Terenz-, Plautus-»Translationen« der Niklas v. Wyle, Albrecht von Eyb u. a. (Ende des 15. Jahrhunderts), so zeigt sich, daß hier von einer Erkenntnis der Wesensart jener antiken Autoren, ja auch nur von humanistischen Interessen nicht die Rede sein kann. Nur der Stoff reizt. Es handelt sich also um eine Form des Sensationsbedürfnisses, die auch bei den zahllosen Übersetzungen von Reisebeschreibungen oder von sexuell reizenden Büchern vorliegt.

 

Die Lied-Komposition. Die Massenwirkung der reinen Lyrik ist beschränkt. In Bibliotheken, die nicht wissen [188]schaftlichen Zwecken dienen, in denen Dichtwerke also um ihrer selbst willen gelesen werden, werden Romane und Dramen an erster Stelle, dann epische und zuletzt erst lyrische Gedichte verlangt. Wenn trotzdem Dichter, die vor allem Lyriker waren, es zu starken Ruhmformen gebracht haben, so geht das zum einen Teil – wiederum ist es natürlich nur einer von vielen – auf rein musikalische Gründe zurück: ihre Gedichte sind entweder besonders häufig komponiert worden, oder die Melodien von seltner komponierten Gedichten haben infolge ihrer Einprägsamkeit eine besonders große Verbreitung gefunden. Daß die Massenwirkung des vertonten Liedes größer ist als die des unvertonten, liegt offenbar an folgenden Gründen: die Melodie an sich prägt sich den meisten Menschen leichter ein, ist für sie also auch leichter zu behalten als der Text; sie bleibt in den meisten Fällen – und zwar in fast allen, in denen es sieh um weit verbreitete Lieder handelt – für die verschiedenen Strophen dieselbe, während der Text sich ändert, bietet also auch aus diesem Grunde dem Gedächtnis nur geringe Schwierigkeiten; dazu kommt, daß man sie besonders oft durch Instrumente – also ohne Text – vortragen hört (der rasche Erfolg des Gassenhauers geht z. T. darauf zurück). Will man eine auf solche Weise dem Gedächtnis eingeprägte Melodie jedoch singen, so ist man gezwungen, sich nach ihr – es handelt sich also um ein posteriores Verhältnis – auch den Text zu merken. In einem Beispiel: Max Friedländer sagt über »Goethes Gedichte in der Musik«: »Kein Dichter irgend eines Kulturvolkes hat die Komponisten so stark und tief angeregt wie Goethe (nicht ganz richtig, wie die folgende Anmerkung zeigt. D. Verf.). Und durch Mozart und Beethoven, Reichardt und Zelter, Schubert, Loewe und Mendelssohn, Robert Franz und Brahms haben seine Lieder eine Verbreitung gefunden, die ihnen ohne die Schwingen dieser Musik sicher nicht in demselben Maße beschieden gewesen wäre«. oethe-Jahrbuch (17) 1896, 176. Das Primäre ist also wiederum nicht das Werk, sondern ein außer ihm liegendes Moment.

Es fragt sich nun noch, warum die Gedichte des einen immer wieder vertont werden, die des anderen nur selten oder [189] gar nicht. Bis zu einem gewissen Grade kommt hier die Erscheinungsform des Dichters in Betracht. Wenn etwa Schubert sich außer mit Matthisson, Hölty, Müller, Körner u. a. vor allem und immer wieder mit Goethe beschäftigt, wenn Schumann von Kerner, Chamisso, Rob. Reinick, Geibel, Rückert u. a. immer wieder zu Heine zurückkehrt, so spielt zweifellos der Ruhm, den Goethe zu der Zeit des einen Komponisten, Heine zu der des anderen genossen, eine gewisse Rolle: die Aufmerksamkeit der Musiker richtet sich besonders auf die Dichter, die ohnehin bereits besonders stark beachtet werden. Aber ausschlaggebend ist nicht der vorherige Ruhm; denn unter den meist komponierten Dichtern finden sich eine ganze Anzahl solcher, die als eminent nicht einmal erscheinen – wie Robert Reinick, Baumbach, Bodenstedt, Roquette, Wilhelm Müller u. a. – und für die selbst die häufige Vertonung nur in geringem Maße ruhmerweiternd gewirkt hat. Die genaue Reihenfolge ist: Heine mit 4259 Vertonungen, Geibel mit 3679, Hoffmann von Fallersleben mit 2693, Goethe mit 2660, Uhland mit 2139, Eichendorff mit 1898, Robert Reinick mit 1769, Lenau mit 1490, Julius Wolff mit 1376, Rückert mit 1095, Baumbach mit 1080, Bodenstedt mit 909, Roquette mit 813, Scheffel mit 791, Wilhelm Müller mit 751, Schiller mit 694, Heyse mit 638, Storm mit 628, Mörike mit 594, Redwitz mit 594, Sturm mit 584, Chamisso mit 580, Freiligrath mit 542, Prutz mit 484, Osterwald mit 428, Mosen mit 401, Theodor Körner mit 383, Tieck mit 349, Justinus Kerner mit 228, Platen mit 228 (vgl. dazu ERNST CHALLIER, Die Lieblingsdichter der deutschen Komponisten, Börsenbl. f. d. deutschen Buchh., 1912, 8836ff. u. 16425ff.). Was für den Komponisten vor allem in Betracht kommt, ist das, was man die » Sangbarkeit« der Gedichte nennt, also eine – zum Teil vom Volksliede herstammende – Deutlichkeit und Knappheit des Ausdrucks, die unterstützt wird durch Einfachheit im Bau der einzelnen Sätze und der ganzen Strophen. Daß auch diese Sangbarkeit mit Eminenz nur wenig zu tun hat, geht aus der unten verzeichneten Liste mit Deutlichkeit hervor: unter den dreißig Namen fehlen z. B. Hebbel, Keller, C. F. Meyer ganz, Goethe steht an 4., Mörike an 19. Stelle, während die bereits genannten Dichter minderen Grades hervorragende Plätze einnehmen. Ja zuweilen bildet die Eminenz sogar ein Hindernis für die Vertonung: damit die Melodie vom Text nicht erdrückt werde, wählt der Komponist manch [190]mal weniger bedeutende Gedichte, die dann etwa nur die Bedeutung einer Stütze haben, an der sich die eigentliche Pflanze emporrankt.

Es ist freilich zu bedenken, daß häufige Vertonung noch nicht gleichbedeutend ist mit häufigem Gesungenwerden, also mit dem, was für die Massenwirkung allein von Wichtigkeit ist. HEINEs meist komponiertes Lied (»Du bist wie eine Blume« 255mal) ist nicht sein meist gesungenes Lied. Dies ist die Loreley, die ihre ungeheure Verbreitung einer einzigen, ganz besonders einprägsamen und daher völlig zum Volkseigentum gewordenen Melodie verdankt. Setzen wir Einprägsamkeit mit Schönheit, also mit Eminenz gleich – freilich ist auch diese Gleichsetzung bereits gefährlich –, so wird wiederum evident, daß die Massenwirkung der Lyrik weniger auf die Eminenz des Dichters als auf die des Komponisten zurückgeht. Bei Dichtern wie Robert Reinick und auch Wilhelm Müller kann man nicht nur von Ruhmerweiterung, sondern von wirklicher Ruhmzeugung durch die Musik sprechen, und die Gekanntheit selbst so eminenter Lyriker wie Eichendorff und Mörike geht zum sehr großen Teil auf ihre Komponisten, also auf die Mendelssohn, Hugo Wolf, Brahms usw., zurück. Das Verhältnis ist dem in den vorher betrachteten Fällen völlig gleich: ebenso wie das dichterisch verwertete Individuum zurücktritt hinter seinem Dichter, das gemalte hinter seinem Maler, das übersetzte hinter seinem Übersetzer, wird hier der Dichter sekundärer Faktor neben dem Komponisten.


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