Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
aus »Chi vuole Fiabe?«
Es war einmal ein liebes, kleines Mädchen, das sehr schön war und darum nur Maiblume genannt wurde, obwohl es eigentlich Mareili hieß. Vater und Mutter hatte es schon früh verloren, und jetzt lebte es bei einer alten Tante namens Gemma, die aber sich und das Kind durch Weben und Spinnen kaum ernähren konnte.
Maiblume schlief in der Küche in einem armseligen Bettchen, wo es manchmal vor Hunger und Kälte kaum einschlafen konnte. Eines Abends, als Maiblume schon zu Bette gegangen war, hörte sie draußen vor dem Fenster ein klägliches Miauen. Das wird ein armes Kätzchen sein, das sich verirrt hat, dachte Maiblume und wartete ein wenig, ob das Tierchen sich wohl zurechtfinden würde. Als es aber immer wieder miaute, stand Maiblume auf, zündete das Licht an, öffnete das Fenster, das auf den Hof hinausging, und rief lockend: »Ps, ps, ps . . .«
Sofort sprang ein nettes, weißes Kätzchen aufs Fensterbrett und von dort in die Küche hinab, sichtbarlich zufrieden, jetzt unter Dach und Fach zu 260 sein. Es schnurrte, schmiegte sich an Maiblume und sah zutraulich zu ihr hinauf.
»Armes Tierchen«, sagte das Mädchen mitleidig, »du bist ja ganz naß. Bist wohl lange im Regen gewesen?«
»Genau weiß ich es nicht, wie lange, aber ein paar Stunden mögen es schon sein, daß ich unterwegs bin.«
Maiblume wunderte sich nicht sehr, daß das Kätzchen so nett sprechen konnte. Das kam in früheren Zeiten viel öfter vor als jetzt. Das gute Mädchen nahm ein Tuch und trocknete dem Tierchen das Fell ab, streichelte es ein wenig, und das Kätzchen sagte: »Danke schön, das tut mir wirklich gut.«
»Brrr, es ist kalt hier, Kätzchen. Komm, leg dich nur zu mir ins Bett, dann haben wir beide warm.« Das war dem Kätzchen sehr recht. Es verstand alles, was Maiblume ihm sagte, und weil Maiblume auch jedes Wort verstand, das das Kätzchen sagte, gab es einen unterhaltsamen Abendplausch.
»Wie heißt du?« fragte Maiblume das Kätzchen.
»Schneebällchen hat meine frühere Herrin mich genannt. Weißt du, wenn mein Fell ganz trocken ist, bin ich recht hübsch. So hat meine frühere Herrin mir wenigstens gesagt, und mehr als einmal. Da muß doch wohl etwas Wahres daran sein, oder sollte meine frühere Herrin sich geirrt haben?«
»Nein, nein, das stimmt schon; aber du mußt dir auch nicht zu viel darauf einbilden, weil du ein Niedliches bist«, so sprach Maiblume zum Kätzchen, das sich graziös räkelte.
»Es gefällt mir gut bei dir, und wenn ich hier nur ein wenig bleiben dürfte.« 261
»Das werden wir sehen. Sage mir lieber erst einmal, warum du dich bei Regenwetter am späten Abend auf der Straße herumtreibst.«
Schneebällchen seufzte: »Ach, ich habe viel Schweres durchmachen müssen. Stell dir nur vor, ich war früher in einem schönen Hause und habe nur mit vornehmen Leuten verkehrt, die mich sehr verwöhnten; besonders meine liebe frühere Herrin tat mir alles zu Gefallen. Sie spielte mit mir, liebkoste mich, und abends saß ich auf ihrem Schoß. Und dann las sie mir die schönsten Geschichten vor, die ich nicht alle behalten habe, aber einige doch. Der Herr des Hauses hörte dann auch zu, und noch vor dem Schlafengehen bekam ich etwas Gutes von ihr. Katzenfisch, wenn du das vielleicht kennst, und meine Herrin aß dann noch einen Schokoladebonbon, von denen sie mir auch einmal angeboten hat. Doch habe ich ihr gesagt, ich esse lieber Katzenfisch, und danach hat sie sich denn auch gerichtet. Jaja, das waren noch gute Zeiten.«
»Warum bist denn dort fortgegangen?«
»Fortgegangen! Ich mußte, ich mußte, ob ich wollte oder nicht. Du mußt wissen, daß wir eine sehr böse Köchin ins Haus bekamen, die mich nicht ausstehen konnte.«
»Aber warum denn nicht, Schneebällchen? Du bist ja doch ein Süßes!«
»Ich weiß, ich weiß. Aber der Neid! Neid und Eifersucht und nichts anderes, das habe ich an der Köchin erlebt. Weißt, meine Herrin gab mir manchmal etwas mageren Schinken – das Fette esse ich nicht gerne – oder ich bekam am Sonntag einmal 262 ein bißchen Hühnerfleisch, aber das paßte der Köchin nicht. Wenn meine Herrin mir Schinken anbietet, kann ich es doch nicht ablehnen. Das hätte sich nicht geschickt, nicht wahr? Soll ich meiner Herrin mitteilen, daß ihre Köchin eine Böse und auf mich eifersüchtig ist? Das wäre nicht nett von mir gewesen, nicht wahr? Ein Wort von mir, und die Köchin wäre hinausgeflogen, doch habe ich sie nicht um Brot und Lohn bringen wollen und habe geschwiegen. Wie aber hat mir die Köchin es zum Dank gemacht? Fußtritte hat sie mir gegeben, wenn niemand es sah, und ich habe geschwiegen, immer geschwiegen. Hat meine Herrin, ach, die liebe, gute, unvergeßliche Frau Ninon gefragt, ob die Köchin mir auch ordentlich zu essen gebe, damit ich zu meinem Recht komme, hat die Köchin ›Ja gewiß‹ geantwortet. Das in meiner Gegenwart! Und ich habe geschwiegen, immer geschwiegen.«
»Armes Schneebällchen, jetzt kannst du dich aussprechen«, und weil es gar so freundlich von Maiblume gestreichelt wurde, faßte es immer mehr Zutrauen.
»Denk dir nur, die Köchin hat gesagt, ich stehle.«
»Ja, und?«
»Das ist eine Kränkung für mich. Siehst du das nicht ein? Ich stehlen, ich? Das süße Schneebällchen hat meine Herrin mich genannt. Und die Köchin . . .«
»Hör mal, Schneebällchen, hast du nicht vielleicht manchmal doch so ein bißchen weggenommen? Sei nur ehrlich.«
»Nun ja. Dazu will ich nicht ganz und gar nein sagen. Manchmal biß ich schon ein winziges 263 Stückchen Kalbfleisch ab, wenn die Köchin es in die Pfanne legte.«
»Aha, aha, siehst du, das durftest du nicht.«
»Ich wollte doch nur versuchen, probieren, ob es weich sei, und meine Herrin hat nur gelacht, wenn sie es einmal bemerkt hat. Und war sie da, hab' ich es auch nur getan, damit sie lachte. Sie hat nämlich so sehr hübsch lachen können, und das hörte ich gerne. Aber die böse Köchin hat mich verklagt, ich stehle alles das, was sie heimlich gegessen hat. Sie hat gestohlen, und sie sagt, ich hätte gestohlen.«
»Das muß freilich schlimm für dich gewesen sein.«
»Nicht wahr? Und einmal ist eine schöne Salamiwurst von der Kredenz verschwunden!«
»Daß du das so genau weißt«, wunderte sich Maiblume.
»Wenn ich doch selbst ein Stückchen davon gegessen habe, muß ich doch wissen, wo die Salami war.«
»Aha, schaut's da heraus? Schneebällchen, Schneebällchen, mir scheint, die Allerehrlichste bist du doch nicht.«
Das Kätzchen putzte sich ein wenig verlegen das Fell, sah dann wieder treuherzig auf Maiblume und plauderte weiter:
»Ich will dich gewiß nicht anlügen. Ein ganz kleines Stückchen, aber ein winzig-winziges habe ich gegessen. Das hat die Köchin bemerkt und dann gleich alles weggenommen und selbst gegessen. Das war nicht nett von ihr. Nicht genug damit, hat sie mich beim Herrn des Hauses verklagt; denn bei meiner Herrin hätte sie kein Recht bekommen, und dann 264 hat sie mich verprügelt. Die Köchin natürlich, diese böse Köchin.«
»Und du? Was hast du gesagt?«
»Geschwiegen hab' ich, immer geschwiegen. Nicht einmal mehr miau gesagt. Aber gerächt habe ich mich doch, bin in die Stube der Köchin gegangen und habe ihren Kanarienvogel gegessen.«
»Aber, Schneebällchen, das gefällt mir nicht. Das ist ja schrecklich!«
»Ach was, es war ja ein uralter Kanarienvogel, und ich konnte mir doch nicht alles von der Köchin gefallen lassen. Als ich aber dann eines schönen Tages ihr ein Kotelett wegaß . . .«
»Schneebällchen, es wäre mir lieber, wenn wir jetzt schlafen würden, ich bekomme sonst Hunger.«
»Hunger? Aber dann iß doch etwas Schinken und Brot.«
»Das gibt's hier nicht, Schneebällchen. Du mußt wissen, daß du in ein armes Haus gekommen bist, und wenn du bei mir bleiben willst, wirst du dich mit wenigem begnügen müssen. Schinken und Brathuhn gibt es nicht. Ißt du Polenta und Milch, Minestra und Brot?«
»Mit allem will ich zufrieden sein, wenn du mich nur nicht schlägst. Deswegen bin ich ja fortgelaufen, wegen der bösen Köchin.«
»Hier gibt es keine Köchin, und meine Tante Gemma wird lieb zu dir sein und ich auch.«
»Oh, das hab' ich schon gemerkt, und darum will ich auch gern bei dir bleiben, wenn ich darf.«
»Recht so, bleib nur bei mir. Und wenn du dich auf der Straße einmal verirren solltest, mußt du nur 265 den Leuten sagen, daß du bei Maiblume wohnst, dann führt man dich schon zu mir.«
»Wenn man mich aber dann wegnimmt, einfach stiehlt, weil ich so hübsch bin?«
»Dann sagst du, das dürfe man nicht tun. So, aber jetzt wird geschlafen. Gute Nacht, Schneebällchen.«
»Gute Nacht, Maiblume«, antwortete das Kätzchen, fügte aber nach einer Weile hinzu: »Es wird das beste sein, wenn du mich immer auf der Straße begleitest, dann nimmt mich sicherlich niemand von dir fort. Die böse Köchin . . .«
»Von der erzählst du mir morgen weiter.«
Am nächsten Morgen stellte Maiblume die neue Freundin ihrer Tante vor, die mit dem Familienzuwachs zuerst nicht einverstanden war. Maiblume, die ihren kleinen Schützling gern behalten wollte, lobte das Schneebällchen als braves, kluges Tierchen. Es stand denn auch sehr bescheiden da, putzte sich das Gesichtchen und das Fellchen, damit es nur ja auf die Tante Gemma einen guten Eindruck mache. Maiblume hatte erwartet, Schneebällchen würde seine Geschichten erzählen, es sagte aber tagsüber kaum ein Wort, und als die Tante meinte: »Wir haben ja selber nichts zu essen«, wagte Schneebällchen kaum ein Schlückchen Milch zu nehmen.
»Tante Gemma, soll ich jetzt einkaufen gehen?« fragte Maiblume.
»Ja, tu das. Wir brauchen ein wenig Schweineschmalz. Ein paar Bohnen und zwei Kartoffeln für die Minestra sind auch noch da. Zwiebeln können wir entbehren, und ein Laib Brot liegt im Backtrog.« 266
Damit gab die Tante dem Mädchen etwas Geld. Maiblume nahm den Korb und ging, Schneebällchen kam hinterher. Die Frau im Spezereiwarenladen gab Maiblume aus Gutmütigkeit ein Restchen Schinken als Dreingabe. Maiblume bedankte sich und ging zufrieden mit Schneebällchen nach Hause. Der Schinkenrest wurde als Labsal für Tante Gemma bestimmt. Dann aber entdeckte Maiblume auf dem Boden des Korbes eine nette Kochleberwurst. »Oh, sieh nur, Tante Gemma, hier ist noch eine Wurst. Das ist doch erstaunlich, daß die Frau mir nichts davon gesagt hat, während sie mir den Schinkenrest über den Ladentisch reichte.«
»Das ist eben eine Seele, die unauffällig Gutes tun will. Du wirst dich bei ihr dafür bedanken.«
Schneebällchen zeigte sich von einer für Katzen wahrlich erstaunlichen Bescheidenheit. Seelenruhig sah es zu, wie Maiblume und ihre Tante es sich schmecken ließen, und beide konnten sich nicht genug wundern, wie wenig naschhaft das Kätzchen war. Dabei hatte es doch in der Nacht Geschichten erzählt, aus denen man hätte schließen mögen, es sei keineswegs eine Kostverächterin.
Am Abend legte sich das Kätzchen zeitig ins Bett, war aber weniger gesprächig, als es sich in der Nacht vorher gezeigt hatte. Es war müde und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen hatte Maiblume ein Brot einzukaufen. Schneebällchen schloß sich ihr wieder an und ging auch mit. Als sie nach Hause kamen, fanden sie im Korbe einen noch frisch duftenden Blätterteigkuchen mit Pflaumen belegt. 267
»Nein!« rief Maiblume aus, »das weiß ich, der Bäcker hat mir diesen prächtigen Kuchen sicherlich nicht in den Korb gelegt. Dazu ist er viel zu geizig. Tante Gemma, die Geschichte geht nicht mit rechten Dingen zu.«
»Ja, das scheint mir allerdings auch so«, erwiderte Tante Gemma, war aber schon dabei, den Kuchen zu zerschneiden und ein Stück zu probieren. »Schmeckt vorzüglich!«, stellte sie fest und bot auch Maiblume ein Stück an. Schneebällchen sah aufmerksam zu, verzehrte aber nur ein paar Bröselchen, die vom Küchentisch fielen.
»Ich will zum Bäcker gehen und fragen, ob der Kuchen von ihm sei.« So hatte Maiblume es vor. Doch die Tante wehrte ab: »Auf keinen Fall. Ist der Bäcker der Geber, mag er sich nennen. Ich für meinen Teil glaube, daß eine gute Fee die Hand im Spiel hat.«
Da sagte das Kätzchen: »Jaja, so ist es«, so, als läge ihm viel daran, diese Meinung bei Maiblume und der Tante zu bestärken.
»Höre, Maiblume, du darfst nichts zum Bäcker sagen. Die Feen haben es nicht gern, wenn man über ihre Wohltaten spricht.«
»Ja, aber der Bäcker? Wie wird er sich dazu stellen?«
»Das ist seine Sache. Das kümmert uns nichts«, bestimmte die Tante, und das Kätzchen lag schnurrend da und meinte auch: »Das kümmert uns nichts.«
Anderntags war ein Deziliter Öl im Delikateßladen einzukaufen, und daheim fand man im Korb eine köstliche Fleischpastete, die auch unserer Maiblume so gut mundete, daß auch sie jetzt nicht anders 268 glauben konnte, so etwas Feines müsse von einer Fee stammen. Wir wollen nicht alles aufzählen, was für Herrlichkeiten sich im Lauf der nächsten Wochen immer wieder im Einholekorb befanden, weil man ja leider niemandem etwas davon anbieten kann, so gern man's auch möchte. Maiblume, Tante Gemma und auch Schneebällchen bekam die reichliche Kost ausgezeichnet. Nur fiel es Maiblume auf, daß man in den Läden nicht mehr so freundlich zu ihr war wie früher. Man tuschelte, wenn sie in den Laden trat, sah ihr auf die Finger, drehte das Geld von Maiblume hin und her, zählte genau nach, ob es auch stimme, und grüßte nur mürrisch, wenn sie wieder fortging.
Eines Tages aber – o Schrecken – geschah etwas Furchtbares. Maiblume, in unvermeidlicher Gesellschaft von Schneebällchen, hatte beim Gemüsehändler ein paar Äpfel gekauft, stand im Begriff, den Laden zu verlassen, als sie plötzlich vom Gemüsehändler streng zurückgerufen wurde. »Holla, zeig mal deinen Korb her! Was hast du jetzt wieder mitgehen lassen?«
»Mitgehen lassen? Nichts, gar nichts«, stammelte Maiblume erschrocken, zeigte den Korb her und wurde schneebleich, als sie eine gerupfte Henne im Korbe liegen sah.
»Ich weiß nicht, wie sie dahineingekommen ist«, versicherte Maiblume, »ich sehe diese Henne zum ersten Male, erst jetzt in diesem Augenblick.«
»Ja gewiß«, polterte der Gemüsehändler, »Lügen gehört ja zum Stehlen, das ist nichts Neues. Dir wird man's zeigen.« 269
Maiblume begann zu weinen, versicherte ihre Unschuld, aber der Gemüsehändler hörte gar nicht auf das Kind, sondern rief vor der Tür die Nachbarn herbei. Und da gab's dann eine allgemeine Entrüstung. Aus allen Läden der Straße kamen Besitzer und Kundschaft zugleich, und da stand jetzt die arme, kleine Maiblume, umringt von Menschen, die sie eine Diebin schalten. Schneebällchen hatte sich unauffällig nach Hause geschlichen und war nicht mit dabei, als Maiblume vor den Richter gezerrt wurde, der sie sogleich verhörte. Maiblume beschwor ihre Unschuld, doch half ihr das angesichts so vieler Ankläger wenig.
Mir hat sie einen Pflaumenkuchen gestohlen.
Und mir nahm sie eine Fleischpastete.
Die Würste, die sie mir geklaut hat, sind an den Fingern nicht abzuzählen.
Ja, und die besten Ananas haben mir gefehlt, wenn sie nur zwei Zwiebeln gekauft hat.
Da Maiblume gar so bitterlich weinte, fragte der Richter: »Gewiß hat deine große Armut dich zum Diebstahl verführt?«
»Nein, nein, das hat sie nicht. Ich habe nicht gestohlen, und es ist eine Schlechtigkeit, mir das zuzutrauen.« So sprach Maiblume wahrheitsgemäß und standhaft, und gerade dieses empörte die Leute noch mehr. Die arme Maiblume wurde zum Tode verurteilt, denn so streng wurde damals der Diebstahl bestraft.
Maiblume bat, ihre Tante Gemma noch einmal sehen zu dürfen, was ihr auch gewährt wurde. Tante Gemma kam also zu Maiblume, die weinend in einer 270 halbdunklen Gefängniszelle saß. »O Tante Gemma, warum nur habe ich auf dich gehört? Mein Herz hat es mir manchmal gesagt, daß dieser Reichtum uns Unglück bringen werde. Du aber hast nicht gewollt, daß ich den Bäcker nach dem Kuchen frage. Es war unrecht von mir, daß ich dir folgsam war. Die Verschwiegenheit, die du von mir verlangt hast, das ist die Sünde, die ich begangen habe und die ich jetzt mit meinem Leben büßen muß.«
Die Tante stand bestürzt und tieftraurig da: »Ach, Maiblume, der liebe Gott wird dir schon helfen.« Da kam der Gefängniswärter, und Tante Gemma mußte wieder fortgehen.
Als nun Maiblume wieder in ihrer Zelle allein war, legte sie sich betrübt auf das Strohlager, hoffend, wenigstens im Schlaf ihr trauriges Los zu vergessen. Da erschien ihr im Traum das weiße Kätzchen, das voller Mitleid seine kleine Herrin ansah. Mit den Pfötchen wischte es sich ein paar Tränen ab und begann zu sprechen, mit seiner drolligen Stimme, genau wie einst:
»Maiblume, du mußt nicht sterben. Das will ich nicht haben.«
»Ach, Schneebällchen, man wird sich nicht nach deinen Wünschen richten. Du bist doch nur ein Kätzchen und kannst in dieser Sache nicht entscheiden.«
»Freilich bin ich ein Kätzchen. Das weiß ich selbst am allerbesten, und das muß ich nicht erst von dir erfahren. Will auch ein Kätzchen sein und bleiben. Aber ich bin ein besonderes Kätzchen, das dir schon helfen kann.« 271
»Ach, Schneebällchen, wie solltest du mir helfen können, da ich doch von den Menschen zum Tode verurteilt bin.«
»Es ist noch nicht so weit, und es kommt auch nicht so weit. Daß du unschuldig bist, weiß niemand besser als ich, denn ich selbst habe ja die vielen Sachen gestohlen.«
»Aber, Schneebällchen, wie konntest du das nur tun!? Warum hast du das gemacht?«
»Warum?! Weil ich mich gerne dankbar erweisen wollte, da du mich so freundlich aufgenommen hast. Es hat euch doch gut getan, etwas Ordentliches zu essen.«
»Du siehst ja jetzt, wie gut es mir getan hat. Sterben muß ich deswegen. Aber sag, mein Schneebällchen, du kannst ja sprechen, du könntest doch zum Richter gehn und deine Schuld bekennen. Dann würde man mich gleich freilassen.«
Schneebällchen besann sich ein Weilchen, doch schien ihm Maiblumens Vorschlag wenig zu behagen.
»Nein, zum Richter will ich lieber nicht gehen. Wenn ich ihm erzähle, daß ich von meiner Mutter ein bißchen hexen gelernt, und daß ich die Sachen gestohlen habe, werde ich sterben müssen, und das kann ich mir nicht leisten. Nein, zum Sterben habe ich nicht die mindeste Lust. Ich weiß etwas Besseres für mich und auch für dich.
Heute abend kommt der Ritter Floridoro in die Stadt, der sich aller Unglücklichen annimmt. Er verteidigt die Schwachen und schützt die Unschuld. Mit dem will ich einmal Rücksprache nehmen. Er wird dir sicher helfen.« 272
»Ach ja, Schneebällchen, sieh nur zu, was du tun kannst, und hab Dank für deinen guten Willen. Du bist ein Liebes, aber das Stehlen solltest du dir abgewöhnen.«
»Wollen sehn, was sich tun läßt«, antwortete Schneebällchen und verschwand.
Doch schon am nächsten Morgen kamen einige Männer in die Zelle, um Maiblume auf den Richtplatz zu führen. Da war viel Volks versammelt, doch hatten alle Mitleid, als sie Maiblume in ihrer Jugend und Schönheit sahen. Sie hielt die Augen gesenkt und die Hände gefaltet. Sie betete und achtete gar nicht darauf, was um sie her vorging.
Als man auf dem Platze angelangt war, wo Maiblume ihr Leben lassen mußte, trat ein Herold in die Mitte und rief mit lauter Stimme:
»Ist jemand da, der für die Unschuld der Maiblume kämpfen will, wie es bei uns zulande der Brauch ist, dann melde er sich unverzüglich!«
Da vernahm man die hellen Klänge einer Fanfare und ein weißgekleideter Ritter auf einem prächtigen Schimmel stellte sich. Er rief mit schallender Stimme in die Menge hinein:
»Ich verbürge mich für die Unschuld des Mädchens. Wer Maiblume für schuldig hält, kämpfe mit mir.«
Es meldete sich nur ein Krieger, der vom Gericht angestellt war, zu kämpfen, wenn kein anderer sich zum Kampf anmeldete. Es war niemand anders als der Ritter Floridoro, der in wenigen Augenblicken den Krieger aus dem Sattel gehoben und besiegt hatte. Das gesamte Volk jubelte, und selbst dem Richter wurde leicht und frei ums Herz. 273
Im Triumph wurde Maiblume vom Ritter Floridoro, der sie auf sein Pferd nahm, nach Hause geführt. Schneebällchen sprang vergnügt hinterdrein, setzte sich bescheiden unter den Herd, um in keiner Weise das Glück von Maiblume und dem Ritter Floridoro zu stören, denn letzterer hatte keinen anderen Wunsch, als das schöne, unschuldige Mädchen als seine Frau heim auf sein Schloß zu führen.
Schneebällchen, das trotz seiner großen Hilfsbereitschaft kein allzu klares Gewissen hatte, stand schon im Begriff, sich damit abzufinden, fortan bei Tante Gemma zu bleiben. Diese jedoch wechselte ihre Wohnung und zog auch mit ins Schloß. Wie hätte Maiblume da ihren Liebling zurücklassen können? Sie sagte zu ihm:
»Höre, Schneebällchen, du kommst jetzt mit aufs Schloß, und ich will eine sehr liebe Köchin haben, mit der du dich gut vertragen wirst. Aber du mußt mir versprechen, nie wieder zu stehlen.«
»Ja, ich will sehen, was sich tun läßt«, entgegnete Schneebällchen.
Ob es sein Versprechen gehalten hat, weiß ich nicht. Es ist ein wenig zu bezweifeln. Es ist aber ein großer Unterschied, ob ein Kätzchen oder ein Mensch stiehlt. Der Mensch weiß, was mein und dein ist, während ein Kätzchen über diesen Punkt nicht im klaren ist, wenn auch Schneebällchen eine Ausnahme bildet.