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Die Kinder

Einem Hause sind sie nötig, und der Garten verlangt danach. Wo nur Erwachsene weilen, da fehlt das Leben, sein draller Mutwillen, seine heftige, schöpferisch schöne Unbändigkeit: das Kind fragt, nur weil es keine Frage kennt, weil es ganz nur Antwort ist, gerade wie das Weib spricht, weil seine Seele Schweigen ist.

Nur Fremdes, das man gar nicht kennt, das kann man so herbeizerren, herbeiziehen wollen, wie's das Kind mit der Frage tut.

Das sollte man wissen: sollte das Kind genießen, sich austoben lassen.

So ein anmutiges Austoben, das durch keine Kunst der Welt nachgebildet, durch keine Erziehung ersetzt werden kann.

Sind wir so neidisch: daß wir die Frische, die wir selbst nicht mehr haben, diese wilde Frische, wie sie einem jungen Gießbach eigen ist, auch andern nicht gönnen mögen?

Häßlich, sehr häßlich wäre das!

Nicht aber so ein junges Geschöpf für ein Füllen ansehen und ihm, während es seine muntern Sprünge auf der Weide macht, schon mit etwas Fremdem, Ledernem kommen: dem Sattel!

Dem Gehorsam!

Dem Unterbinden des eigenen, dem Bepacken mit fremdem Leben!

Zum Teufel mit dem Gehorsam!

Man behandelt ja die Kinder schlimmer als die Füllen.

Kaum daß man ihnen das Leben gegeben hat, will man ihnen das Leben wieder nehmen.

Schon mit vier, sechs Jahren fängt es an.

Und bei den Füllen wartet man doch erst, bis sie Pferde geworden sind, ehe man ihnen den Sattel auflegt.

Warum habt ihr es so eilig mit den Kindern?

Wollt ihr sie noch mehr ausnützen als selbst die Pferde?

Das wollt ihr doch wohl vor euch selbst nicht eingestehen!

Denn gerade die, die am meisten aus ihren Kindern machen, die deren Heranbildung sich am meisten kosten lassen, diese fangen am ersten damit an, die zarten Geschöpfe mit Arbeit und Obliegenheiten zu beladen, als seien sie Kamele, Lasttiere der Wüste.

Nun, Kamel werden sie dann allerdings. Das erreicht man damit.

Immer, immer diese Furcht, Mensch zu sein, Mensch sein zu lassen!

Mir ist, so ein Palast muß förmlich gähnen, wo der Zeremonienmeister mit seinem protzenhaften Stab und Beinen, die zwei andere Stäbe sind, einherschreitet, die Eintretenden ansagt und die sich Empfehlenden mit einem Bückling entläßt.

Ganz anders ein munteres Haus, worin Kinder sind!

Gärten ohne Blumen sehen nach nichts aus.

Wird auch hier und da ein Stück Tapete abgerissen, daß die Fetzen fliegen: es macht sich nichts daraus.

Eine Scheibe entzwei: dann kriegt es eine neue, das Haus.

Gerade wie das Kind ein neues Kleidchen bekommt, wenn das alte brav zerrissen ist.

Und die Türen bleiben in der Übung, wenn das kleine Volk sie ein paar Minuten hintereinander auf und zu macht. Ganz ohne Not: aus reiner künstlerischer Freude am schnappenden Klang.

So sah das Haus Grävenburg nicht aus.

Das hatte solche Kinder nicht.

Es war versteckt, und die Kinder waren versteckt.

Wer nicht sehr häufig vorbeikam, wußte gar nicht, daß es dort welche gab. Und doch waren zwei da: ein Knabe und ein Mädchen, der Knabe einige Jahre jünger.

Rotnacht, der dem Hause die Macht gab, war wie ein wortkarges Raubtier, das leicht gereizt werden konnte und dann fletschte.

So waren auch die Kinder kleine Raubtiere, die gern fletschten, gerne sich und andere anfauchten. Zu dem Knaben ging ein hassender Blick und häßlich schmeichlerisches Wort. Das war der Sohn des Barons, der dem Vater entfremdet werden sollte, von ihm abdressiert.

Sonderbar war das mit dem Mädchen gewesen. Als der Kurdirektor starb, zählte das kleine Ding kaum drei Jahre. Vermögen war nicht da, nur Schulden. Auch die Familie hatte wenig Interesse an dem kleinen Spätling. So ward es denn dem zu Wohlstand gekommenen Gutseigentümer Weihnacht, genannt Rotnacht, leicht, die Kleine in Pflegschaft zu übernehmen.

Was er an dem Kinde hebte, war die Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Um das Wesen, um die Art kümmerte er sich nicht; er wußte nicht, wie sie war: wußte nicht, ob sie ihm zuwider oder angenehm.

Nur ihr Aussehen zog ihn an, und so konnte er, während das Kind heranwuchs, oft stundenlang davorsitzen und es anstarren, und es war ihm gleichgültig, wenn die Kleine, davon entsetzt, auf einmal zu schreien anfing und nach ihm trat, schlug und biß.

Er ließ sie toben, starrte weiter, bis er endlich genug hatte, seufzte und fortging.

Ich war wieder einmal in Grävenburg. Das erste Mal seit langer Zeit.

Ich sprach mit dem Baron über die Wahl seines künftigen Aufenthalts.

Wir hatten uns mehrere Häuser in Pyrmont angesehen.

Sie waren nicht ganz so billig, wie wir uns das vorgestellt hatten, und es kam nun darauf an zu berechnen, ob mit einem durchschnittlichen Fremdenverkehr auf ein Einkommen zu rechnen sei, das die Miete oder – bei Kauf, denn auch dieser war nicht ausgeschlossen – den Preis übersteige. Das einzige Zimmer des »Hundelochs«, worin der Baron die längste Zeit gehaust hatte, ging auf den Garten.

Blumen waren nicht darin, wohl aber Kinder, die ich heute zum ersten Mal hier sah, und Unkraut. Und die Kinder sahen auch nicht anders aus als Unkraut. Vorwaltete die impertinent frische Säure des Kohls: die Farbe ein Mittelding zwischen Grün und Blau.

In Fabelzeiten gab man den Drachen diese Färbung: den Ungeheuern der Sümpfe und der Bosheit. Ich stellte mich ans Fenster und sah mir die Kinder etwas an. Sie hatten so eine seelenlose Jähigkeit und Schärfe des Spieles und der Bewegung, die bei dem Knaben mehr Natur, mehr Gewächs schien, bei dem Mädchen aber aus Herrschsinn, aus überlegter Überlegenheit zu kommen schien.

Die bläulichen Augen des Jungen waren wie Wasser, das mit dem Lande nichts zu tun hat, in seinem Gesichte. Wurde er wütend, so flatterte eine ganze Anzahl Blitze über das dumpfe Rund, darauf es vielleicht noch dumpfer ward. Das Mädchen konnte über die Schärfe der Lichtbrechung in seinem schwarzen Auge manchmal sonderbar weiche Schleier tun: das war allemal, wenn sie am meisten boshaft oder grausam war.

Die beiden schienen den Auftrag erhalten zu haben, von den Kohlblättern die Raupen zu lesen. Sie waren ziemlich fleißig dabei; allmählich mußte ihnen indes die Sache zu langweilig werden, darum ward ein Spiel mit der Arbeit vereinigt.

Ein entsprechendes Spiel.

Und dies Spiel war sinnig genug.

Das Mädchen hatte auf den Jungen eingesprochen, dieser genickt: dann fingen sie plötzlich zu gleicher Zeit an, die gefangenen grünlich üppigen Raupen, bisweilen darunter eine katzenartig bräunlich-schwarze Bärenraupe, Boas für Nixenschönheiten, zu zerreißen: es schien ein Wettstreit zu sein, wer am meisten von diesen sich krümmend und schlagend in zwei Teilen fortgeschleuderten Tierchen verarbeite. Denn sie entwickelten eine immer größere Hurtigkeit, sahen einander auf die Finger und lachten und zählten: »einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.«

Immer mehr ereiferten sich seine plumpen roten Finger, denn drüben über den gelblich schmalen feinen Fingern mit stumpfen Kuppen, da zählte es schon siebenunddreißig, achtunddreißig, neununddreißig, und das bedeutend schneller als gegenüber. Das eine D-Zug, das andere Bummelzug.

Auch der Baron war ans Fenster getreten: »Das ist mein Junge. Natürlich kann der Dämel nicht mit. Daran ist er sofort zu erkennen, an seiner Dummheit. So ganz böse wird er niemals werden können. Dazu fehlt es ihm an dem Aufschwung, den andere Leute haben. Daran hindert ihn seine Dummheit, mein Erbstück, das einzige. Zur Niedertracht aber reicht's, das seh ich; wenn er recht angestifet wird, dann kann er es weit bringen. Das wäre die richtige für ihn! Unter deren Leitung müßte er kommen: die würde ihn sich schon ziehen!«

»Und Sie lassen Ihren Jungen gewähren?« rief ich entsetzt.

Der Baron zuckte mit den Achseln:

»Was wollen Sie? Natur, was ist da zu machen? Was wird es helfen? Wie wir den Rücken wenden, so fangen sie ja doch wieder an. Übrigens kann ich ja rufen.«

Er lehnte sich aus dem offenen Fenster und rief:

»Ihr Satansrangen, wollt ihr das auf der Stelle sein lassen! Oder soll ich rauskommen?«

Der Junge guckte stumpf und höhnisch auf: »Nanu?«

Das Mädchen aber machte ruhig weiter, ohne den Kopf zu erheben.

»Da sehen Sie, was es hilft!«

Wir achteten eine Weile nicht auf die Brut und sprachen, an dem ausrangierten Wichstische sitzend und die Ritzen darin mit Zigarrenasche auffüllend, der Asche eines bessern Salonkrautes, über unsere Angelegenheit.

Die Kinder waren merkwürdig still gewesen. Auf einmal überzeugte uns ein Jubelgeschrei des Knaben, daß sie beide noch da waren im Garten und auf eine neue Art, eine ganz besondere Unterhaltung gestoßen sein mußten.

Der Knabe schien den Vorschlag seiner Gespielin mit Entzücken aufzufassen.

»Christus spielen, Christus spielen!« rief er das eine Mal über das andere.

Wir traten ans Fenster:

Das Mädchen beschäftigte sich an der Hecke. Der Junge hatte sich eine rote Badehose über die Schultern gehängt und einen der Rohrkolben in die Hand genommen, wie deren langabgeschnitten genug da herumlagen. Das Mädchen kam mit zwei Dornenzweigen zurück, die sie kunstreich genug ineinander verflochten und wie eine Weihnachtsrute mit einem roten Bändchen verziert hatte.

Der Junge beugte sich etwas und senkte sein Haupt wie ein Ritter, der huldigend den Ehrenkranz entgegennimmt, wie ein Hütten, der vom Kaiser zum Dichter gekrönt wird: zum Kaiser des Geistes.

Nun stand er da, seltsamlich genug anzuschauen. Trauer sollte es vorstellen, war auch rührend genug, aber dämlich rührend.

»Lieblich, nicht?« meinte hinter mir der Baron.

»Frucht des Religionsunterrichts«, setzte ich hinzu.

»So, nun bin ich die Veronika und trockne dein Gesicht.«

Sie nahm ihr Taschentuch, der Junge streckte sein Gesicht vor, fromm und sanft wie ein Schaf, und das Mädchen trocknete leise und behutsam daran herum.

Bedächtig suchte sie mit dem Tuch wieder ihre Tasche auf, dann nahm sie eins der Rohre auf und meinte:

»Nun bin ich der Soldat, der Christus eins auf den Kopf gibt.«

Und ehe der Junge sich's versah, hatte er einen gehörigen Schlag weg, der ihm die Dornen in den Kopf trieb.

Aha, nun kamen die Blitze über den Weiher: »Au!« rief er.

»Du Hund! Du gemeines Aas! Paß auf, wenn wir erst verheiratet sind. Dann hab ich das Recht. Dann bind ich dich an den Bettpfosten und haue dich, daß du nicht weißt, wohin. Dann bin ich der Bärenführer, und du sollst tanzen. Einen Ring zieh ich dir mitten durch die Nase.«

Wir lachten beide laut auf, und die Kinder rannten ins Haus, nicht eher indes, als bis das Mädchen dem Jungen die Zunge herausgestreckt und dieser in gleicher Weise geantwortet hatte, wie dies wohl die ausgesprochene Verständigungsweise aller artigen Kinder des Erdenrundes ist, deren Wurzel, wie manches andere Tiefe, für uns armselige Erdenwürmer wohl mit der Nacht ewigen Vergessens bedeckt sein wird.

»Da erziehe nun einer!« lachte der Baron. »Ich möchte wissen, wo man da anfangen sollte! Man läßt sie am besten so! Wir sind ja auch so. Wir – nicht Sie.«

»Na, wer weiß?« lachte ich.

Wir gingen. »Du kennst mein Herz noch lange nicht. Noch lange nicht«, wiederholte der Baron. Auf dem Hofe stand Rotnacht. Zu meinem Befremden grüßte er mich. Er sah kläglich aus. Als sei das Grausen seiner Seele nach außen gebrochen, so die weißen Strähnen in seinem vor Entsetzen zusammengekauerten schwarzen Haar.

»Ja, den können wir haben nun«, meinte der Baron. »Aber wir wollen ihn nicht mehr. Auch die Wirtschaft vernachlässigt er. Ob es überhaupt noch der Mühe wert ist, nach Pyrmont hinauszuziehen? Ob ich nicht Grävenburg bald wieder haben könnte?«

»Ein neues Leben an neuer Stätte!«

»Sie mögen recht haben: heraus aus dem Loch!« erwiderte der Baron.

 


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