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3. Kapitel.
Der Tod.

 

»Deutsche Autoren, man läßt euch freilich lebendig verhungern,
Aber tröstet euch nur, denn man begräbt euch in Speck.«

HEBBEL.

 

Die Klage und der Trost, die in diesen Worten liegen, sind beide alt. In grimmigem Scherz und in heiterem Ernst, in Biographien und Nekrologen sind sie oft genug ausgesprochen worden. Nur eins ist an ihnen zu berichtigen: was man in Deutschland gewöhnlich den Deutschen vorhält, macht man in Frankreich den Franzosen, in England den Engländern, in Italien den Italienern zum Vorwurf. Auch interessiert hier [43] nicht der erste Teil des Satzes, der die Klage enthält. Um so bedeutsamer ist für uns der zweite. Die Tatsache, auf die er hinweist, drängt sich jedem klarsehenden Betrachter biographischer Verhältnisse mit solcher Gewalt auf, daß er sich ihr nicht entziehen kann. Denn wirklich: die Schätzung, die dem Individuum bei seinen Lebzeiten entweder gar nicht oder doch nur mangelhaft zuteil wurde, wird dem Toten überreichlich gewährt. Aber es handelt sich hier nicht nur darum, daß der Ruhm sich stets nur allmählich entwickelt und lange Zeit zu seinem Wachstum braucht, daß er also auch zu stärksten Formen anwachsen würde, wenn das Individuum etwa eine Lebensdauer von 200 oder 300 Jahren hätte. Zu dem post hoc kommt – und zwar als sehr bedeutsamer Faktor – ein propter hoc hinzu. Der Tod selbst wirkt ruhmbildend oder, wo er das nicht mehr nötig hat, ruhmerweiternd. Aber um die Frage nach dem Warum dieser auffälligen Macht des Todes zu beantworten, müssen wir weit zurückschauen.

Weit: bis in die Anfänge des Totenkultes. Das Mysterium des Todes, d. h. das Aufhören eines gewohnten, selbstverständlichen und das Eintreten eines neuen, unbegreiflichen Zustandes, wirkt im höchsten Maße erregend auf die Phantasie auch der primitivsten Gemeinschaft. Das erste Gefühl, das regelmäßig ausgelöst wird, ist die Furcht, und zwar Furcht vor den geheimnisvollen, stets verderblichen Kräften, die der Tote entwickeln kann. Er ist der Dämon, und der Dämon ist dem primitiven Menschen zunächst der Unheilbringer. Es wird also jedem, auch dem weniger eminenten Individuum nach seinem Tode eine Macht zugeschrieben, die selbst das eminente lebende nicht besitzt. Die Furcht ist so groß, daß man die Wiederkehr des Toten nicht nur nicht ersehnt, sondern scheut. Um sie unmöglich zu machen, belastet oder umgibt man das Grab mit schweren Steinen, schnürt die Leiche fest zusammen, vermauert den Eingang zu der Höhle, in der sie ruht. Durch wilden Lärm sucht man den Toten abzuschrecken, durch Trauerbemalung und Trauerbekleidung sich ihm gegenüber unkenntlich zu machen. Die Dinge, die er besonders geliebt hat – Waffen, Schmuck, Geräte –, gibt man ihm mit, damit der Wunsch nach Wiederkehr nicht lebendig werde, usw.

[44] Wird schon durch diese Furcht die Erscheinungsform des Individuums ins Große verzerrt, so geschieht das noch mehr durch einen Brauch, der mit ihr mittelbar im Zusammenhang steht: durch die ehrfurchtsvolle Totenklage. Alle Ehrfurcht geht auf Furcht zurück, und es ist nur natürlich, daß manche Sprachen, wie z. B. die deutsche, den Zusammenhang der beiden Begriffe auch zum Ausdruck bringen. Die Begriffslinie: Tod –› Furcht –› Ehrfurcht tritt um so klarer heraus, wenn man bedenkt, daß auch schon in dieser primitiven Totenklage – neben dem Ausdruck des leichten Unwillens, daß der Gestorbene die Seinen verlassen habe, und dem Schwur, seinen Tod zu rächen – die Lobpreisung des Toten, d. h. eine Hervorhebung und Übertreibung aller guten und eine Verheimlichung aller schlechten Eigenschaften, fast stets einen bedeutenden Raum einnimmt. So trägt auch diese Totenklage dazu bei, den Abstand zwischen dem Individuum an sich und seinen Erscheinungsformen zu vergrößern. Von einigen Ethnologen wird sogar die Ansicht vertreten, daß die Totenklage unmittelbar auf Furcht zurückzuführen sei. Vgl. zu dieser Streitfrage JAMES HASTINGS, Encyclopaedia of Religion and Ethics, Edinburgh 1911, IV, 416ff, (Art. »Death and Disposal of the Dead«.)

Der Animismus der Naturvölker kennt nur die eben geschilderte Form des Totenkultes. Ein eigentlicher Ahnenkult ist erst auf einer höheren Stufe der Zivilisation möglich, wo das Gedächtnis bereits stark genug ist, um die Erinnerung an die Ereignisse der Stammesgeschichte und damit an die Vorfahren aufzubewahren, die jene Ereignisse verursacht haben. WUNDT hat (Völkerpsychologie IV, 1, 488ff.) im Gegensatz zu SPENCER zum ersten Mal mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß primitive Völker einen Ahnenkult nicht besitzen. Diese Ansicht ist heute fast allgemein angenommen. Für uns ist der Ahnenkult besonders wichtig, weil zugleich mit der zeitlichen Entfernung vom Individuum die Notwendigkeit einer weiteren Transformierung der Erscheinungsformen gegeben ist. Je höher hinauf die Ahnenreihe geführt wird, in desto gewaltigere, gottähnlichere Formen wird der Endpunkt der Reihe, das Individuum selbst, verzerrt. Wie sich der Ahnenkult bei den einzelnen Völkern, besonders bei Chinesen und Japanern, gestaltet hat, wird später zu verfolgen [45] sein, wo die Formen des Verehrungsbedürfnisses betrachtet werden. Aber schon hier ergibt sich mit absoluter Evidenz, daß Scheu vor dem Toten und Kult desselben auf die tiefsten und allgemeinsten Triebe der Menschheit zurückgehen und deshalb stets und überall zu beobachten sind.

Auch in der fortgeschrittensten Kultur, ja in ihr ganz besonders. Dabei ist hier in erster Reihe nicht einmal an den kirchlichen Totenkult gedacht, der ja schließlich andere Gründe hat. Wenn wir hören: »In Assisi war man voll Freude über den bevorstehenden Tod des Franziskus. Denn ein echt katholisches Volk hält noch mehr auf tote als auf lebendige Heilige« Vgl. BONWETSCH in HERZOGs Realenzyklop. f. protest. Theolog. u. Kirche (Art. »Heilige«)., so hängt das natürlich mit dem Glauben zusammen, daß der Heilige nach seinem Tode viel besser als vorher bei Gott Fürsprache für die sündige Menschheit einlegen kann. Aber auch in der Gesellschaft, die sich von allem Aberglauben emanzipiert hat, ist das »De mortuis nil nisi bene« heiliger Brauch, ja es ist, ohne daß man sich dessen recht bewußt wurde, in ein »De mortuis nil nisi bonum« übergegangen. Auch in ihr noch wird die Ehrfurcht, die der Tod, das Naturereignis, erweckt, auf den Toten, das Individuum, übertragen. In der Nähe der Leiche wird leise gesprochen. Die Erinnerung an störende oder gar an schlechte Eigenschaften des Toten wird in der Familie unterdrückt, seine Wesensart ins beste Licht gestellt, seine Arbeitsleistung erhoben. Ihren Gipfel findet diese Transformierung der Erscheinungsform beim Durchschnittsindividuum in der Grabrede, die eine wahrheitsgemäße Darstellung gar nicht geben soll und daher stets zur laudatio wird.

Es ist leicht zu ersehen, daß die ruhmbildende und ruhmerweiternde Macht des Todes in dem Maße wächst, in dem das Individuum aus der Reihe seiner nichteminenten Genossen hervorragt. Der Tod, als aktuelles Ereignis, wird zunächst von der Institution ergriffen, die auf einer Ausnutzung der Aktualität beruht: von der Zeitung. Da der Tod auch dasjenige Individuum, mit dem sich die Öffentlichkeit noch gar nicht oder jahrelang nicht mehr beschäftigt hat, plötzlich [46] aktuell macht, bildet der Nekrolog einen fast notwendigen Bestandteil jeder Zeitungsnummer. Daß der Tod das Individuum »aktuell« macht, weiß auch der Kaufmann: unmittelbar nach dem Tode von Schriftstellern annonziert der Verleger ihre Werke in Zeitungen, legt der Buchhändler diese ins Schaufenster usw. – Beim Tode einer Eminenz minderen Grades, des Malers ALMA TADEMA, war – und zwar charakteristischerweise in einer Zeitung selbst – zu lesen: »Es ist vorauszusehen, daß ALMA TADEMA in seinem Vaterlande Belgien und in seinem zweiten Heimatlande England nun beim Tode nochmals laut gepriesen wird. Auch in Deutschland wird man ihn wahrscheinlich als reinen Idealgestalter laut rühmen hören. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, ... (folgt eine Ruhmverminderung)«. Vossische Zeitung, 25. Juni 1912. – Wir sehen also hier: derselbe Kritiker, der die Eminenz des Individuums herabsetzt, erkennt die ruhmbildende Macht des Todes an.

Aber steigen wir in der Stufenleiter der Eminenzen höher hinauf. Von SCHILLER sagt ALBERT LUDWIG in seinem wichtigen Buche »Schiller und die deutsche Nachwelt«, Berlin 1909, S. 17: »Schiller war auf dem Wege, die zeitgenössischen Dichter im Urteile der Mitlebenden alle in den Schatten zu stellen. Da rief ihn der Tod mitten aus seiner Laufbahn, aus großen Entwürfen heraus, und nun tat die Entwicklung plötzlich einen großen Sprung vorwärts. Was sonst die Frucht mehrerer Jahre gewesen wäre, ergab sich aus dem erschütternden Eindruck der Trauerbotschaft. Mag der frühe Tod Schillers an manchen Schwankungen des späteren Urteils über ihn mitschuldig sein aus dem einfachen Grunde, daß er ihn an der Vollendung des Demetrius, an der Schaffung manch anderen Meisterwerks verhinderte, damals, in der Mitte des 1. Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts, brachte er ihn mit einem Schlage den Herzen der Deutschen näher als irgend einen anderen Dichter jener oder früherer Zeit.« Und von MOZART, um nur noch dieses eine Beispiel zu nennen, hören wir ähnliches: »Der frühe Tod Mozarts ...vernichtete die Vorurteile und Abneigungen einzelner und steigerte durch das lebhafte Gefühl des unersetzlichen Verlustes die Bewunderung für seine Werke.« (OTTO JAHN, W. A. MOZART, Leipzig 1905/7, II, 702.) Der Fall MOZARTs und [47] SCHILLERs ist typisch für das hervorragende Individuum. Bei seinem Tode nimmt jedesmal das ganze Volk an der Trauer teil. Allenthalben wird das Bild des Toten publiziert, Trauerfeiern werden abgehalten, ja in einigen Ländern, so in Frankreich, wird dem eminenten Toten durch Parlamentsbeschluß ein Begräbnis auf Staatskosten gewährt. Man stelle sich vor, wieviel das berühmte Begräbnis VIKTOR HUGOs, das ein Ereignis für Paris war, zur Popularisierung seines Namens, und zwar auch in der Masse 3. Grades, beigetragen hat.

Aber die Betrachtung der obigen Fälle führt uns weiter: erschütternd, also ruhmerweiternd wirkte hier nicht nur der Tod an sich, sondern auch die Tatsache, daß es ein früher Tod war. Und es ergibt sich denn auch sehr bald, daß jedesmal, wo eine besondere, aus irgend einem Grunde auffallende Todesart vorliegt, eben diese Art die im Tode liegende ruhmerweiternde Macht erhöht. Am klarsten wird das bei der Betrachtung des christlichen Märtyrertums. Hier wird von dem lebenden Individuum keinerlei, also auch keine religiöse Eminenz verlangt: die Tatsache, daß es aus bestimmten Gründen den Tod erlitten hat, genügt, um das Bild des Individuums einer außerordentlich großen Masse »erscheinen« zu lassen und dadurch zu transformieren. Handelt es sich hier um Ruhmzeugung durch den Tod, so liegt Ruhmerweiterung meistens da vor, wo ein solches Märtyrertum außerhalb der Kirchengeschichte zu beobachten ist, also etwa bei SOKRATES und GIORDANO BRUNO. Beider Eminenz sei hier nicht bestritten. Aber erregend auf die Massen wirkte weniger diese Eminenz, als der Gedanke an ihren ungerecht erlittenen und heroisch getragenen Tod. Wichtige Faktoren der Menschheitsgeschichte sind sie nicht so sehr durch ihre Leistungen als Denker geworden, als vielmehr durch die Tatsache, daß das eine Leben durch einen Schierlingsbecher, das andere durch einen Scheiterhaufen abgeschlossen wurde und daß diese Todesart auf das Subjekt der Betrachtung jederzeit den tiefsten Eindruck gemacht hat. Wie – bei einem natürlichen Tode – ihr eigentliches Lebenswerk »erschienen«, ja ob es überhaupt in dem Maße beachtet worden wäre wie jetzt, läßt sich gar nicht mehr absehen. Die Erkenntnis der ethischen Eminenz der SOKRATES und BRUNO, die sich in der Art ihres [48] Todes zweifellos bekundet, hat das Urteil über ihre Denkertätigkeit beeinflußt. Für die große Masse ist die Erkenntnis einer solchen ethischen Eminenz leichter als die der geistigen. Nachdem also durch diesen Umstand die Masse der das Individuum überhaupt günstig Beurteilenden außerordentlich gewachsen war, mußten auch die‚ denen geistige Eminenz wirklich zugänglich ist, im günstigen Sinne voreingenommen sein. Noch klarer wird das bei einer Betrachtung THEODOR KÖRNERs. Sein heldenhafter Tod trug zunächst nur dazu bei, daß er überhaupt einer großen Masse bekannt wurde. Aber er erscheint dieser Masse nicht nur – ja erst in zweiter Reihe – als besonders mutiger Freiheitskrieger, sondern als recht eminenter Dichter: die Todesart hat also wieder das Urteil über Dinge, die mit ihr gar nicht zusammenhängen, im günstigen Sinne beeinflußt. KÖRNERs – gewiß liebenswürdiges – Talent allein hätte ihm nicht den schon an Umfang nicht unbedeutenden Platz eingetragen, den er heut in allen, auch den wissenschaftlichen Literaturgeschichten einnimmt.

Zu den die Phantasie erregenden und eine gewisse Art des Mitleids hervorrufenden Todesarten gehört auch der Selbstmord. In GOETHEs »Achilleis« finden sieh die Verse: »Auch ehrwürdig sogar erscheinet künftigen Geschlechtern – Jener, der, nahe bedrängt von Schand und Jammer, entschlossen – Selber die Schärfe des Erzes zum zarten Leibe gewendet. – Wider Willen folgt ihm der Ruhm. Aus der Hand der Verzweiflung – Nimmt er den herrlichen Kranz des unverwelklichen Sieges« (V. 535ff.). Die Worte, die GOETHE hier dem Achilles in den Mund legt, gelten, um nur zwei Namen zu nennen, von THOMAS CHATTERTON und HEINRICH VON KLEIST. In CHATTERTON sieht das englische Volk, das ihm inzwischen ein prächtiges Denkmal errichtet hat, weniger den Dichter von »Rowley's Poems«, als den Jüngling, der mit knapp 18 Jahren einem zerrissenen Leben durch Selbstvergiftung ein Ende bereitet hat. Seine tragischen Lebensumstände – nicht seine Gedichte – haben ihn zum Helden von Balladen und Tragödien gemacht und die Kenntnis seines Namens bis tief in die englische Masse 3. Grades hineingetragen. Auch für KLEISTs jetzt so großen Ruhm ist der tragische Selbst [49]mord zum mindesten ein verstärkendes Moment. Es kommt hier freilich ein Umstand hinzu, der später noch ausführlich zu erörtern sein wird: der Selbstmord ruft in Fällen wie CHATTERTON und KLEIST bei der Nachwelt den Wunsch hervor, wieder gutzumachen, was die Mitwelt verschuldet hatte.

Noch weniger als die historische ist selbstverständlich die Augenblickswirkung des Selbstmordes zu verkennen. Als sich vor einigen Jahren der junge Berliner Student WALTER CALÉ erschoß, kannte man seinen Namen nur im allerengsten Kreise. Noch war keins seiner Gedichte gedruckt. Nun aber berichten die Zeitungen ausführlich über den Selbstmord. Von Freunden werden die Werke gesammelt, ein hervorragender Kritiker wird zum Sehreiben der Vorrede gewonnen, vom Verleger wird das Buch zu einer Zeit herausgebracht, wo die Erinnerung an den Selbstmord noch nicht verwischt ist, und wirklich wird in jeder der zahlreichen Besprechungen, die alsbald in Zeitungen und Zeitschriften erscheinen, die Tatsache des Selbstmordes mit großem Nachdruck hervorgehoben. Auch in diesem Falle sei an der Eminenz des Individuums nicht gezweifelt. Aber ebensowenig läßt sich bezweifeln, daß der auffallende, tragische Tod des Jünglings bei jedem, beim Herausgeber, dem Verleger, dem Rezensenten und dem Leser, urteilsverwirrend, d. h. in diesem Falle ruhmerweiternd wirkt. Derartige Fälle ereignen sich immer wieder: sie erregen Mitleid, befriedigen das – ebenfalls alsbald zu erörternde –Sensationsbedürfnis der Masse und tragen so dazu bei, die Erscheinungsformen des Individuums zu transformieren.

Es sind bisher nur die unmittelbaren Wirkungen des Todes erwähnt worden. Wenn freilich, wie sich gezeigt hat, auch sie schon in vielen Fällen über die Augenblickswirkung hinausgehen, treten sie doch an Bedeutung gegenüber den mittelbaren zurück. ZIELINSKI spricht einmal von »jenen im eminenten Sinne des Wortes kulturellen Persönlichkeiten, deren eigentliche Biographie erst mit dem Todestage beginnt.« »Cicero im Wandel der Jahrhunderte«. Berlin u. Leipzig 1912, 1. Es handelt sich hier im Grunde um etwas Selbstverständliches. Das Lebenswerk des Individuums muß erst abgeschlossen sein und Zeit gehabt haben, sich in der Masse zu verbreiten. Im [50] Interesse seiner Angehörigen, nicht in seinem eigenen, d. h. in dem seines Ruhmes, ist diese Verbreitung im größten Maßstabe sogar erst Jahrzehnte nach dem Tode möglich, und zwar durch das Schutzfristgesetz, das in fast allen Staaten der Welt besteht. Eine richtige Massenwirkung erzielen, d. h. zum wichtigen historischen Faktor werden kann ein Individuum, dessen Werke durch den Druck oder durch Vorführungen verbreitet werden, erst dann, wenn die Schutzfrist abgelaufen ist, wenn also auch der Minderbemittelte die Möglichkeit hat, die Werke selbst aufzunehmen. Dazu kommt, daß manche Werke – sowohl der künstlerischen wie der Tateminenz – erst posthum veröffentlicht werden. Wenn die strenge Wissenschaft sich mit dem lebenden Individuum fast niemals abgibt, so ist dies einer von den Gründen dafür. Aus den gelehrten biographischen Enzyklopädien, die bei vielen Kulturvölkern existieren, sind Lebende grundsätzlich ausgeschlossen, und auch in einigen großen Museen – z. B. im Pariser Louvre – werden nur die Werke von Künstlern ausgestellt, die mindestens 10 Jahre tot sind. Mit der Frage nach den letzten Gründen dieses Ausschlusses berühren wir bereits das wichtigste, weitest führende Problem der vorliegenden Schrift. In der Vorrede zur »Allgemeinen Deutschen Biographie« wird ausgeführt, warum nur Tote Gegenstand der Darstellung sind; denn »das Urteil über den Mann, welcher noch im Getriebe der Parteien unter den Lebenden steht und wirkt, ist auf zu vielfache Weise gebunden und bedingt, um sich frei mit ruhiger Objektivität zu geben« (S. VI). Es spricht aus diesen Worten bereits jener Glaube, daß zugleich mit der zeitlichen Entfernung die Wahrscheinlichkeit einer objektiven Beurteilung wächst, und weiterhin jenes starke Vertrauen auf das sogenannte »Urteil der Nachwelt«, das, wie wir später noch im einzelnen sehen werden, die historisch-biographische Wissenschaft in fast ebenso großem Maße besitzt, wie die Masse jeden Grades. Daß dieses Vertrauen zum mindesten fragwürdig ist, haben die vorangehenden Kapitel nur anzudeuten vermocht. Die folgenden werden jene Fragwürdigkeit, ja Gefährlichkeit näher zu erweisen haben.

HEBBELs Klage aber, zugleich die Klage all derer, die auf Anerkennung und Ruhm warten, ist unberechtigt. Es [51] kann gar nicht anders sein, als daß man erst »begraben« sein muß, um im »Speck« zu liegen. Die Ehrfurcht entsteht in vielen Fällen, weil das Individuum tot ist, und sie kann erst wachsen, nachdem es eine bestimmte Zeitlang tot gewesen ist.


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